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Interview

Musik kann eine Brücke sein

Im Gespräch mit Benjamin Strasser

15.01.20

Junge Menschen gehen nicht per se vom Land weg, wenn sie nicht müssen. Sie sind da und sind aktiv. Vor allem dann, wenn sie ernst genommen und beteiligt werden und sich für die Dinge, die ihnen wichtig sind, engagieren können, z. B. in Musikvereinen.

Benjamin Strasser ist Präsident im Bundesmusikverband Chor & Orchester. Kirchenchor und Orchester in einer Gemeinde mit 4.500 Einwohner*innen haben ihn geprägt. Er ist Rechtsanwalt, Gemeinderatsmitglied in Berg und seit 2017 Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

Ein junge Frau steht auf einem von drei Strohballen und spielt Geige. Ein junger Mann vor den Strohballen spielt Trompete.

Welche Bilder und Vorstellungen von jungen Menschen im ländlichen Raum begegnen Ihnen?

Die vier Hauptklischees, die mir begegnen, die sich teilweise auch überschneiden mit denen von Jugendlichen in Städten, sind: Jugendliche sind politikverdrossen. Jugendliche hängen nur am Smartphone. Jugendliche ziehen vom Land weg, sobald es geht. Deswegen sterben Vereine aus, weil ihnen dann der Nachwuchs fehlt.

Stimmt das?

Das meiste davon trifft aus meiner Sicht nicht zu, das habe ich anders erlebt. Ich selbst habe mich im ländlichen Raum politisch engagiert, bin dort sozialisiert worden. Wenn wir sagen, Jugendliche sind politikverdrossenen, dann müssen wir nur mal auf die Straße schauen, wenn sich junge Menschen für mehr Klimaschutz engagieren. Ich glaube, wir haben eine Generation junger Menschen, die sehr politikinteressiert, aber manchmal Politiker-verdrossen ist. Und ja wir nutzen als junge Menschen digitale Medien, weil sie auch Chancen bieten, sich zu vernetzen. Im ländlichen Raum ist das auch wichtig. Das kann auch ein Ansatzpunkt sein für Vereinsarbeit, für musikalische Jugendbildung, Jugendliche dort abzuholen, wo sie sind – und das ist auch das Netz.

Aber wenn so viele zu Ausbildung und Studium weggehen, für wen machen die Vereine dann ihre kulturellen Angebote?

Es gibt viele Musikvereine, Orchester, die ihre Proben bewusst auf den Freitagabend legen, damit junge Menschen, die unter der Woche bei Ausbildung oder Studium sind, mitmachen können. Und ich erlebe in meinem Wahlkreis, dass viele nach der Ausbildung wieder zurückkommen. Weil da eben der Bekanntenkreis, der Freundeskreis noch da ist, und es durchaus Perspektiven gibt, was Arbeitsplätze angeht.

Kultur entsteht da, wo Menschen sind, wo Begegnungen stattfinden.

Benjamin Strasser

Was leiten Sie daraus für die Politik in ländlichen Räumen ab?

Politik darf Kultur nicht von oben herab verordnen. Kultur entsteht da, wo Menschen sind, wo Begegnungen stattfinden. Wir sollten uns in der Politik auf Rahmenbedingungen beschränken, die Kultur und auch das Ehrenamt als wichtigste Stütze für kulturelle Angebote im ländlichen Raum möglich machen. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen – als Bund, als Land, als Gemeinden –immer mit dem Finger auf die anderen zu zeigen: Wir sind doch nicht zuständig, sondern die anderen. Kultur im ländlichen Raum ist eine gemeinsame Aufgabe. Und so wäre es doch beispielsweise schön, diejenigen, die vor Ort die Ideen und den Input liefern, damit Kultur stattfinden kann, zu unterstützen, z. B. mit einem Büro im Rathaus vor Ort, ohne dass eine Zusatzbelastung auf die Musikvereine und die Chöre zukommt.

Welche Entwicklungen nehmen Sie in ländlichen Räumen wahr, die auch das Heranwachsen von Jugendlichen beeinflussen?

Was mich freut, wenn man die Jugendarbeit anschaut, ist, dass viele junge Menschen einfordern: Nehmt uns ernst! Gebt uns Verantwortung und auch eigene Budgets! Natürlich kann das auch scheitern, das gehört zum Leben und ist eine wichtige Erfahrung für junge Menschen. Aber meistens stellen wir fest, dass es funktioniert. Bei Jugendchören haben wir einen Trend: wir haben mehr Kandidatinnen und Kandidaten für Vereinsvorstandsposten als Plätze zur Verfügung sind. Das ist ein ermutigendes Zeichen für die Jugendarbeit, dass es offensichtlich wieder junge Menschen gibt, die Singen spannend finden und Zeit und Engagement investieren möchten.

Was macht Ihnen diesbezüglich Sorgen?

Das Gefühl bei jungen Menschen, abgehängt zu sein, nicht mehr aufholen zu können. Da kann Musik eine Brücke sein. Wir haben ja als BMCO das „Musik für alle“-Projekt im Rahmen von „Kultur macht stark“ ins Leben gerufen, das zeigt, dass Musik nicht nur am Lernort Schule stattfinden kann, sondern auch außerhalb. Und so können Menschen, die in der Schule negative Erfahrungen gemacht haben, die sich zurückgelassen fühlen, über die Musik auch positive Erlebnisse für ihr Leben gewinnen. Natürlich blicken wir auch auf die logistischen Möglichkeiten auf dem Land. Wenn der Bus unter der Woche nur alle zwei Stunden fährt und am Wochenende gar nicht, dann sind junge Menschen davon abhängig, dass es bei ihnen vor Ort ein entsprechendes Angebot gibt. Da ist Politik gefordert zum einen im Nahverkehr dafür zu sorgen, dass es Verbindungen gibt, sodass Jugendliche teilhaben können, und zum anderen bei der Kulturpolitik darauf zu achten, dass wir ländliche Räume nicht vernachlässigen.

Ein erster Schritt für gleichwertige Lebensverhältnisse wäre, dass das Wissen der Zivilgesellschaft von der Politik besser genutzt und eingebunden, dass Zivilgesellschaft beteiligt wird.

Benjamin Strasser

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten nächsten Schritte, um gleichwertige Lebensverhältnisse wahr zu machen?

Gleichwertige Lebensverhältnisse bedeutet, dass es egal ist, wo ich in Deutschland wohne, dass ich überall Chancen habe, was aus meinem Leben zu machen, dass ich teilhaben kann, auch an kulturellen Angeboten. Das ist eine große Baustelle. Ein erster Schritt für gleichwertige Lebensverhältnisse wäre, dass das Wissen der Zivilgesellschaft von der Politik besser genutzt und eingebunden, dass Zivilgesellschaft beteiligt wird. Weitere Schritte beziehen sich auf die konkrete Gesetzgebung und das Verwaltungshandeln. Ich fände neben dem Jugendcheck auch einen Ehrenamts-Check für jedes Gesetzgebungsvorhaben spannend. Letztendlich geht es um die Rahmenbedingungen. Wenn ich in ländlichen Räumen keine Arbeitsplätze habe, kommen Menschen nach ihrer Ausbildung, nach ihrem Studium natürlich auch nicht mehr zurück. Wie ist die demografische Situation? Wie die Infrastruktur, auch die digitale? Das hängt alles miteinander zusammen und wirkt sich auf Orchester, auf Chöre, auf Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen aus.

 

Weitere Beiträge zu Kultureller Bildung und ländlichen Räumen in der kubi-Ausgabe „Land – alles oder nichts!?“.

Zitiervorschlag

BKJ: Musik kann eine Brücke sein
https://www.bkj.de/weitere-themen/wissensbasis/beitrag/musik-kann-eine-bruecke-sein/
Remscheid und Berlin, .

Benjamin Strasser ist Präsident von BKJ-Mitglied:

Bundesmusikverband Chor und Orchester

Die Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände (BDC) und die Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände (BDO) haben sich nach einer mehrjährigen Phase enger Kooperation zu einem großen Dachverband der Amateurmusik zusammengeschlossen und bieten damit Politik und Kulturinstitutionen einen zentralen Ansprechpartner für die Themen des Amateurmusizierens. Seine Mitglieder sind unterschiedliche Bundesfachverbände des vokalen und instrumentalen Musizierens, darunter so große Verbände wie der Deutsche Chorverband (DCV), der Chorverband der Evangelischen Kirche in Deutschland (CEK) oder die Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände (BDMV).

Kontakt

Bundesmusikverband Chor und Orchester e. V.
Cluser Straße 5
78647 Trossingen
Telefon +49 (0) 74 25 - 32 88 060
Mail overbeck(at)bundesmusikverband.de
Web www.bundesmusikverband.de

 

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