Positionierung der Fachorganisationen Kultureller Bildung zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Primarstufe
2021 wurde das „Gesetz zur ganztägigen Förderung im Grundschulalter“ von Bundestag und Bundesrat beschlossen. Ab 2026 wird sukzessive der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Kinder der 1. bis 4. Klasse umgesetzt. Der Bund beteiligt sich an der Finanzierung, realisiert wird der Rechtsanspruch aber vor allem durch die Länder und Kommunen.
Die Träger der Kulturellen Bildung vor Ort, die bundesweiten Fachverbände und Landesdachorganisationen sowie die BKJ als Dachverband beteiligen sich seit 20 Jahren engagiert an der Entwicklung des Ganztags im Sinne eines breiten Ganztags- und Bildungsbegriffs. Museen, Theater, Bibliotheken, Musik- und Jugendkunstschulen, Zirkus, Tanz, Medien, Spielmobile, Vereine und andere Träger der Kulturellen Bildung spielen eine wichtige Rolle in der Umsetzung des Ganztags. Fast jede zweite Ganztagsschule arbeitet mit kulturellen Bildungsträgern zusammen; kulturelle Bildungsangebote finden sich an über 90 Prozent der Ganztagsschulen.
Mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung können Möglichkeiten gestärkt werden, non- formale und Kulturelle Bildung als feste Bestandteile eines umfassenden und chancen- und kindergerechten Förder- und Bildungskonzepts junger Menschen einzusetzen.
Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ), der Dachverband der Kulturellen Bildung mit 55 Bundesfachverbänden und Landesdachorganisationen, fordert eine kinder- und jugendgerechte Ausgestaltung des Ganztags. Diese wird nur möglich, wenn
- Ganztag unter dem Primat der Bildung und der Qualität gestaltet und adäquat ausgestattet wird;
- im Ganztag non-formale Bildungsräume ermöglicht werden, die sich an den Interessen und Neigungen der Kinder orientieren;
- die Expertise und Vernetzungspotenziale der außerschulischen Jugend(kultur)arbeit als gleichberechtige Partner bei der Ausgestaltung des Ganztags mit einbezogen werden;
- gute Rahmenbedingungen für kulturelle Bildungspartnerschaften geschaffen werden sowie
- außerschulische kulturelle Teilhabe- und Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche gestärkt werden.
Folgende Ansatzpunkte sind daher aus Sicht der BKJ für die Ausgestaltung und Umsetzung des Ganztags zentral:
1. Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe durch Qualität fördern
Die bisherige Verankerung des gesetzlichen Anspruchs auf Ganztag wird neben dem schulischen Anteil stark von Betreuungsbedarfen geleitet. Dieser Fokus greift zu kurz – denn Ganztagsbildung ist weit mehr als Unterricht und Betreuung. Wir fordern in allen Umsetzungsmodellen des Ganztags Augenmerk auf den qualitätsgeleiteten Ausbau und die Weiterentwicklung des Ganztags als kindergerechten Bildungsort zu lenken. Der Ganztag muss ein qualitativ hochwertiges und vielfältiges Bildungsangebot bereithalten, das durch seine Konzepte und Angebote einen Beitrag zu Teilhabe- und Bildungsgerechtigkeit leistet. Dazu braucht es einen entsprechenden Qualitätsrahmen, der verbindlich implementiert wird.
In der non-formalen Bildung spielen Elternbeiträge bisher eine große Rolle, um die Angebote überhaupt erst zu ermöglichen und finanziell abzusichern. Gleichzeitig ist bekannt, dass diese finanziellen Barrieren mit dafür verantwortlich sind, dass deutliche Ungleichheiten bei der Teilhabe an non-formalen kulturellen Bildungsangeboten existieren. Eine Neugestaltung über den flächendeckenden Ausbau des Ganztags könnte hier erstmals Grundlagen dafür schaffen, dass alle Kinder im Grundschulalter neben dem künstlerischen Fachunterricht kostenlos und kontinuierlich Zugang zu Kulturellen Bildungsangeboten gemäß ihrer Interessen und Neigungen erhalten.
2. Stärken formaler, non-formaler und informeller Bildung nutzen
Formale und non-formale Bildung sind zwei sich ergänzende und unverzichtbare Bestandteile eines ganzheitlichen Bildungskonzepts. Unabhängig davon, ob der Ganztag strukturell und inhaltlich enger an den Ort und das System Schule, an einen Träger der Kinder- und Jugendhilfe oder in einer Bildungslandschaft angebunden ist: Für Kinder und Jugendliche müssen wichtige Elemente der non-formalen und informellen Bildung wie gelebte Beteiligung, individuelle Förderung, selbstorganisierte Freiräume, Lebenswelt- und Sozialraumorientierung und eine inklusive Ausrichtung gewährleistet werden. Es sind genau diese Elemente, die Kinder und Jugendliche brauchen, um eigene Interessen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Sie müssen daher auch im Ganztag verankert werden.
Die konzeptionellen Grundsätze, Akteure und Dritten Orte, die non-formale Bildung und außerschulische Kulturelle Bildung in Museen, Bibliotheken, Kinder- und Jugendtheater, Musik- und Jugendkunstschulen, Zirkus, Tanz und Spielmobilen, Vereine etc. auszeichnen, müssen daher im Ganztag als Bereicherung systematisch eingebunden werden. Sie sind als gleichberechtigte Kooperationspartner einzubeziehen, denn sie verfügen über Konzepte, Fachkräfte und Expertise für gelingende Bildungskooperationen und attraktive non-formale Bildungsangebote. Es gilt darüber hinaus, den Ganztag so auszugestalten, dass die Belange junger Menschen umfassend Eingang finden und jungen Menschen Räume informeller Bildung ermöglicht werden, in denen sie miteinander Prozesse gestalten und aushandeln können.
3. Vielfalt anerkennen und ermöglichen
Hintergründe und Interessen junger Menschen sind so vielfältig wie kulturelle Ausdrucksformen: Mit Tanz, Musik, Theater, Literatur, Medien, bildenden Künsten etc. haben junge Menschen verschiedenste Möglichkeiten, ihre Stärken und Persönlichkeiten zu entwickeln und Freizeit zu gestalten. Das Prinzip der Vielfalt in der Kulturellen Bildung wie auch in der Jugendarbeit als Ganzes muss daher auch im Ganztag berücksichtigt werden.
Ganztagsangebote müssen Zugänge eröffnen, damit Kinder vielfältige Möglichkeiten kennen lernen und neue Erfahrungen sammeln können. Auf dieser Grundlage können sich Neigungen und Begabungen zeigen bzw. Interessen entwickeln. Es braucht darauf aufbauend verlässliche und dauerhafte Angebote, um diese zu vertiefen und Talente fördern zu können. Nur so können Potenziale von Kindern und Jugendlichen in spezifischen Handlungsfeldern wie Kultur, Sport, Technik oder Handwerk nachhaltig entfaltet werden, die für den individuellen Lebensweg ebenso wie für die Exzellenz einer Gesellschaft gleichermaßen wichtig sind.
4. Kommunale Bildungslandschaften als zukunftsfähiges Modell des Ganztags entwickeln
Die notwendige Vielfalt des Ganztagsangebots kann nicht aus der Logik einer einzelnen Schule heraus organisiert werden, sondern gelingt nur innerhalb kommunaler Bildungslandschaften, die eine Vielzahl von Schulen, Horten und außerschulischen Trägern miteinander vernetzen und in die Gestaltung des Ganztagsangebots miteinbeziehen. Nur so kann es gelingen regional angepasste Konzepte zu entwickeln und auf die individuellen Bedürfnisse junger Menschen zugeschnittene Angebote zu sichern.
Einrichtungen der kulturellen Jugendbildung wie z. B. Museen, Bibliotheken, Kinder- und Jugendtheater, Musik- und Jugendkunstschulen verfügen neben ihrem Fachpersonal und ihren Konzepten über besondere Fachräume, die in Architektur, Ausstattung und Atmosphäre anregungsreich sind und Bildungswirkungen stärken. Diese sollten als dritte Lernorte in den Ganztag einbezogen werden und eröffnen so auch milieuübergreifende Begegnungen zwischen Primarschüler*innen unterschiedlicher Schulen.
5. Ganztag nachhaltig infrastrukturell absichern
Um Träger non-formaler und Kultureller Bildung gleichberechtigt mit ihrer Expertise an Entwicklung und Ausgestaltung des Ganztags und kommunalen Bildungslandschaften zu beteiligen, braucht es eine dauerhafte und ausreichende finanzielle Absicherung des Ganztags und damit auch der Strukturen der non-formalen Bildung. Ganztag und Bildungslandschaften sind keine Projekte, sondern eine strukturelle Grundversorgung.
Entscheidende Faktoren, um Qualität sicherzustellen, sind die Qualifizierung und die ausreichende Bezahlung aller hauptamtlichen und selbständigen Fachkräfte, die an der Organisation und Durchführung des Ganztags beteiligen und sich mit ihren unterschiedlichen pädagogischen oder nicht-pädagogischen Expertisen einbringen. Für ehrenamtliche Fachkräfte, die in diesem Kontext tätig werden, muss eine angemessene Entschädigung erfolgen.
Das aus dem SGB VIII abgeleitete Fachkräftegebot für den Ganztag ist eine wichtige Grundlage, um die Bildungsqualität zu sichern. Dieses Fachkräftegebot, das sich vor allem auf die betreuende Arbeit bezieht, darf aber nicht dazu führen, dass andere Professionen und Expertisen verdrängt bzw. abgewertet werden, wie sie für ein vielfältiges und qualitätsvolles Bildungsangebot im Ganztag und z. B. in der Praxis Kultureller Bildung notwendig sind. Das Fachkräftegebot muss auf die im Ganztag eingebundenen Akteure der Kulturellen Bildung Anwendung finden.
Beschlossen von der Mitgliederversammlung der BKJ
Berlin, 22. Oktober 2022