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Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen!
Stellungnahme • August 2019

Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen!

veröffentlicht:

Alle Kinder, Jugendlichen und ihre Familien und müssen auf Basis einer einheitlichen gesetzlichen Grundlage vom Staat unterstützt und gefördert werden. Das fordert die BKJ gemeinsam mit einem breiten Bündnis.

Das derzeitige Sozialrecht diskriminiert über eine viertel Million Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung. Sie und ihre Familien sind nicht, wie alle anderen Kinder, Jugendlichen und Eltern, in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe. Sie werden stattdessen durch die Eingliederungshilfe des Sozialamts unterstützt, ohne dass jedoch der familiäre Kontext und Belastungen der Familienmitglieder in gleicher Weise berücksichtigt werden. U. a. da Hilfen im Freizeitbereich (z. B. Assistenzleistungen) für Eltern von körperlich oder geistig behinderten Kindern mit erheblichen Kosten verbunden sind, produziert das Recht Ungleichheiten, die als Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention zu werten sind.

„Eine ungleiche Behandlung von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen muss zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention endlich aufhören. Das Engagement der Akteure der Kulturellen Bildung, die kulturelle Bildungspraxis inklusiv auszugestalten, braucht Rückenwind durch eine inklusive Reform des Kinder- und Jugendhilferechts.“

Susanne Keuchel, Vorsitzende der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ)

Die untragbare rechtliche Situation erschwert die flächendeckende inklusive Ausgestaltung der Jugendarbeit und der Praxis der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Welche Auswirkungen das für betroffene Kinder und Ihre Familien haben kann, zeigen diese lebensnahen Beispiele:

  • Max und Julius gehen zusammen in die 7. Klasse einer Gesamtschule. Max ist leicht geistig behindert (Down-Syndrom) und erhält daher für gelegentliche Hilfen im Schulalltag Unterstützung durch eine Schulbegleitung. Beide Jungs sind gut befreundet und hören u. a. gerne Musik. Jeden Donnerstagnachmitttag geht Julius zum Hip-Hop-Kurs im örtlichen Haus der Jugend. Gerne würde er den auch mit Max zusammen besuchen, doch bräuchte dieser auch hierfür begleitende Unterstützung. Für diese Assistenz am Nachmittag müssten seine Eltern jedoch zunächst ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenlegen, was in diesem Zusammenhang mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention unverhältnismäßig wäre. Schon aus diesem Grund lehnen die Eltern eine Überprüfung ab.
  • Sarah und Mina sind Nachbarskinder. Gelegentlich, vor allem am Wochenende, sehen sie sich zum Spielen. Sarah hat eine angeborene Muskelerkrankung und sitzt deshalb im Rollstuhl. Sie geht nicht in die Schule vor Ort, sondern in eine 12 km entfernt liegende Förderschule. In Schulzeiten wird sie morgens mit einem eigenen Bus abgeholt und am frühen Abend zurückgebracht. Nach der Schule hat sie dort auch verschiedene Freizeitangebote. Dienstags würde sie aber lieber mit Mina zusammen beim örtlichen Jugendtreff in den Mädchenchor gehen. Der Schulbus ist jedoch nicht flexibel. Ihre alleinerziehende Mutter hat kein eigenes Auto. Das Jugendamt erklärt sich nicht für zuständig, der Eingliederungshilfe-Träger verweist auf den Schulbus. Die Frage, wie Sarah ohne Aufzug in den Chorraum im ersten Stock kommt, stellt sich daher nicht; darüber, wer für die Sicherstellung des barrierefreien Zugangs zum Jugendtreff zuständig ist, streiten sich im Übrigen die Ämter schon seit langem.
  • Familie Schulz meldet sich bei einem freien Träger, der in den Ferien eine Jugendfreizeit auf einem Erlebnishof anbietet, und möchte ihre beiden Kinder Marie (12) und Luise (15) hierfür anmelden. Die Mutter der Kinder weist darauf hin, dass Marie zwar blind sei, den Erlebnishof jedoch schon von anderer Gelegenheit her kenne und sich durch die Mitfahrt ihrer Schwester regelmäßig ausreichend sicher fühle. Der freie Träger meldet hingegen zurück, dass sich die Fachkräfte eine Teilnahme von Marie nur zutrauen würden, wenn sie eine eigene Assistenz dabeihätte. Das will Marie allerdings nicht: Sie sei doch kein kleines Kind mehr, das einen Aufpasser braucht. Der Träger der Eingliederungshilfe meint, das ginge ihn nichts an, die Freizeit sei eine Veranstaltung der Jugendhilfe. Das Jugendamt verweist darauf, dass für Fragen der Assistenz der Träger der Eingliederungshilfe zuständig sei.

Hintergrund

Mit dem Bundesteilhabegesetz wollte der Gesetzgeber in der letzten Legislaturperiode die Rechte von Menschen mit Behinderungen weiter stärken. Von diesem Prozess ausdrücklich ausgenommen war die Hilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Die Aufhebung der in Deutschland nach wie vor bestehenden und seit Jahrzehnten kritisierten Aufteilung von Kindern und Jugendlichen in unterschiedliche Zuständigkeiten je nach Behinderungsform sollte einem eigenen Reformprozess vorbehalten bleiben. Dieser blieb aus und ist überfällig.

Deshalb haben Politik und Fachwelt die Reforminitiative der letzten Legislaturperiode genutzt, sich innerhalb sowie zwischen den beiden Hilfesystemen von Jugend‐ und Behindertenhilfe in grundsätzlichen Fragen zu verständigen. Nach Ansicht eines breiten Bündnisses aus zivilgesellschaftlichen Fachorganisationen und Landesministerien sind Bund und Länder nun gefordert, die „Inklusive Lösung“ umzusetzen, durch die alle Kinder und Jugendlichen – mit und ohne Behinderungen bzw. unabhängig von der Art ihrer Behinderung – eine einheitliche gesetzliche Grundlage im Kinder‐ und Jugendhilferecht (SGB VIII) finden werden.

„Die organisatorischen Herausforderungen sind nicht banal und benötigen Aufmerksamkeit, sind aber gestaltbar.“

Aus dem Apell „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“

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