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Aus der Praxis
„Ich glaube, dass die Kunst die Welt retten kann“
Projekt „Nomadisches Labor Utopias“, Stiftung Genshagen, bei Berlin
30.10.20
Gleich am ersten Tag lesen sie sich ihre Liebesbriefe vor. 22 junge Erwachsene aus fünf europäischen Ländern, die sich noch nie vorher gesehen haben, kommen 2019 im Teatro dell'Argine in der Nähe von Bologna zusammen.
Von Kathrin Köller
Bild: Stiftung Genshagen, Harperstudio, Davide Saccà
Bild: Stiftung Genshagen, René Arnold
Bild: Stiftung Genshagen, René Arnold
Bild: Stiftung Genshagen, René Arnold
Im Gepäck haben Karim, Zoe, Mathilde, Borislaw und die anderen jeweils ihren Liebesbrief an die Welt und ein Etwas, das für sie Utopie bedeutet. Eine Woche später sind daraus gemeinsame Zukunftsvisionen entstanden, die sie in einer Tanz-Theater-Performance auf die Bühne bringen.
„Es ist wirklich komisch“, sagt Vittoria, eine der Teilnehmer*innen. „Man kommt in einen Raum und kennt erstmal niemanden. Und dann, nach ein paar Stunden, hast du das Gefühl, du hast schon dein ganzes Leben mit diesen Leuten verbracht.“ Diese Leute: sie leben in Frankreich, Bulgarien, Deutschland, Italien und Polen. Sie alle haben etwas mit Tanz oder Theater zu tun, allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. Der Stiftung Genshagen, die die 22 Performer*innen gemeinsam mit europäischen Partner-Institutionen für das „Nomadische Labor Utopias“ gesucht hat, war die Diversität der Teilnehmer*innen sehr wichtig. Sie haben darauf geachtet, dass Stadt und Land paritätisch vertreten sind und dass verschiedene soziale und kulturelle Hintergründe mit von der Partie sind.
Verschieden und doch gleich
Dass Diversität nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, sondern in seinem ganzen Potenzial erfahrbar wird, ist eines der Ziele des europäischen Projekts, das in den vergangenen drei Jahren immer wieder unterschiedliche künstlerische Perspektiven zusammengebracht hat, um die Grenzen der Zukunft auszuloten. Wenn 22 junge Erwachsene ihre Liebesbriefe an die Welt vorlesen, entsteht gleich zu Beginn des Workshops eine sehr persönliche Atmosphäre, es entwickelt sich Vertrauen und ein ganz konkretes Verständnis für das universelle Menschsein. Da kommen einem Teilnehmer aus Polen plötzlich die Tränen, weil sein Gegenüber aus Italien auf berührende Weise von etwas redet, was er selbst sehr gut kennt. Kriege, Klimawandel und Rechtsruck sind Themen, die alle Teilnehmer*innen beschäftigen und die sehr persönliche Herangehensweise an diese Themen schafft eine große Nähe unter ihnen.
Sprache der Körper
Aus dieser Gemeinschaftserfahrung heraus stellt das „Nomadische Labor Utopias“ die Frage nach der Zukunft. Wie stellen sich Elvire, Miriam, Filippo und die Anderen die Zukunft vor? Wie soll ein gemeinsames Zusammenleben in Europa aussehen? Das gemeinsam mit den Mitteln der Kunst auszuloten, macht den besonderen Reiz des Projekts „An den Grenzen der Zukunft“ aus. Und Julia Effinger, die Projektleiterin von der Stiftung Genshagen, ist überzeugt, dass die performativen Künste dazu in besonderer Weise geeignet sind. „Kunst ist ja in gewisser Weise eine universelle Sprache, mit der man sich gemeinsam ausdrücken kann. Wir haben alle einen Körper, wir können uns bewegen, uns berühren und haben damit eine gleiche Ausgangsbasis, die uns erlaubt, das, was wir jetzt hier empfinden, oder denken oder anzubieten haben, gemeinsam in Szenenbildern auszudrücken.“
Die jungen Erwachsenen entwickeln – unter künstlerischer Anleitung der italienischen Regisseurin Micaela Casalboni und der deutschen Choreografin Be van Vark – selbst, was in ihre Zukunfts-Performance einfließt. In Kleingruppen wird ausgehend von den Liebesbriefen überlegt, welches Thema für die nächste Stunde besonders spannend sein könnte. „Ein junger Italiener hatte statt eines Briefes einen seitenlangen Dialog zwischen Mutter Erde und Homo Sapiens geschrieben, der sehr komisch und humorvoll war“, erinnert sich Julia Effinger. „Das war wie so ein roter Faden, und es hat sich dann in den Improvisationen entwickelt, dass eine Teilnehmerin diese Mutter Erde verkörperte und ein anderer Teilnehmer den Homo Sapiens und sie haben diesen Dialog immer wieder an verschiedenen Stellen aufgenommen.“ Eine junge Performerin stellt den anderen als ihr „utopisches Etwas“ Beethovens Ode an die Freude vor − und auch das findet die Gruppe so spannend, dass die Ode an die Freude als Symbol für Europa mit Eingang in die Performance findet.
Zukunft durch die Kunst
Die künstlerische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Frage nach der Zukunft hat die Teilnehmer*innen für sich selbst und als Gemeinschaft Antworten finden lassen, die ihnen ohne diese Begegnungen nicht so leicht und klar über die Lippen gekommen wären. „An Utopien zu arbeiten, heißt, Dinge für die Zukunft zu verändern, während man an der Gegenwart arbeitet“, erklärt Maddalena. Und Judith ist klar, dass, wenn etwas die Welt verändern kann, dann ist es die Kunst. Es bleibt nicht bei diesen großen Worten. Die Teilnehmer*innen haben sich selbst verändert während der Arbeit an den Grenzen der Zukunft und sie sind bereit, die Welt um sich herum zu gestalten. Ein gutes Beispiel dafür ist Borislaw, der zurück in Bulgarien an der Rivalität und dem Konkurrenzdenken der Student*innen leidet. Seine Erfahrungen aus dem Europaprojekt veranlassen ihn, diese Strukturen in Frage zu stellen und die anderen für mehr Gemeinschaft zu begeistern.
Und auch für den Rest der Truppe gibt es noch einmal Gelegenheit, ihre Werte auch selbst in der Praxis zu beweisen. Denn einen Monat nach ihrer Abschluss-Performance kommen sie im brandenburgischen Genshagen im November 2019 erneut zusammen. Inklusive zweier neuer Teilnehmer*innen, die in die gewachsene Gruppe eingebunden werden wollen. Und die jungen Erwachsenen schaffen es, innerhalb von nur drei Tagen mit der neuen Truppe ihre Performance für den neuen Ort und das neue Publikum zu überarbeiten. Denn in Genshagen findet eine Tagung statt, die sich ebenfalls mit den Grenzen der Zukunft beschäftigt, ein theoretischer Diskurs, der die künstlerische Praxis wissenschaftlich begleitet.
An Utopien zu arbeiten, heißt, Dinge für die Zukunft zu verändern, während man an der Gegenwart arbeitet.
Maddalena, Teilnehmer*in des Projekts „Nomadisches Labor Utopias“
Das internationale Jugendprojekt mit dem dazugehörigen Symposium ist damit nach drei Projektjahren erfolgreich abgeschlossen. Doch wenige Monate später regiert an dem Ort, an dem noch vor kurzem die Zukunft gefeiert wurde, ein Virus. Das Teatro dell'Argine liegt in einem der am stärksten von Covid 19 betroffenen Gebiete Italiens. Plötzlich ist die Zukunft des Theaters bedroht. Und doch, vielleicht waren es gerade die Begegnungen der Grenzen sprengenden jungen Erwachsenen, die die Toepfer Stiftung 2020 bewogen haben, ihre eigenen Regeln zu sprengen und das Teatro dell'Argine mit dem renommierten Max-Bauer-Preis auszuzeichnen. Und auch für Julia Effinger von der Stiftung Genshagen ist klar, „eigentlich können wir jetzt nicht aufhören“. Und so hat auch sie begonnen, ein weiteres Projekt der europäischen Begegnung zu planen. Denn das ist heute für die Zukunft wichtiger denn je.
Partner | Observatoire des politiques culturelles (Grenoble/Frankreich), Compagnia del Teatro dell'Argine (Bologna/Italien), Internationale Elias Canetti Gesellschaft (Ruse/Bulgarien) |
Förderer | Französisches Kulturministerium, Allianz Kulturstiftung, Fondation Hippocrène, Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW), Haut Conseil culturel franco-allemand (HCCFA), Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien |
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunft – jetzt utopisch gerecht No. 19, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 19-2020. Berlin. S. 63-66.
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