Zusammenführen, was zusammengehört
Der naturwissenschaftlich-mathematische und der ästhetische Blick auf die Welt
Der naturwissenschaftlich-mathematische und der ästhetische Blick auf die Welt
Prof. Dr. Max Fuchs war bis Ende 2013 Direktor der Akademie Remscheid und Präsident des Deutschen Kulturrats. Er ist Ehrenvorsitzender der BKJ und des Instituts für Bildung und Kultur. Er lehrt Allgemeine Pädagogik und Kulturpädagogik an der Universität Duisburg-Essen.
Im Titel meines Vortrags ist davon die Rede, dass etwas zusammengeführt werden soll. Diese Rede macht nur dann Sinn, wenn vorher etwas getrennt wurde, vielleicht sogar künstlich getrennt wurde. Es stellen sich daher einige Fragen:
Ich beantworte zunächst die erste Frage: Gibt es diese behauptete Trennung überhaupt?
Im Jahr 1959 veröffentlichte der Physiker, Schriftsteller, Politiker und Geschäftsmann Charles Percy Snow das Buch „Die zwei Kulturen“. Ich zitiere aus diesem Buch:
„Der Punkt, an dem zwei Themengebiete, zwei Disziplinen, zwei Kulturen – zwei Galaxien, könnte man sagen – zusammenstoßen, sollte kreative Gelegenheiten erzeugen. In der Geschichte der geistigen Tätigkeit war dies immer der Ort, an dem es zu einem der Durchbrüche kam. Nun gibt es solche Gelegenheiten. Aber sie existieren sozusagen in einem Vakuum, denn die Angehörigen der zwei Kulturen können nicht miteinander sprechen.“
Es gibt also offensichtlich diese Trennung in zwei Kulturen, und diese Trennung kann als Problem gesehen werden. In einem ersten umfangreicheren Teil werde ich daher einige historische Situationen vorstellen, in de-nen das Verhältnis der beiden Kulturen eine entscheidende Rolle spielt.
Ich beginne mit der griechischen Antike, mit Pythagoras.
Zur Einstimmung ein Gedicht von Joseph von Eichendorff aus dem Jahre 1835:
Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort
und die Welt hebt an zu singen
triffst du nur das Zauberwort.
Da ich kein Literaturwissenschaftler oder Germanist bin, interpretiere ich dieses Gedicht so, dass es eine onto-logische Aussage über das Seiende formuliert: Es geht um die Struktur der Welt und diese Struktur der Welt besteht aus einem Lied oder allgemeiner: aus Musik.
Nun ist die Romantik schon einige Zeit her, sodass man fragen kann, ob eine solche Aussage heute noch relevant ist und akzeptiert werden kann. Die Antwort darauf ist ein eindeutiges JA. Ich gebe nur ein einziges Beispiel an. Unter den heute stark diskutierten soziologischen Ansätzen einer Zeitdiagnose spielt der Soziologe Hartmut Rosa eine wichtige Rolle. Seine zentrale These lautet, dass wir unter einem Mangel an Resonanz leiden. Es geht darum, dass es kein Zurücktönen (so wörtlich der lateinische Begriff resonare) gibt. Und dies ist ein Verlust, der mit einer Pathologie unserer Gesellschaft zusammenhängt. Diese Pathologie hat Hartmut Rosa in früheren Arbeiten durch eine extensiv betriebene Beschleunigung als Grundcharakteristikum unserer Gesell-schaft beschrieben.
Damit werden klassische Themen der Kritik an der Moderne und insbesondere an der Kultur der Moderne aufgegriffen: nämlich Entzweiung und Entfremdung. Der Soziologe Max Weber diagnostizierte bereits vor 100 Jahren, dass die moderne Industriegesellschaft ein stählernes Gehäuse darstelle, in dem eine nüchterne Rationalität die Regeln des Zusammenlebens vorgibt. Daher ergibt sich – ganz im Sinne der Romantik – ein Bedarf an einer Wiederverzauberung.
Der Gedanke, dass Musik etwas mit der ontologischen Struktur unseres Seins zu tun hat, ist also nach wie vor aktuell. Er ist allerdings bedeutend älter, als der Hinweis auf die Romantik vermuten lässt. Er geht zurück auf den griechischen Philosophen Pythagoras, der im Süden Italiens eine Lebensgemeinschaft von Menschen gegründet hat. Die weltanschauliche Basis bestand in der These: Alles ist Zahl. Man kann Pythagoras als eine Art Guru verstehen, als spiritueller und politischer Herrscher über diese Gemeinschaft. Eine wichtige Begrün-dung für seine ontologischen These, alles sei Zahl, fand Pythagoras in der Musik, genauer in einem Monochord: Er stellte nämlich fest, dass die Länge der schwingenden Seite in einem engen Verhältnis zu der Tonhöhe steht.
Tragischerweise war es allerdings der Satz des Pythagoras, der dieser These den Garaus machte. Man stelle sich ein Quadrat mit der Seitenlänge 1 vor. Zeichnet man in dieses Quadrat eine Diagonale, so ergibt sich ein rechtwinkliges und gleichschenkliges Dreieck, dessen Hypotenuse gemäß dem Satz von Pythagoras eine Län-ge von Wurzel aus zwei hätte. Nach der weltanschaulichen Behauptung von Pythagoras müsste sich diese Zahl als Bruchzahl a geteilt durch b darstellen lassen, wobei a und b natürliche Zahlen sind. Auch die Griechen wuss-ten schon und konnten einen entsprechenden Beweis führen, dass dies grundsätzlich nicht möglich ist.
Immerhin liefert Pythagoras ein erstes Beispiel dafür, dass nicht bloß die zwei Kulturen eine Einheit bilden, sondern dass es sogar einen engen Zusammenhang von Musik, Mathematik, Ontologie, Religion, gesellschaft-lichem Zusammenhang, Macht und Struktur der Welt gibt. Ich erinnere daran, dass das griechische Wort Kos-mos beides bedeutet: Struktur und Schmuck, was auch als Beleg dafür angesehen werden kann, dass das Äs-thetische als integraler Bestandteil einer einheitlichen Sicht auf die Welt gesehen werden muss.
Ich mache einen Sprung von etwa 2000 Jahren und komme zu dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In dieser Zeit findet die berühmte Renaissance statt, von der der Wuppertaler Friedrich Engels sprach, dass ihre Repräsentanten „Krisen an Denkkraft und Gelehrsamkeit“ seien. Man denke etwa an die italienische Maler und Baumeister, an Galilei, Leonardo da Vinci, an Albrecht Dürer und an Kepler. Würde man eine dieser Personen fragen, was sie denn nun genau seien: Künstler oder Wissenschaftler, dann hätten sie diese Frage gar nicht verstanden. Denn das Bildungsideal der Renaissance war der uomo universale, der allseitig gebildete Mensch.
Man erinnere sich, dass Albrecht Dürer nach Italien gereist ist, weil er gehört hat, dass dort Maler (!) die Zentralperspektive erfunden haben. In einem seiner berühmten Selbstbildnisse steht er daher neben einem Tisch, auf dem mathematische Gerätschaften (Lineal, Zirkel, Zeichenpapier, Zeichendreieck) liegen.
Kepler nannte sein Hauptwerk „Harmonie der Welt“, und selbstverständlich wurde diese Harmonie durch ma-thematische Gleichungen beschrieben. Es gibt also zu dieser Zeit noch keine Trennung in zwei Kulturen.
Doch wie kam dann die seither vollzogene Trennung zustande? Eine Ursache liegt darin, dass Wissen, auch Wissen über die Naturgesetzlichkeit, etwas mit Macht zu tun hat. Mitte des 17. Jahrhunderts sprach der englische Philosoph Francis Bacon davon, dass Wissen Macht sei. Die Sozialdemokratie hat diesen Slogan Ende des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Machthaber wussten das immer schon und verteilten entsprechend die Möglichkeit, an Wissen zu gelangen, sehr bewusst, wie man an der Geschichte des Bildungswesens und an seiner Mehrgliedrigkeit (die bis heute gilt) erkennen kann.
Der entscheidende Machtfaktor in dieser Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit war die katholische Kirche. Die Kirche beanspruchte nicht bloß spirituelle Macht, sondern die verfügte auch über ganz konkrete politische Macht. Wenn also Galilei davon sprach, dass Gott die Natur in Lettern der Mathematik geschrieben habe und zufügte, dass in dem Maße, in dem der Mensch die Mathematik beherrsche, das Wissen des Menschen von der Qualität her dem Wissen Gottes gleich sei, dann kann man sich vorstellen, dass dies im Vatikan nicht auf Be-geisterung stieß.
In der Tat hatte die Kirche immer schon Probleme mit dem Wissensanspruch der Menschen, man denke etwa an die Kreationisten in den Vereinigten Staaten, die die Evolutionstheorie nicht anerkennen wollen. Es war der Philosoph René Descartes, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen Kompromissvorschlag machte: Er schlug eine Aufteilung in eine res extensa, eine ausgedehnte Welt, vor, die Gott so geschaffen hat, dass sie von Naturgesetzen beherrscht wird. Diese Naturgesetze könne der Mensch – ebenfalls ein Geschöpf Gottes – erforschen. Daneben gibt es res cogitans, die ausgedehnte Welt des Geistigen und des Spirituellen, die in der alleinigen Zuständigkeit der Theologie und der Kirche bleibt.
Diesen Kompromissvorschlag lehnte die Kirche jedoch ab, sodass Descartes es vorzog, ins Exil ins protestantische Holland zu gehen. Denn die Erinnerung an Giordano Bruno, der das kopernikanische Weltbild etwas zu offensiv vertreten hat, war noch sehr präsent: Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Trotz dieser restriktiven Haltung der Kirche ging die Erfolgsgeschichte des naturwissenschaftlichen Denkens weiter. Es gibt eine gesellschaftliche Entwicklung, in der Fortschritte in diesem Denken aufs engste verbunden sind mit der Entstehung der Industriellen Revolution, der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der Entwicklung eines Fabriksystems auf der Basis von Arbeitsteilung, ganz so, wie es der Moralphilosoph (!) Adam Smith in seiner theoretischen Grundlegung des Kapitalismus („Der Reichtum der Nationen“, 1776) beschrieben hat. In diesem Denken spielt die Idee einer Maschine eine zentrale Rolle.
Allerdings bringt die industrielle Entwicklung nicht bloß enorme Fortschritte in der Produktivität, sie bringt auch ein erhebliches Maß an Elend für die arbeitenden Menschen mit sich. Der junge Friedrich Engels, der aus Protest gegen eine neu errichtete Textilfabrik seines Vaters, in der Kinderarbeit vorgesehen war, nach England auswanderte, beschrieb dieses Elend eindrucksvoll in seinem Buch „Zur Lage der arbeitenden Klasse in England“.
Insbesondere in der materialistischen Philosophie in Frankreich (La Mettrie, Holbach, Helvetius) wird der Gedanke der Maschine nicht bloß auf die Welt, sondern auch auf den Menschen übertragen. Man spricht von l’homme machine und ist fasziniert von dem Gedanken, dass die Welt als Ganzes und auch der Mensch in dieser Welt gesetzmäßig – eben wie eine Maschine – funktioniert.
Was für die einen eine große Faszination auslöste, war für die anderen Grund für eine harte Kritik. Hier ist in erster Linie Jean-Jacques Rousseau zu nennen, der Mitte des 18. Jahrhunderts auf einer Reise von einer Aus-schreibung der Akademie in Dijon hörte, die die Frage stellte, ob der wissenschaftlich-technische Fortschritt zu einer Verbesserung der Tugenden geführt habe. In einer brillanten Analyse antwortete Rousseau mit seiner später preisgekrönten Schrift mit einem donnernden NEIN.
Schiller nahm 45 Jahre später diese Analyse in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ (1795) auf. War für Adam Smith die Einführung der Arbeitsteilung im Fabriksystem die entscheidende Ursache für Wohlstand und Wohlergehen der Menschen, so war es genau diese Arbeitsteilung, die in der Analyse von Schiller zur Zerrissenheit und Entzweiung des Menschen führte. Das ist der Grund für einen bis heute gültigen und gerade in reform-pädagogisch inspirierten Ansätzen formulierten Wunsch nach Ganzheitlichkeit
Es war insbesondere die Romantik, die auf der Basis der Schillerschen Kulturkritik der Moderne diese Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit artikulierte. Allerdings wurde diese berechtigte Kritik an den Pathologien der modernen Gesellschaft sofort auch überzogen, indem man nunmehr generell eine als rationalistisch verstandene Aufklärung ablehnte, indem man in Opposition gegen zu liberalen demokratischen Vorstellungen und zur Rationalität insgesamt ging. Es gab eine Schwärmerei für ein (konstruiertes) mittelalterliches Idyll eines dörflichen Gemeinschaftslebens, und es gab in der Spätromantik eine Rückkehr in die katholische Kirche.
Die Romantik hat bis heute ihre Aktualität nicht verloren. Sie spielt eine entscheidende Rolle in den verschiedenen Lebensreformbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere in der Jugendbewegung und in der Reformpädagogik. Dabei wird oft vergessen, dass die politischen Vorstellungen, die in der Romantik entwickelt worden sind, alles andere als passfähig zu einer liberalen und demokratischen Gesellschaft sind. Wer heute das Programm der AfD liest, wird sehr viele Vorstellungen, deren Wurzeln in dieser romantischen Modernekritik liegen, finden können. Dies betrifft insbesondere das beliebte Prinzip der Ganzheitlichkeit, denn dieses ging in Ansätzen der Romantik davon aus, dass es ein – auch ethnisch – homogenes Volk ist, das diese Ganzheitlichkeit bildet. Wenn man dies akzeptiert, ist der Weg zur ethnischen Säuberung nicht weit.
Der Siegeszug naturwissenschaftlich-mathematischen Denkens ließ sich allerdings nicht aufhalten. Man sprach im Laufe des 19. Jahrhunderts von Positivismus, den man versuchte, nunmehr auf alle Wissensbereiche auszudehnen. Dagegen setzte sich insbesondere der im Kaiserreich prominenteste Philosoph und Pädagoge, Wilhelm Dilthey, zur Wehr, indem er – durchaus in der Tradition des Vorschlages von Descartes – formulierte: Die Natur erklären wir, den Geist und die Seele verstehen wir. Für die Natur ist also das mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken legitim, insofern es sich hierbei um das Erkennen und Formulieren von Gesetzmäßigkeiten handelt. Für die wissenschaftliche Untersuchung des Geistigen entwickelte Dilthey (im Anschluss an Schleiermacher) die Methode der Hermeneutik. Später fügte der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl seinen Ansatz der Phänomenologie hinzu.
Die meisten erinnern sich noch an den Positivismusstreit in der Soziologie zwischen Adorno und Popper, der später von Habermas und Albert fortgeführt wurde. Aktuell ist dies heute wieder, wenn man in der Politik von einer Evidenzbasiertheit spricht und damit meint, dass man die Wirksamkeit politischer Regelungen ausschließlich durch quantitative Forschungen belegen kann. Damit verbunden ist eine Ausrichtung der Forschungspolitik, in der in zunehmendem Maße nur noch Projekte gefördert werden, die empirisch-quantitativ vorgehen. Dies geht zulasten einer historischen und theoretischen Forschung, sodass aus meiner Sicht die in Art. 5 unseres Grundgesetzes garantierte Freiheit von Forschung und Lehre beschädigt werden könnte.
Die Trennung in zwei Kulturen findet erst im 15. oder 16. Jahrhundert statt. Sie hat historische Gründe, die sehr viel mit Machtansprüchen unterschiedlicher Akteure zu tun hat. Diese Trennung hat sich als problematisch herausgestellt, was insbesondere dann gilt, wenn man eine der beiden Denkweisen verabsolutiert. Verabsolutiert man das mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken in der Politik, so ergibt sich der Machbarkeitswahn, dessen Folgen an der heutigen Klimasituation für alle Menschen spürbar wird. In politischer Hinsicht ergibt sich die Vorstellung einer Technokratie, also einer letztlich antidemokratischen politischen Ordnungsvorstellung.
Verabsolutiert man dagegen den ästhetischen Zugang zur Welt, wird man auch hier feststellen können, dass ästhetische Praxis nicht im Selbstlauf zu einer demokratischen und humanistischen Grundordnung führt. Viele Vertreter*innen der musischen Bildung in der Weimarer Zeit gehörten zu den rechtskonservativen Intellektuellen, die willentlich oder unwillentlich die Grundlage dafür gelegt haben, dass die Nationalsozialisten später erfolgreich sein konnten.
Man schaue sich einmal den (über YouTube verfügbaren) Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ aus dem Jahr 1935 von Leni Riefenstahl an, um zu sehen, wie genial seinerzeit ästhetische Mittel benutzt wurden, um das politische Bewusstsein der Menschen zu formen. Walter Benjamin sprach daher zu Recht bei der Analyse dieser Prozesse von einer „Ästhetisierung der Politik“. Gerade weil ästhetische Praxis auf den Menschen wirkt, ist es nötig, sehr bewusst mit einer solchen Praxis umzugehen.
Notwendig ist also in der Tat der Brückenschlag zwischen den zwei Kulturen.
Hilfreich bei diesem Brückenschlag ist die Erkenntnis, dass es sehr viele Parallelitäten in der Entwicklung zum einen von Wissenschaft und zum anderen der Künste gibt. Es ist also kein Zufall, wenn etwa im Art. 5 unseres Grundgesetzes die Freiheit beider Handlungsfelder, nämlich der Wissenschaft und der Künste, garantiert wird.
Es gibt einen zeitlich parallel verlaufenden Kampf um die Autonomie sowohl der Wissenschaften als auch der Künste insbesondere im 19. Jahrhundert. Gemeinsam ist auch den Akteuren in jedem der beiden Felder der Wunsch nach einer autonomen Existenz, was bedeutet, ausschließlich mit dem Betreiben von Wissenschaft bzw. Kunst seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Beide Felder haben auch relevante Anwendungen: In den Naturwissenschaften ist es die Technik als Basis der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Industriegesellschaft, in den Künsten ist es Mode, Architektur und Design.
Beide Entwicklungen sind auch aufs engste verbunden mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Emanzipation des Bürgertums. Denn es waren nunmehr bürgerliche Menschen, die zentrale Akteure in bei-den Feldern wurden. Es geht hierbei durchaus um das Problem der Macht, genauer: um die Erringung einer kulturellen Hegemonie durch Wissenschaft und Kunst als Basis dafür, auch eine politische Hegemonie zu erlangen.
Immer schon gab es zudem auch nach der Trennung der beiden Kulturen in führenden Repräsentanten Wech-selbeziehungen. Auf das Beispiel von Albrecht Dürer habe ich schon hingewiesen. Man erinnere sich, dass Robert Musil Ingenieur und Max Frisch Architekt war. Bert Brecht befasst sich in seinem Theaterstück „Das Leben des Galilei“ ebenfalls mit der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft und spricht von „erfinderischen Zwergen“, also Naturwissenschaftlern, die ihre Tätigkeiten ohne moralische Reflexion ausüben. Ähnliches findet sich in dem Theaterstück „Die Physiker“ von Dürrenmatt. Aktuell ist der Roman von Daniel Kehlmann über die „Vermessung der Welt“, wo er mit Gauß und Alexander von Humboldt zwei Wege vorstellt, sich die Welt zu erobern. Während Gauß mit abstrakt-theoretischen Modellen geniale Vorschläge zur Landvermessung macht, geht Alexander von Humboldt unter Einsatz seines Körpers und Leibes unmittelbar selbst in die Regionen, die er erforschen will.
Auf der Suche nach philosophischen Konzeptionen, die die relative Autonomie einer jeglichen Weltzugangsweise respektieren und die gleichzeitig die Notwendigkeit des Zusammenführens der unterschiedlichen Weltzugangsweisen belegen, erscheint mir die „Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer in besonde-rer Weise geeignet zu sein. Cassirer identifiziert unterschiedliche Weltzugangsweisen, nämlich Sprache, Technik, Politik, Mythos und Religion, Wissenschaft und nicht zuletzt die Künste. Er beschreibt, dass jede dieser Weltzugangsweisen („symbolische Formen“) die Welt als Ganzes in den Blick nimmt, aber jede unter einem spezifischen Brechungswinkel. Nur die Summe all dieser Weltzugangsweisen erschließt also dem Menschen die Komplexität der Welt als Grundlage seines Lebens und seiner Lebensbewältigung. Diese Summe der symbolischen Formen nennt Cassirer „Kultur“. Wenn die Schule also die Aufgabe hat, als einzige Bildungsinstitution ein systematisches Bild von Welt zu entwickeln, dann bedeutet dies auf der Basis der Philosophie von Cassirer, dass all die genannten symbolischen Formen auch einen Platz im Schulcurriculum haben.
Im Folgenden will ich in knapper Form einige Hinweise geben, inwieweit in einer pädagogisch-psychologischen Perspektive das Zusammenführen der beiden Kulturen notwendig ist, damit erfolgreiches Lernen zustande kommt.
Ein erster Hinweis betrifft den amerikanischen Kognitionspsychologin Howard Gardner mit seinem Konzept der multiplen Intelligenzen. Er unterscheidet unter anderem sprachlich-linguistische, logisch-mathematische, körperlich-kinästhetische, bildlich-räumliche Intelligenzen. Seine These: Erfolgreiches Lernen findet nur dann statt, wenn all diese Intelligenzen gleichzeitig genutzt werden.
Auch in der Erziehungswissenschaft findet ein integrativer Ansatz unterschiedlicher Handlungsformen, also die Nutzung der verschiedenen Kulturen, inzwischen einen starken Rückhalt. So haben sich einige Erziehungswissenschaftler*innen aufgemacht, den Begriff des Lernens, der bislang fest in der Hand der pädagogischen Psychologie (mit einem Schwerpunkt auf Verhaltenspsychologie) war, zurück zu erobern. Entsprechende Handbücher sprechen daher von performativem und leiblichem Lernen, Lernformen, die notwendig sind, um das Kognitive im Menschen weiterzuentwickeln.
Eine jüngere Studie der OECD hat Erkenntnisse über erfolgreiches Lernen in den verschiedenen Regionen der Welt gesammelt („The Nature of Learning“, leicht im Internet unter dieser Begrifflichkeit zu finden). Die Heidelberger Erziehungswissenschaftlerin Anne Sliwka hat diese zusammengestellten Prinzipien verglichen mit Prinzipien der Kulturellen Bildung und festgestellt, dass kulturelle Bildungsarbeit in vollem Umfange den international bewährten Prinzipien erfolgreichen Lernens entspricht.
Ein schönes Beispiel liefert der ungarische Mathematiker und Psychologe Z. P. Dienes in seinem Buch „Strukturen in Bewegung und Rhythmus“ aus dem Jahr 1974: „Der besondere Reiz dieses Buches liegt in dem unkonventionellen Versuch, Bezüge zwischen Mathematik, Leibeserziehung, Tanz, Musik und Kunst aufzuzeigen, um daraus eine Bereicherung des Mathematikunterrichts zu erzielen. Dienes bietet eine Fülle von Anregungen: Tanz- und Gymnastikspiele, deren Struktur mathematischen Gruppen entspricht; Zahl- und Rechenspiele mit einer Fingersprache; rhythmische Melodiespiele.“ (So der Klappentext).
Da es heute unvermeidlich ist, die Neurowissenschaften einzubeziehen, will ich ein interessantes Ergebnis mitteilen. Der prominente Neurowissenschaftler Antonio Damasio („Descartes Irrtum“) hat bei dem Eröffnungsvortrag des ersten UNESCO-Weltkongresses zur ästhetischen Bildung 2006 in Lissabon erläutert, dass das Gehirn mit zwei Geschwindigkeiten arbeitet: Es ist unglaublich schnell in naturwissenschaftlich-technischer Hinsicht, es ist gleichzeitig unglaublich langsam im Hinblick auf eine ethisch-moralische Bewertung der erzielten Ergebnisse. Es ist daher eine entscheidende Bildungsaufgabe, mit diesen beiden Geschwindigkeiten in einer Form umzugehen, dass unsere Fähigkeit zur Weltgestaltung humanen Zwecken entspricht. Wie groß der Handlungsbedarf hierbei ist, liegt auf der Hand.
Die in der Erziehungswissenschaft neu entdeckte Leiblichkeit des Menschen ist in vielen Fachdidaktiken schon längst bekannt. So ist an den Physikdidaktiker Martin Wagenschein zu erinnern, der immer wieder darauf hingewiesen hat, dass auch wissenschaftliche Forschung stets mit der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis des Menschen („aisthesis“: sinnliche Erkenntnis) beginnt. Die Forderung von Pestalozzi nach der Integration von Kopf, Herz und Hand entspricht diesem Ansatz.
Es gibt grundsätzlich kein Erkenntnisproblem über die Notwendigkeit der Zusammenführung der zwei Kulturen, wir haben lediglich ein Problem mit der Umsetzung.
Ich will kurz drei Wege benennen, wie man ganz praktisch in Bildungseinrichtungen und insbesondere in der Schule zu einer Zusammenfügung der beiden Kulturen kommen kann.
Ein erster Weg besteht in einer systematischen und nachhaltigen Kooperation der Schule mit außerschuli-schen Partnern, also mit Kultureinrichtungen, mit kulturpädagogischen Einrichtungen und mit Künst-ler*innen. Dieser Weg wird seit einigen Jahren sehr stark forciert, insbesondere durch die Modellprojekte „Kultu-ragenten für kreative Schulen“ der Stiftung Mercator und der Bundeskulturstiftung. In diesem Feld sind inzwi-schen sehr viele Erfahrungen – auch über Konflikte, Probleme und Stolpersteine – gesammelt worden. Es gibt entsprechende Arbeitshilfen, Checklisten, Vorschläge für vertragliche Regelungen etc.
Ein zweiter Weg ist die verstärkte Einbeziehung kunstaffiner Fachdidaktiker*innen aus dem Bereich der MINT-Fächer. Dieser Weg ist deshalb erfolgversprechend, weil Lehrer*innen mit naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern Wert darauf legen, dass sie mit ihrer eigenen Fachsprache angesprochen werden und Vorschläge bekommen, die kompatibel sind mit den fachspezifischen Lehrplänen. Dies leisten entsprechende kunstaffine Fachdidaktiker*innen.
Ein dritter Weg besteht darin, quasi mit „Bordmitteln“ der Schule, also mit schon vorhandenen Kompetenzen, ein Zusammenfügen der beiden Kulturen zu erreichen. Dies gelingt dadurch, dass man Fachlehrer*innen aus den beiden Feldern in eine fruchtbare Zusammenarbeit bringt. Dies klingt leichter, als es in der Realität umzusetzen ist, da Raum und Zeit gefunden werden müssen und eine entsprechende kooperationsfördernde Atmosphäre geschaffen werden muss, damit eine solche produktive Zusammenarbeit auch geschehen kann.
Ein Ziel der Zusammenfügung beider Kulturen in pädagogischer Hinsicht besteht darin, ein besseres und effektives Lernen zu ermöglichen. Nationale und internationale Evaluationen zeigen, dass dies in der Tat auch gelingen kann. Es ist dabei nicht unanständig, von einem Nutzen nicht bloß für Schüler*innen, sondern auch für Lehrer*innen zu sprechen: Es gibt eine enge Relation zwischen erfolgreichem Lernen der Schüler*innen und der Begeisterungsfähigkeit von Lehrer*innen. Beides findet dann statt, wenn man den Gedanken der multiplen Intelligenz im Sinne von Howard Gardner berücksichtigt.
Zu erinnern ist auch an die Philosophie der symbolischen Formen, was insbesondere heißt, dass jeder der unterschiedlichen Zugänge zur Welt unterschiedliche Dimensionen des Erkenntnisgegenstandes zutage fördert. Dies ist deshalb interessant, weil ein mehrmaliges Durchnehmen desselben Gegenstandes leicht zu Ermüdungserscheinungen bei den Lehrenden führen kann. Die Entdeckung der ästhetischen Dimension dieses Gegenstandes macht diesen noch einmal interessant für denjenigen, der ihn vermittelt.
Eine ästhetische Dimension findet sich an jedem Gegenstand, mit dem der Mensch zu tun hat, denn jeder Gegenstand ist in einer gewissen Weise gestaltet.
Durch die Einbeziehung der ästhetischen Dimension erkennt man zudem den Gegenstand als Teil einer kom-plexen Kultur (Stichwort „kulturelle Kohärenz“, von der etwa der Mathematikdidaktiker Hans-Werner Heymann spricht).
Man übt zudem durch eine ästhetische Zugangsweise eine andere Haltung ein: nämlich die Bereitschaft, Neues zu entdecken, die Fähigkeit zur Kontemplation, zum Inhalt, die Ermöglichung, den Reichtum der Erscheinun-gen wahrzunehmen. Dies führt durchaus auch zu Freude und Genuss.
Es ist zu erinnern an die Ergebnisse der inzwischen breit diskutierten Studien von Hatty: dass der Lehrer oder die Lehrerin entscheidend sind dafür, dass erfolgreiches Lernen stattfindet. Und bei den Lehrenden ist es der Enthusiasmus für das eigene Fach, sodass ein Funke auch überspringen kann.
Neben diesen pädagogischen Argumenten für das Zusammenführen der zwei Kulturen gibt es allerdings auch eine politische Begründung. Es wurde oben gezeigt, dass die Verabsolutierung jeder dieser beiden Denkweisen zu problematischen Folgen in der Gesellschaft und letztlich für den einzelnen Menschen führt. Man muss also ein solches Gegeneinander Ausspielen der Denkweisen vermeiden. Dies gelingt dann besonders gut, wenn Schüler*innen im selben Unterricht die Relevanz beider Sichtweisen erleben. Es gibt gute Gründe für die Hoffnung, dass solche Schüler*innen, die Erfahrungen mit der Komplementarität dieser Sichtweisen gemacht haben, ein Stück weit weniger manipulierbar und ein wenig unangreifbarer für populistische Scheinargumente („Fake News“) sind.
Vortrag bei der Veranstaltung „ARTübergreifend“ am 5. Dezember 2018 in der Junior-Uni in Wuppertal
Bollenbeck, Georg (2007): Eine Geschichte der Kulturkritik. München: Beck.
Cassirer, Ernst (1990): Versuch über den Menschen. Frankfurt/M.: Fischer
Fuchs, Max (1983): Zur Geschichte des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens. Weinheim: Beltz.
Göhlich, Michael u. a. (2007): Pädagogische Theorien des Lernens. Weinheim/Basel: Beltz.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Sliwka, Anne u. a. (2015): Schulkultur durch kulturelle Bildung. In: Fuchs, Max/Braun, Tom (Hrsg.) (2015): Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung, Bd. 1. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa.
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