Zur gegenwärtigen Bedeutung von digitalen Medien in jugendlichen Lebenswelten
Die wichtigsten Ausdrucksformen in fünf Punkten
Die wichtigsten Ausdrucksformen in fünf Punkten
Kai-Uwe Hugger
Kai-Uwe Hugger leitet die Arbeitsgruppe Medienpädagogik und Mediendidaktik an der Uni Köln. Er forscht im Bereich digitaler Kindheit und Jugend unter Berücksichtigung von Mediensozialisation, Ganztagsbildung und digitalen Medien sowie medienpädagogischer Professionalisierung.
Jugend ist in den letzten Jahrzehnten einem gravierenden Wandel unterworfen, der durch Prozesse der Globalisierung, Kommerzialisierung und Individualisierung von Lebenslagen charakterisiert ist. Jedoch ist der Wandel von Jugend ohne die Einbeziehung von Mediatisierungsprozessen und einer veränderten Mediennutzung von Jugendlichen nur unzureichend gekennzeichnet. Fünf miteinander verschränkte Ausdrucksformen des Handelns von jungen Menschen mit digitalen Medien stechen gegenwärtig hervor und seien an dieser Stelle genannt:
1. Im Vergleich zu den früheren Massenmedien eröffnet das Internet seinen Nutzer*innen erweiterte Partizipationsmöglichkeiten (deren Wirkmächtigkeit freilich nicht fraglos ist).
Sie sind in den sozialen Medien gekennzeichnet durch die technischen Möglichkeiten der partizipativen Interaktion, Annotation, Zitation, Kollaboration und Kommentierung (Marotzki 2008), angeboten von Seiten wie z. B. YouTube, Snapchat, Facebook oder Instagram. Henry Jenkins hat dazu bereits 2006 betont, dass sich eine durch digitale Medien ermöglichte Kultur der Partizipation entwickelt, die sich kategorial von den früheren, massenmedial geprägten Vorstellungen vom passiven Zuschauen unterscheidet. Jugendliche seien immer mehr über das Internet in „participatory cultures“ eingebunden.
Zugleich macht sich jedoch in den letzten Jahren Ernüchterung breit, ob diese neuen Teilhabemöglichkeiten des Internets gesellschaftlich nachhaltig und durchdringend sind. Ein Beispiel dafür ist, dass die hohen Erwartungen an die internetgestützten politischen Partizipationsprozesse, wie sie etwa rund um die Ereignisse des Arabischen Frühlings formuliert wurden, kaum eingelöst werden konnten. Heinz Moser (2014: 26) fasst als Ergebnis dieser Diskussion zusammen, dass zwar über die digitalen Medien eine Mobilisierung von jüngeren Bevölkerungsschichten gelang, aber letztendlich keine Revolution von unten dadurch stattgefunden habe. Komplexere politische Strukturveränderungen seien weniger über Facebook oder Twitter organisiert worden als über die Demonstrationen, die sich auf der Straße abgespielt haben. Allerdings wird in der gegenwärtigen Debatte oft zu pauschal festgestellt, dass E-Partizipation häufig eher die Gestalt von Pseudo-Partizipation annimmt bzw. im passiv-rezipierenden Bereich verbleibt (vgl. Schmidt et al. 2009). Für Jugendliche scheint es heute zwar naheliegender zu sein, eine Online-Petition zu unterzeichnen, als dies an einem Straßenstand zu tun, wie die Shell-Jugendstudie (2015: 200) festhält. Welche Wirkmächtigkeit diese oder jene Online-Aktivität hat, muss aber jeweils überprüft werden. Denn vieles spricht dafür, dass sich mit den individuellen und niederschwelligen (politischen) Partizipations- und Beteiligungsangeboten, die über as Internet zugänglich sind und in die sich Jugendliche online einbringen können, wichtige neue Möglichkeiten der Teilhabe ergeben.
2. Vergemeinschaftungs- und Gesellungsformen, in deren Rahmen Jugendliche sich selbst darstellen, sich mit ihrer Identität auseinandersetzen und ein soziales Miteinander mit Gleichgesinnten finden können, wandeln sich und sind heute nicht mehr denkbar ohne ihre Verflechtungen mit der computergestützten digitalen Infrastruktur.
Dabei zeigt die aktuelle Jugendmedienforschung, dass die Pluralität jugendkultureller Vergemeinschaftungsformen mit der Pluralität digitaler Mediennutzung korrespondiert. Die digitale Infrastruktur bietet jeder nur erdenklichen Jugendkultur und Jugendszene einen geradezu unüberschaubaren Möglichkeitsraum, sich zu präsentieren, zu inszenieren, zu stilisieren, zu orientieren und zu vergemeinschaften. Dies bedeutet: Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie und warum Jugendliche und ihre jugendkulturellen Gesellungen die Online-Welt besiedeln und sich dort in Verankerung mit der Offline-Welt gewissermaßen hybrid sozialisieren, muss man sich von der homogenisierenden Generationengestalt der Netz-Generation verabschieden und sich den jugendkulturellen Eigenheiten sowie den Selbstdefinitionen der Jugendlichen zuwenden. Jugendliche eignen sich die digitalen Medien in ihren Szenen auf jugendtypische Art und Weise an (Hugger 2014: 21f.), indem mit ihr
a) Intensitätserfahrungen gemacht werden. Dabei wird Mediennutzung zum Medienereignis, wie z. B. bei Instagram Challenges, eSport-Tournaments oder Hackathons.
b) Darüber hinaus machen die digitale Medien Ganzheitserfahrungen möglich: (Digitale) Medienkommunikation erlaubt es Jugendlichen, die eigenen konkreten lebensweltlichen Erfahrungen einzubringen und mit (ausgewählten) Anderen zu teilen. Lokale und globale kommunikative Vernetzungen in Alltag und Szenenleben werden somit in erheblichen Teilen über Medien gemanagt, und zwar immer mehr über mobile Medien.
c) Schließlich wird es Jugendlichen in ihren Szenen durch die Medien in der digitalen Infrastruktur möglich, Subjektivitätserfahrungen zu machen. Die partizipativen Möglichkeiten der Online-Welt erlauben ihnen zumindest potenziell, sich selbstbestimmt zu artikulieren, wodurch sie nicht zuletzt die Wirksamkeit eigenen Handelns erfahren können.
3. Es gelingt aber nicht allen Jugendlichen in gleichem Maße, die sich eröffnenden Möglichkeiten der digitalen Medien für sich zunutze zu machen.
Neben denjenigen, die über ein hohes formales Bildungsniveau verfügen und sich die Angebote der Online-Welt besonders schnell und flexibel aneignen, inklusive der notwendigen Kompetenzen, gibt es die formal niedriger Gebildeten, denen die Fruchtbarmachung des gesamten Möglichkeitsfeldes der digitalen Medien weniger kompetent gelingt. Zu diesem Ergebnis kommen Treumann et al. (2007) in einer der wenigen umfassenden empirischen Studien zur Entwicklung von Medienkompetenz bei Jugendlichen. Dieses Ergebnis wirft zugleich ein Schlaglicht auf die „Zumutungen und Herausforderungen des digital-vernetzten Lebens“ (Deutscher Bundestag 2017: 297), denen sich die heutigen Jugendlichen gegenübersehen. Diese Zumutungen und Herausforderungen werden von der Sachverständigenkommission des 15. Kinder- und Jugendberichts in sechs Punkten zusammengefasst:
a) Strukturell bedingte sozial ungleiche Zugänge, von denen z. B. Jugendliche mit Behinderungen betroffen sind
b) Problematische kommunikative Rahmenbedingungen, die sich etwa in enthemmenden Effekten digitaler Medienkommunikation zeigen, z. B. Hate Speech
c) Infrastrukturelle Zumutungen, wie z. B. die Auswirkungen globaler, kommerzieller Machtkonzentrationen durch große Technologiekonzerne
d) Jugendgerechter Datenschutz, der sich bisher noch nicht ausreichend im Datenschutzrecht wiederfindet
e) Glaubwürdigkeit und Qualität von Quellen, z. B. in Bezug auf den Umgang mit Informationen Dritter
f) Entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte und menschenverachtende Ideologien, zu denen z. B. Pornografie und Gewalt, auch in extremistischer Form, gehören.
Demnach ist die nahezu flächendeckende Zuwendung der gegenwärtigen Jugendkohorte und ihrer kulturellen Gesellungen zu Computer, Internet und mobilen Geräten keineswegs per se gleichzusetzen mit dem souveränen kommunikativen Handeln, das innerhalb der neuen digitalen Infrastruktur pädagogisch wünschenswert ist.
4. Das Internet, insbesondere die sozialen Medien, stellen für Jugendliche zentrale Ressourcen für Identitätsarbeit dar.
Mittlerweile sind es immer mehr die sozialen Medien, die dem „digitalen Selbst“ (Reckwitz 2017) zentrale Orte für Identitätsarbeit zur Verfügung stellen. Dabei scheint das Streben nach Authentizität in den sozialen Medien von essentieller Bedeutung zu sein, ie es Reckwitz (2017: 246ff.) in seiner Theorie der „Gesellschaft der Singularitäten“ herausarbeitet: Das Subjekt nehme in den sozialen Medien an einem ständigen „digitalen Aufmerksamkeits- und Attraktivitätswettbewerb“ teil, unter Bedingungen eines
„Kampfes um Sichtbarkeit und Wertschätzung mit anderen Profilen, Blogs etc. […]. Allein wenn das Subjekt auf eine authentische und interessante Weise als einzigartig wahrgenommen, das heißt sichtbar wird, hat es eine Chance, in diesem Kampf zu bestehen und dauerhaft auch Singularitätskapital zu akkumulieren, das im Spiel des Sozialen eine soziale Position und Anerkennung sichert.“ (ebd.)
Konkrete Bezüge zu diesen theoretischen Annahmen weist die empirische Jugendmedienforschung in den letzten Jahren in vielfältiger Weise auf: So ist etwa die Relevanz des Authentisch-Seins für Jugendliche bereits vor Längerem für das Reality-Format der Daily Talkshows untersucht worden, mit dem Ergebnis, dass deren Reiz das „Wechselspiel zwischen Authentizität und Inszenierung“ ausmache (Paus-Haase et al. 1999: 372). Welche Arten des Medienhandelns von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Internet für die Identitätsbildung wirksam werden, haben Schachtner und Duller (2014) untersucht. Sie konnten empirisch netztypische kommunikative Praktiken nachweisen, wie etwa Praktiken des Formwandelns, in denen die Suche nach (Veränderung und Verwandlung von) verschiedenen Selbstentwürfen deutlich wird, z. B. hinsichtlich der Suche nach einer Geschlechtsidentität oder im Hinblick auf das Ausleben verschiedener Identitäten auf unterschiedlichen Online-Plattformen bzw. sozialen Netzwerken im Internet.
4. Soziale Medien scheinen für Jugendliche immer mehr eine zentrale Quelle, um sich über politische Inhalte und Meinungen zum aktuellen Weltgeschehen zu informieren.
Angesichts der problematischen und kritikwürdigen Aspekte der sozialen Medien, wie sie sich etwa in Hate Speech (vgl. Kaspar et al. 2017) oder Fake News (auch auf YouTube) zeigen, stellt sich die Frage nach der politischen Meinungsbildung von Jugendlichen und ihrer Kritikfähigkeit gegenüber sozialen Medien. Ein wichtiges Beispiel ist, welche Bedeutung Jugendliche informationsbezogenen YouTuber*innen beimessen. Webvideos von informationsorientierten YouTuber*innen werden von Jugendlichen nicht nur als Mittel genutzt, um sich zu unterhalten (z. B. Games/Let’s Play, Comedy) oder um sich über den aktuellen Lifestyle und Schminktipps auf dem Laufenden zu halten. Sie sind für Jugendliche auch eine zentrale Quelle, um sich über politische Inhalte und Meinungen zum aktuellen Weltgeschehen zu informieren. So sehen sich 23 Prozent der YouTube-Nutzer*innen im Alter von 12 bis 19 Jahren regelmäßig Videos von YouTuber*innen an, die Nachrichten und das aktuelle Weltgeschehen kommentieren
(Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest 2018).
Insgesamt liegen jedoch erst wenige genaue empirische Erkenntnisse darüber vor, wie kritisch Jugendliche mit den Webvideos von YouTuber*innen umgehen, insbesondere mit solchen, in denen politische Inhalte und Meinungen zum aktuellen Weltgeschehen thematisiert und kommentiert werden. Erste vertiefte Studienergebnisse (vgl. Hugger et al. 2019) zeigen zwar, dass sich Jugendliche durchaus kritisch zu YouTuber*innen und deren Webvideos äußern. Allerdings haben die Einschätzungen von Jugendlichen gegenüber Medieninhalten eher kritischanalytischen als reflexiven Charakter, d. h., die Einschätzungen der Jugendlichen zu den Inhalten der Webvideos – z. B. zu den gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der YouTuber*innen-Kommerzialisierung – bleiben auf einer eher basalen und oberflächlichen Ebene und werden häufig nicht hinterfragt.
Fazit
Mediatisierungsprozesse bilden heute einen wichtigen Rahmen für Mediensozialisation und kommunikatives Handeln (nicht nur) von Jugendlichen. Somit ist Jugend immer auch mediatisierte Jugend. Für Bildung bedeutet dies:
a) Grenzüberschreitungen und dynamische kommunikative Prozesse bestimmen heute den Umgang von jungen Menschen mit digitalen Medien.
b) Pädagogische Konzepte kommen nicht ohne die Berücksichtigung von Mediatisierungsbedingungen aus.
c) Da sich diese Wandlungsbedingungen lebenslauf- und bildungsübergreifend auswirken (in diesem Beitrag wurden Jugendliche nur als Beispiel genauer in den Blick genommen), kann sich Bildung mit und über digitale Medien nicht auf einzelne Bildungsakteure, -institutionen und -orte beschränken. Vielmehr hat Bildung mit digitalen Medien Geltung entlang der gesamten Bildungskette, also für formale, non-formale und informelle Bildungssettings.
Literatur
Deutscher Bundestag (2017). Der 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/11050.
Hugger, K.-U. (2014). Digitale Jugendkulturen. Von der Homogenisierungsperspektive zur Anerkennung des Partikularen. In K.-U. Hugger (Hrsg.), Digitale Jugendkulturen (2. Auflage) (S. 11 – 28). Wiesbaden: SpringerVS.
Hugger, K.-U., Braun, L.M., Noll, Chr., Nowak, T., Gräßer, L., Zimmermann, D. & Kaspar, K. (2019). Zwischen Authentizität und Inszenierung: Zur medienkritischen Einschätzung informationsorientierter YouTuber*innen-Videos durch Jugendliche. In F. von Gross & R. Röllecke (Hrsg.), Instagram und YouTube der (Pre-)Teens. Inspiration, Beeinflussung, Teilhabe (S. 29 – 36). München: kopaed.
Jenkins, H. (2006). Convergence culture: Where old and new media collide. New York: NYU Press.
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Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest (MPFS) (2018). JIM-Studie 2018. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2018/Studie/JIM_2018_Gesamt.pdf. Zugegriffen: 16. September 2019.
Moser, H. (2014). Die Veränderung der politischen Teilnahme und Partizipation im Zeitalter der digitalen Netze. In R. Biermann, J. Fromme & D. Verständig (Hrsg.), Partizipative Medienkulturen. Positionen und Untersuchungen zu veränderten Formen öffentlicher Teilhabe (S. 21 – 48). Wiesbaden: SpringerVS.
Paus-Haase, I., Hasebrink, U., Mattusch, U., Keuneke, S. & Krotz, F. (1999). Talkshows im Alltag von Jugendlichen. Der tägliche Balanceakt zwischen Orientierung, Amusement und Ablehnung. Opladen: Leske und Budrich.
Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Schmidt, J.-H., Paus-Hasebrink, I. & Hasebrink, U. (Hrsg.) (2009). Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Schriftreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Bd. 62). Berlin: Vistas Verlag.
Shell Deutschland Holding (Hrsg.) (2015). Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Frankfurt a. M: Fischer.
Treumann, K., Meister, D.M., Sander, U., Burkatzki, E., Hagedorn, J., Kämmerer, M., Strotmann, M. & Wegener, C. (2007). Medienhandeln Jugendlicher. Mediennutzung und Medienkompetenz. Bielefelder Medienkompetenzmodell. Wiesbaden: VS.
Der Fachbeitrag ist erstveröffentlicht in der Broschüre „Kreativ und Digital – Kulturelle Bildung in Zeiten der Digitalität in Baden-Württemberg“ der LKJ Baden-Württemberg (2020). Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors wird der Fachbeitrag an dieser Stelle veröffentlicht: