Zukunft: Illusionsräume unter dem Diktat des Algorithmus?
Interview mit Prof. Dr. Benjamin Jörissen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Interview mit Prof. Dr. Benjamin Jörissen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Benjamin Jörissen ist Professor für Pädagogik mit den Schwerpunkten Kultur und ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er erforscht die Auswirkungen des digitalen Medienwandels auf die ästhetischen Praktiken junger Menschen.
Kulturelle Bildung muss verstehen, dass sie einer der wichtigsten Akteure für digitale Bildung ist.
Prof. Dr. Benjamin Jörissen
Demokratiefähigkeit, Gemeinschaftsorientierung, die Fähigkeit zum Alteritätsbezug, also Perspektivwechsel und Verständnis der Andersheit von Andersheit, ein transformativer Habitus, also Offenheit für Veränderung versus starre Identität – das sind in demokratischen Gesellschaften oberste Bildungsziele. Wenn wir also die Frage stellen, welche Bedingungen heute existieren, um Demokratiemodelle zu leben und zu vermitteln, dann sehen wir in der digital vernetzten Zeit – mit einem twitternden US-Präsidenten, Fake News, mit Cambridge Analytica, die mit Technologien künstlicher Intelligenz massive Manipulationen von Wähler*innen über soziale Netzwerke betrieben haben – wie unheimlich schwierig es ist, das pädagogisch umsetzen. Es reicht also nicht, wenn Bildungspolitik „Digitalisierung“ sagt und an Ausstattungsoffensiven und mehr Informatikunterricht denkt. Das ist nicht falsch, aber zu kurz gegriffen.
Die Frage ist ziemlich schwierig zu beantworten, obwohl ich dazu empirisch forsche. Die Modi und Ausdrucksmittel des Widerstandes in meiner Generation, also derjenigen, die ihre Jugend in den 1980er Jahren hatten, sind von den Nachwirkungen der 1968er geprägt. Von Bildern von Demonstrationen, der Erfahrung der RAF-Krise, also dem bewaffneten Widerstand, von binären Abgrenzungen, z. B. gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Westdeutschland. Das war verhältnismäßig einfach, wenn man so will. Wenn wir diese Art von Ästhetik des Widerstands in der jetzigen Jugendkultur suchen, dann finden wir nicht viel.
In Bezug auf die jugendlichen Lebens- und Alltagswelten sehen wir grundsätzlich weder was passiert, noch in welchen Logiken das passiert. Denn wir sind nicht Teil ihrer Netzwerke. In der Forschung sehen wir aber durchaus spannende Bilder der Widerständigkeit auf der ästhetischen Ebene, z. B. ein scheinbar zufällig schlecht ausgeleuchtetes Profilfoto, das den gängigen Kriterien widerspricht – ein schönes Beispiel aus dem Promotionsprojekt von Viktoria Flasche. Aber tatsächlich positionieren sich Jugendliche mit solchen Fotos gegen bestimmte hegemoniale Diskurse. Das können ganze Bewegungen werden, die wiederum Netzwerke finden, und dann vom Algorithmus nach oben gespült werden. Die Hashtags selber funktionieren in derselben Logik der Aufmerksamkeitsökonomie wie alles andere auf diesen Plattformen. Das heißt, Menschen agieren affirmativ auf der Ebene der Netzwerklogik. Sie wollen dies auch überhaupt nicht kritisch aushebeln. Sie haben nichts gegen Instagram als Riesenkonzern oder gegen Algorithmen, die ihre Beiträge hochspielen, sondern sie benutzen sie und erfahren plötzlich eine überproportionale Sichtbarkeit und politische Wirksamkeit. Dann gibt es aber auch fließende Übergänge zu aktionistischen Netzwerkeffekten, wo z. B. ein sehr schneller, wenig reflektierter Empörungsklick gegen irgendwas, das man gerade doof findet, einen Shitstorm mitverursacht. Unser Wunsch, das Affirmative vom Nicht-Affirmativen in digitalen Welten zu trennen, scheitert häufig.
Ich denke, dass das auf die Frage einer spezifischen Qualität von „Widerständigkeit“ hinausläuft. Nicht auf ein mehr oder weniger, sondern auf ein „in welcher Hinsicht“. Grundsätzlich finde ich es immer etwas schwierig, wenn wir als Expertinnen und Experten „über“ die Problemlagen von Kindern und Jugendlichen sprechen, ohne die spezifische Perspektive ihrer Generation nachzuvollziehen. Beispielsweise nehmen wir als Erwachsene Krisen und Transformationen deutlicher wahr, einfach aufgrund der vielen Vergleichsmöglichkeiten, die sich aus unserer biografischen Erfahrung ergeben. Ständige Krisen wechseln sich ab – das ist die Wahrnehmung aus Erwachsenensicht. Kinder und Jugendliche wachsen jedoch in diese Transformationen hinein, die derzeit sehr schnell passieren, die wir von außen beobachten und die von ihnen aber nicht unbedingt als Transformation wahrgenommen werden. Für sie ist das ein Grundzustand, also Normalität. Gleichzeitig sehen wir als pädagogisch Forschende z. B. gesellschaftliche Regressionstendenzen, die eben nicht „normal“ sind. Da möchte man natürlich als Erziehungswissenschaftler resiliente Jugendliche, die nicht in Nationalismen oder identitäre Politiken hineingeraten.
Wir sehen, ein anderes Beispiel, eine enorme Steigerung von Konsumismus, die wir vielleicht als affirmativ und unkritisch empfinden. Das kann aber sich gerade auch gegen die Imperative der Erwachsenen richten – YouTube-Fans finden es häufig gerade gut, wenn „ihr*e“ Influencer*in einen hochdotierten Werbevertrag abschließt. Es besteht also immer eine gewisse Gefahr, dass wir als die ältere Generation Jugendliche zur Lösung unserer Sichtweisen und unserer Krisendiagnosen einsetzen. Wir diagnostizieren Welt und sagen, oh, da gibt es diese und jene Herausforderung, und wir müssen jetzt die Bildung umstellen, damit die nächste Generation das besser macht – anstatt es in unserer eigenen Generation besser zu machen. Das wäre am Ende so etwas wie pädagogischer Solutionismus, die Delegation von gesellschaftlichen Problemlösungen auf die nachkommende Generation. Das spricht natürlich nicht gegen die Hoffnung, dass Bildung die Welt ein Stück besser macht.
Wenn Sie so fragen, versuchen Sie den „guten“ Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen so etwas funktionieren würde. Wenn wir aber in die digitalen Kulturen hineinschauen, gibt es Netzwerke und nicht Freiräume. Diese Netzwerke sind eben immer auch korrumpiert im Sinne dominierender Netzwerklogiken wie eben Ranking-Algorithmen. Es ist wichtig zu wissen, was da geschieht, und zu verstehen, welche ästhetischen Diskurse eine Rolle spielen. Interessant finde ich als Strategie der Kulturellen Bildung, Räume transgressiv aufzulösen, in dem z. B. theatrale Räume und Online-Welten aufeinander bezogen werden, vielleicht nicht nur mit dem Beamer auf der Bühne, sondern auch auf komplexere Weise, und sich von den Avantgardekünsten inspirieren zu lassen.
Die Kulturelle Bildung wird ihre Potenziale nur einbringen können, wenn die Akteure in Bezug auf die Komplexität von Digitalisierung und die sehr schnellen gesellschaftlichen Transformationsdynamiken dazulernen.
Prof. Dr. Benjamin Jörissen
Die digitalen Welten bringen eigene neue Ästhetiken hervor, und zwar zunehmend algorithmische, von einer künstlichen Intelligenz hergestellte, die non-humanen Prinzipien folgen. Sie entstehen in einem Raum, der gleichzeitig stark ökonomisiert ist. Es ist wichtig, Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass diese Räume vielleicht lustig und schön sind, aber eben Illusionsräume sind. Und zwar deswegen, weil die Inhalte, die wir sehen, immer nur die obersten 0,5 Prozent sind, die uns von personalisierten Algorithmen zugespielt werden. Das sind aber Bilder, die in einem algorithmisch errechneten Verständnis von Lustigkeit, Schönheit und Interessantheit weit nach vorne kommen.
Die Gefahr besteht, dass das algorithmisch Normalisierte zu einer praktischen, ästhetischen Norm wird. Die Arbeit an Ästhetiken unserer Selbstverhältnisse, der Art und Weise, wie wir Welt wahrnehmen und verstehen, wie wir andere wahrnehmen und verstehen, ist eine wichtige Aufgabe der Kulturellen Bildung, nicht nur in Bezug auf Digitalisierung. Aber sie ist doch wesentlich, denn Digitalisierung ist heute der dominante Horizont. Es braucht dazu enorm viel differenziertere Kompetenzen der Multiplikator*innen hinsichtlich digitaler und postdigitaler Ästhetiken und Welten. Kulturelle Bildung muss stärker in die Prozesse eingreifen und sich nicht einfach erzählen lassen, dass das alles nur Technik und Informatik sei. Sie muss ihre Relevanz in Bezug auf die digitalen Entwicklungen – und Digitalisierung lässt sich nie ohne Globalisierung und Transkulturalisierung denken – für die derzeitigen Umbrüche erkennen und weniger an ihren eigenen, tradierten materiell-medialen Formaten hängen.