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„Wo ich mit Anderen tanzen kann, fühle ich mich geborgen.“
Aus der Praxis

„Wo ich mit Anderen tanzen kann, fühle ich mich geborgen.“

Projekt „Bad Honnef tanzt“, Bad Honnef tanzt e. V.

veröffentlicht:
Bild: Sabine Große-Wortmann

Auf der Insel vor der Stadt ist ein großes Zirkuszelt aufgebaut. Daneben ein paar kleinere Zelte. In und um die Zelte drumherum tummeln sich ungefähr 400 Kinder und Jugendliche. Zwischen sechs und 17 sind sie, besuchen verschiedenste Schulen und sprechen mindestens 30 unterschiedliche Sprachen.

Text: Kathrin Köller

Copyright: Bild: Sabine Große-Wortmann
Copyright: Bild: Sabine Große-Wortmann
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Copyright: Bild: Sabine Große-Wortmann
Bild: Sabine Große-Wortmann

Sie alle tanzen Heimat, in vier Stücken mit je 100 Schüler*innen. Mit der Frage, was das eigentlich sein soll, diese Heimat, fing alles an, anderthalb Jahre zuvor.

Anderthalb Jahre vor dem Sommer 2017 ist das Thema noch nicht so in aller Munde und Anna-Lu Masch, Choreografin und Festivalleiterin von ‚Bad Honnef tanzt’ auf der Suche nach einem „großen Thema“, das viel Spielraum bietet. Im ganz wörtlichen, tänzerischen Sinne. Und da steht die Heimat einfach irgendwann im Raum und passt, weil das Thema so offen ist und viel Spielraum bietet. Also macht sich Anna-Lu Masch auf in die Schullandschaft von Bad Honnef und beginnt mit den ersten Kennenlern- und Tanzübungen. Außerdem füllen 400 Kinder und Jugendliche anonym einen Fragebogen aus: wie, wo und wann sie sich zu Hause fühlen, was ihnen wichtig ist im Leben, wo sie sich geborgen fühlen – alles ganz niedrigschwellige und praktische Fragen. Nachdem tausende verschiedene Antworten abgetippt sind, bringt die Choreografin die Ergebnisse wieder mit in den Unterricht und die Kinder lernen, Sätze wie „Heimat ist der Ort, an dem ich glücklich bin“ in Bewegung umzusetzen. „Man ist dort daheim, wo man Spaß hat“, sagt ein Kind. „Zuhause bin ich da, wo ich W-Lan habe“, schreibt ein Jugendlicher.

Primär geht es um die Würdigung der Arbeit der Kinder und Jugendlichen.

Anna-Lu Masch

Tanz rückt einem nicht zu nah, aber kann ganz viel Nähe herstellen

„Meine Heimat ist weit weg, dort, wo ich herkomme, wo meine Freunde sind, wo ich groß geworden bin.“ Wie tanzt man so einen Satz? Als Anna-Lu Masch das Thema auswählte, war noch nicht klar, dass an ihrem Programm auch geflüchtete Kinder und Jugendliche teilnehmen werden, für die das Thema Heimat möglicherweise mit traumatischen Erfahrungen verbunden ist. „Der große Vorteil beim Tanz ist, wenn einem Kind etwas eventuell zu nahe gehen könnte, weil es zu persönlich ist, dann kann es sich entweder über die Bewegung ausdrücken oder es kann sich auch durch die Bewegung schützen. Tanz bringt Kinder nicht in die Verlegenheit, auf etwas antworten zu müssen. Man kann Sachen auch von sich fernhalten, wenn das nötig sein sollte“, erklärt Anna-Lu Masch. Trotzdem führt diese tänzerische Auseinandersetzung dazu, dass einige Kinder sich untereinander zum ersten Mal von ihren Fluchtgeschichten erzählen. Auf Arabisch. Es sind bewegende Momente, die zu langanhaltenden Freundschaften führen. Der Tanz-Unterricht hat die Gespräche nicht forciert, aber das Projekt war der Ausgangspunkt für Begegnungen, bei denen die Schüler*innen einander Halt geben konnten.

„Meine Heimat ist da, wo ich erwünscht bin.“

Auch in einer neunten Klasse öffnet das Thema ‚Heimat’ die Tür zu sehr persönlichen Erlebnissen. In der Klasse gibt es zwei Jugendliche, die sich offen zu ihrem Schwulsein bekennen und einen Trans*Jungen, den die Klasse zunächst als Mädchen kennenlernt, der sich aber mit seiner eigentlichen Geschlechtsidentität als Junge geoutet hat und der auch mit seinem neuen Jungennamen angesprochen wird. Die drei Jugendlichen erfahren Unterstützung von Teilen der Klasse, von Anderen werden sie ausgegrenzt und gemobbt. Und so lauten die Antworten auf die Heimatfrage hier, „Heimat ist da, wo ich sein darf, wer ich bin“ und „Mein Zuhause ist dort, wo man mich akzeptiert, wie ich bin.“ Die Auseinandersetzung mit diversen Lebensentwürfen ist in der Klasse so präsent, dass die Schüler*innen und die Choreografin gemeinsam beschließen, ein Tanztheaterstück daraus zu entwickeln. Aus der Realität der Jugendlichen entsteht das Stück „Heimat in mir“, das die Geschichte eines Trans*Jugendlichen auf die Bühne bringt und sich mit der Frage auseinandersetzt, was einen eigentlich im Innersten zusammenhält. „Das mag für manch ein Publikum vielleicht ganz weit weg vom Thema Heimat sein“, erzählt die Choreografin Anna-Lu Masch, „aber für uns, für die Jugendlichen war der Zusammenhang ganz klar.“

„Heimat ist da, wo meine Eltern wohnen, egal, ob ich da wohnen will.“

Bei den Zweitklässlern ist das Thema ‚Heimat’ ganz eng mit Familie verknüpft. Hier entwickeln die Schüler*innen gemeinsam Tanzszenen zu der Geschichte eines Kindes, das sich während eines Familienkrachs auf Fantasiereise begibt und um die Welt reist. Ein umgedrehter Tisch wird zu einem Segelboot und Video-Installationen an der Zeltwand sorgen dafür, dass alles echt aussieht, während sich die Kinder über verschiedene Meere in Dschungel, Unterwasser- und Wüstenwelten hineintanzen.

Wenn die Hauptbühne zum Nebenschauplatz wird …

Auf sehr jugendnahe Weise setzen sich die vier verschiedenen Tanztheaterstücke alle mit verschiedenen Facetten von Heimat auseinander. Aber der eigentliche Höhepunkt sind die drei Wochen vor den Aufführungen, wo alle Teilnehmer*innen zusammenkommen, proben, die Stücke der Anderen sehen und gemeinsam auf der Insel leben. „Ich bin von Herzen Choreografin und habe meinen eigenen künstlerischen Anspruch“, erzählt die Festivalleiterin, die während der letzten Wochen vor den Aufführungen ebenfalls mit ihrem Team auf der Insel Grafenwerth zeltet. „Aber im Grunde genommen ist das größere Ziel für mich, dass die Kinder diese Wertschätzung erleben. Dass das Publikum davon auch profitiert und dass die Stücke dann gut sind, ist natürlich auch ein Ziel. Aber primär geht es um die Würdigung der Arbeit der Kinder und Jugendlichen. Und diese Zirkusatmosphäre, die ist halt ganz besonders. Da wird das Festival zu einer Plattform der Begegnung und des Austausches“. Und viele dieser Begegnungen und dieses Austausches finden neben der Hauptbühne statt, wenn Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichstem Background miteinander ins Gespräch kommen.

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2019): Heimat – der rechte Begriff? kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 16-2019. Berlin. S. 39 – 41.

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