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„Wir probieren, etwas zu verändern“
Interview

„Wir probieren, etwas zu verändern“

Im Gespräch mit Olla Amoura vom TALK-Projekt, adis e. V. – Antidiskriminierung Empowerment Praxisentwicklung, Reutlingen

veröffentlicht:

Im Hip-Hop, Tanz und Rap, beim Songtexte schreiben oder Choreografien entwerfen begegnen sich die Jugendlichen, die vielfach Ausgrenzungen in der Gesellschaft erfahren. Sie teilen sich mit, hören zu, verstehen, finden Lösungen. Und verändern gemeinsam die Welt.

Olla Amoura macht seit 2018 bei dem Projekt TALK mit. Sie ist 21 Jahre alt und lebt in Reutlingen. Olla Amoura beschäftigt sich viel mit Diskriminierung und möchte durch die Raptexte ihre Erfahrungen und Gedanken teilen. Sie wünscht sich mehr Respekt im Zusammenleben.

Das Projekt TALK richtet sich an Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, sozialen Stellung, Behinderung oder in anderer Hinsicht Ausgrenzung erfahren. In Rap-, Hip-Hop- oder Tanz-Workshops können sie ihre Erfahrungen und Themen künstlerisch verarbeiten und ausdrücken. Der Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie in Reutlingen organisiert und veranstaltet das Projekt in Kooperation mit dem Reutlinger Kulturzentrum franz.K und dem Verein adis e. V. – Antidiskriminierung Empowerment Praxisentwicklung.

Lass uns zunächst über das Projekt TALK sprechen. Was macht ihr in dem Projekt?

Das TALK-Projekt ist ein Antidiskriminierungs- und Empowerment-Projekt für Jugendliche. Wir machen Hip-Hop, Tanz und Rap. Wir treffen uns jeden Mittwoch und am Ende des Schuljahres haben wir dann eine TALK-Show. Das ist unser großer Auftritt, bei dem wir alles, was wir das ganze Schuljahr gemacht und produziert haben, auf die Bühne bringen. Das wären dann Lieder, die selber geschrieben sind. Beats, die selber gebaut sind. Choreografien, die wir zusammen erfunden haben.  

Welche Aufgaben oder welche Rolle hast du? Wo bist du aktiv dabei?

Ich würde jetzt nicht nur über mich reden, sondern über alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Es gibt ein Zitat im Hip-Hop: „Each one, teach one“, und das nutzen wir alle. Das bedeutet: Wenn ich was kann, bringe ich das jemandem bei. Und wenn jemand anderes etwas besser kann als ich, bringt er es mir bei. Es gibt niemanden, der besser ist als ich. Ich bin auch nicht besser als jemand anderes. Wir sind alle wichtig. Und unsere Rolle ist, dass wir Rücksicht aufeinander nehmen, dass wir aufeinander aufpassen, dass wir Spaß haben. Dass keiner von uns irgendeine Art von Diskriminierung oder Mobbing bei TALK erlebt. Wenn jemand einen anderen zum Zuhören braucht, sind wir auch füreinander da, weil wir nicht nur ein Projekt oder ein Verein sind, wir sind eine Familie.

Und was macht dir dabei am meisten Spaß?

Was mir am meisten Spaß macht, ist die Phase, wo wir zusammen Choreos erfinden. Man merkt einfach, wie unterschiedlich wir sind. Wir werden offener, wir können miteinander reden. Klipp und klar uns ehrlich unsere Meinung sagen, z. B.: „Diesen Schritt mag ich nicht.“ Dann werden wir mehr kreativ, erfinden einen besseren Schritt oder einen Schritt, mit dem wir alle zufrieden sind. Wir hatten letzte Woche unseren Intensiv-Workshop. Wir üben z. B., dass wir synchron sind, dass unsere Gesichtsausdrücke gut aussehen, während wir tanzen. Wir dehnen uns, wärmen uns auf, üben die Choreos, bis wir das perfekt können. Das ist wie ein Arbeitstag, acht Stunden. Am Ende der Woche haben wir wirklich das Gefühl, wir haben etwas zusammen geschafft. Jeder Einzelne von uns ist unglaublich krass und hat viel Talent.

Du hast gesagt, dass das ein Antidiskriminierungs-Projekt ist. Wie setzt ihr euch damit auseinander?

Es gibt jeden Tag Diskriminierung, überall. Im Bus, im Klassenzimmer, im Markt, in Einkaufsläden, im Park, im Garten. Überall, wo es Menschen gibt, gibt es Diskriminierung. Ich würde sagen, z. B. wir als Frauen, wir erleben viel Diskriminierung, und das wäre dann Sexismus. Und damit beschäftigen wir uns sehr beim TALK-Projekt. Wir reden miteinander. Frau zu Frau, Mann zu Mann, Frau zu Mann. Wir probieren, uns zu verstehen. Genauso ist es auch mit Rassismus. Es gibt Rassismus überall, in jedem Land. Überall, wo es Menschen gibt, gibt es jemanden, der rassistisch ist, oder jemanden, der rassistische Erfahrungen gemacht hat. Wir probieren, etwas zu verändern. Nachdem George Floyd z. B. durch Polizeigewalt getötet wurde, gab es eine Kundgebung in Reutlingen. Ich und ein anderer Teilnehmer haben einen Rap-Text gegen Rassismus geschrieben und haben das auch auf die Bühne gebracht. Wir probieren, offener darüber zu reden.

Welches Thema beschäftigt dich noch im aktuellen Weltgeschehen und warum?

Rassismus beschäftigt mich. Ich bin selber Ausländerin. Ich wohne seit vier Jahren in Deutschland. Ich habe auch viel rassistische Erfahrungen gemacht in Deutschland und außerhalb Deutschlands, wegen meinem Aussehen, wegen meiner Sprache, wegen meinem Akzent. Ich wurde ausgelacht, rassistisch behandelt − von Lehrern, von der Schule und in Einkaufsläden, an der Bushaltestelle.

Was mich auch noch beschäftigt als Jugendliche ist, dass ich oft nicht ernst genommen werde von Erwachsenen.

Das Wichtigste für uns bei TALK ist deshalb, dass wir einen Platz haben, wo wir uns wohlfühlen können, wo uns zugehört wird, unabhängig von unserem Aussehen, unserem Gewicht, unserer Nationalität, Hautfarbe oder Geschlecht, sexueller Orientierung, Level von Tanz oder von Rap

Olla Amoura, Teilnehmerin beim TALK-Projekt

Ich wünschte mir, dass überall in jeder Stadt oder in jedem Bundesland in Deutschland so ein Projekt wie TALK entsteht. Es gibt nicht so viele Projekte, wo wir eine Stimme haben.

Was wünschst du dir von deinen erwachsenen Mitmenschen, um euch diesen Raum zu geben, um euch zuzuhören?

Ich wünsche mir, dass die Welt sich allgemein verändert, dass es nicht mehr so viel Hass gibt. Viele Männer haben Hass gegen Frauen, genauso Frauen gegen Männer. Deutsche haben Hass auf Ausländer oder andersherum. Ich wünschte mir, dass wir uns einfach das gönnen, dass jeder von uns ein unterschiedlicher Mensch ist und dass jeder von uns etwas kann. Dass es nicht mehr so viel Diskriminierung gibt. Das es einfach Gleichheit gibt für Frauen und Männer. Viele Kinder wachsen mit Hass auf, mit Gewalt. Das Wichtigste ist, dass ich als Teilnehmerin von TALK meine Stimme laut mache, dass ich rede, dass ich keine Angst bekomme. Dass ich einfach „haters“ ignoriere. Und ich bleib so, wie ich bin und ich gebe diesen Ratschlag an jeden Jugendlichen, der sich unwohl fühlt wegen seinem Aussehen oder seinem Charakter: „Bleib, wie du bist.“

Was bräuchtest du ganz konkret, z. B. in der Schule?

Wir werden nicht ernst genommen und es gibt sehr selten Lehrer, die sich die Zeit nehmen jeden Menschen anders zu behandeln, weil jeder Jugendliche, jeder Schüler anders ist. Es gibt keinen Schüler, der gleich ist wie der andere. Manche Menschen können Mathe, aber andere Menschen können kein Mathe. Aber dafür können sie gut Englisch oder Deutsch. Das wäre sehr wichtig, damit wir uns wohlfühlen können.

Wenn du jetzt an deine Freundinnen und Freunde denkst: Was beschäftigt euch als Generation, was wünscht ihr euch?

Ich würde sagen, das fängt immer mit Diskriminierung an.

Ich wünschte mir, dass diese Welt sich verändert in der Zukunft, wenn ich Kinder habe oder wenn meine Freunde Kinder haben. Dass diese Kinder diese Erfahrungen nicht machen müssen, dass diese Kinder einfach in Frieden leben und glücklich sein können.

                            Olla Amoura, Teilnehmerin beim TALK-Projekt

Reutlinger Rapper*innen: Beispiel aus der Praxis. Es ist TALK Show-Zeit in Reutlingen. Handys werden in die Höhe gehalten. Die Menge tobt. Oben auf der Bühne rappen und tanzen sich die Teilnehmer*innen des Reutlinger Jugendkulturprojektes TALK den Frust aus dem Leib. Ihre selbstkomponierten Songs handeln von Alltagsdiskriminierung, Anpassungsdruck und Armut. Ihre Hip-Hop-Kunst sorgt dafür, dass man ihnen endlich zuhört.

Website von adis e. V. – Antidiskriminierung Empowerment Praxisentwicklung

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunftsgestalter*innen. Mit Kunst und Kultur für die Gesellschaft aktiv. Arbeitshilfe. Berlin/Remscheid. S. 34-37.