Wild und widersprüchlich: Wie anschlussfähig sind Kulturelle Bildung und politische Bildung?
Im Gespräch mit Dr.in Helle Becker, Transfer für Bildung e. V., und Ina Bielenberg, Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten e. V.
Im Gespräch mit Dr.in Helle Becker, Transfer für Bildung e. V., und Ina Bielenberg, Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten e. V.
Um junge Menschen stärker an politischen Entscheidungen zu beteiligen, gerät Partizipation in den Fokus. Welche Empfehlungen leiten sich daraus für die kulturelle Kinder- und Jugendbildungspraxis ab? Wir sprechen mit Dr.in Helle Becker, die mit einer empirischen Studie zum 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung beigetragen hat und mit Ina Bielenberg als stellvertretender Vorsitzenden der Sachverständigenkommission zum 16. Kinder- und Jugendbericht.
Dr.in Helle Becker ist Geschäftsführerin von Transfer für Bildung e. V. mit der Fachstelle politische Bildung. Sie ist außerdem Leiterin von Expertise & Kommunikation für Bildung sowie Lehrbeauftragte in Köln, Osnabrück und Hildesheim.
Ina Bielenberg ist Geschäftsführerin vom Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten e. V. mit Sitz in Berlin, sie ist Historikerin, Politikwissenschaftlerin und langjährige Grundsatzreferentin der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ).
Bild: Schempershofe
Ina Bielenberg: Wir haben in der unabhängigen Sachverständigenkommission zum 16. Kinder- und Jugendbericht lange darüber diskutiert, ob wir den Begriff demokratische Bildung aufgreifen oder ob wir von politischer Bildung sprechen sollten. Und uns in dem Zusammenhang intensiv mit dem Politikverständnis auseinandergesetzt. Der Politikbegriff, den wir gewählt haben, richtet sich nicht allein auf staatliches Handeln oder Parteipolitik, sondern meint weiter gefasst auch das Handeln zwischen Gruppierungen von Menschen im Allgemeinen. In diesem Sinne ist eine scharfe Abgrenzung der beiden Begriffe für das Ziel der Förderung demokratischer Beteiligung von Kinder- und Jugendlichen nicht zielführend. Politische Bildung ist Demokratiebildung.
Dr.in Helle Becker: Ich schließe mich an, dass diese Trennung, die in der Wissenschaft diskutiert wird, für die Bildungspraxis nicht primär zielführend ist. Demokratie, Bildung und politische Bildung sollten in der Praxis nicht voneinander getrennt werden. Meine Studie zum 16. Kinder- und Jugendbericht hat aber ergeben, dass die Unterscheidung zwischen politischer Bildung und Demokratiebildung im Handlungsfeld kultureller Kinder- und Jugendbildung v. a. kommunikativ eine große Rolle spielt. Das zeigt sich z. B. in der Verpflichtung zu demokratiebildenden Elementen, was meist jugendpädagogische Parameter wie Freiwilligkeit und Partizipation meint. Das primäre Ziel der Kulturellen Bildung ist dabei aber häufig nicht, Macht- und Herrschaftszusammenhänge erfahrbar zu machen oder über politische Partizipations- und Entscheidungsprozesse aufzuklären – wie das in der politischen Bildung das Ziel ist. Obwohl es Überschneidungsbereiche gibt, geht es in der Kulturellen Bildung primär um eine ästhetische Auseinandersetzung mit der Welt.
Kulturelle Bildung und politische Bildung sind eigentlich ein wunderbares Geschwisterpaar, weil die Kulturelle Bildung gesellschaftliche Widersprüche und Konfliktpotenziale sichtbar und erfahrbar machen kann, ohne dass sie sie auflösen muss (…).
Dr.in Helle Becker
Ina Bielenberg: Demokratiebildung wird in der Kulturellen Bildung oft behauptet, aber nicht hinreichend durchdrungen. Ich versuche es etwas zuzuspitzen. In einem Kinderchor könnte die Argumentation so lauten: Der Sopran hört auf den Alt, der Alt auf den Tenor und der Tenor wiederum auf den Bass. Die Kinder lernen also, dass nur etwas Ganzes entstehen kann, wenn sie aufeinander hören. Das sei dann Demokratie und damit auch politische Bildung. Aber so, wie wir politische Bildung im Bericht definiert haben, ist das zu wenig. Ein Gegenbeispiel in der Kulturellen Bildung, wo politische Bildung drin ist, aber nicht draufsteht, ist bspw. ein Tanzprojekt mit Jugendlichen, die hier geboren sind und Jugendlichen, die mit Fluchterfahrung hier leben. An der Grenze zu Luxemburg stellten die Teilnehmer*innen fest und reflektierten dazu, dass einige von ihnen die Brücke nach Luxemburg überschreiten dürfen, die Anderen jedoch nicht. In solchen kulturellen Bildungsprojekten ist dann auch ein Beitrag zu politischer Bildung enthalten.
Nicht jede Kulturelle Bildung muss gleichzeitig politische Bildung sein, dafür gibt es keine Notwendigkeit. Aber da, wo es Überschneidungen gibt, braucht es mehr Zusammenarbeit, Austausch und Vernetzung.
Ina Bielenberg
Dr.in Helle Becker: Was die Transferfrage zwischen Demokratieerfahrung und politischer Bildung angeht, müssen wir diskutieren, ob prodemokratisches Verhalten in kulturellen Bildungsprozessen ohne weiteres auf politische Situationen übertragbar ist. Also inwieweit handelt es sich um echte Partizipation, die als politische Partizipation das Potenzial hat, die Einrichtungen selbst oder die Umwelt zu beeinflussen? Oder geht es eigentlich nur um Wahlmöglichkeiten und das Einüben sozialverträglicher Formen der Auseinandersetzung? Beim Thema Partizipation steht häufig die Konsensbildung im Vordergrund. Ich will selbstverständlich nicht in Abrede stellen, dass das eine wichtige Kompetenz ist. Aber ist das schon demokratiebildend? Weiß ich damit, wie Demokratie funktioniert, dass nicht angepasste Verhaltensweisen ihr Kern sind, sondern dass sie konflikthaft ist und kritisches Denken erfordert?
Dr.in Helle Becker: Warum liebe ich z. B. Kulturelle Bildung und das Theater? Weil es wild, widersprüchlich und gefährlich sein kann. Das ist der Freiheitsanspruch von Kunst und dem Ästhetischen – sich in Widerspruch zum Bestehenden zu setzen und sich an dem Widerspruch abzuarbeiten. Kulturelle Bildung ist das Praxisfeld in der Kinder- und Jugendhilfe, wo Tabus gebrochen werden können, wo Unausgesprochenes verdeutlicht werden kann und wo Widersprüche erfahren und nicht aufgelöst werden müssen. Die politische Bildung stellt dagegen die Frage: Wie können wir dafür sorgen, dass etwas zu einer verallgemeinerbaren Regel wird? Eine Vereinheitlichung beider Konzepte würde diese Potenziale verschütten. Trotzdem gibt es eine hohe konzeptionelle Anschlussfähigkeit zwischen den beiden Handlungsfeldern.
Ich würde sagen, Kulturelle Bildung und politische Bildung sind eigentlich ein wunderbares Geschwisterpaar, weil die Kulturelle Bildung gesellschaftliche Widersprüche und Konfliktpotenziale sichtbar und erfahrbar machen kann, ohne dass sie sie auflösen muss, während man in der politischen Bildung darüber nachdenkt, wie und mit welcher Berechtigung allgemeine Angelegenheiten verbindlich geregelt werden.
Ina Bielenberg: Hier gibt es eine Auswahl an Empfehlungen, die insbesondere auch für die Verschränkung mit Kultureller Bildung wichtig sind. Dabei möchte ich ebenfalls unterstreichen, dass nicht jede Kulturelle Bildung gleichzeitig politische Bildung sein muss, dafür gibt es keine Notwendigkeit. Aber da, wo es Überschneidungen gibt, braucht es mehr Zusammenarbeit, Austausch und Vernetzung. Bislang ist meine Beobachtung die, dass jedes Bildungskonzept nur innerhalb des eigenen Handlungsfeldes diskutiert wird. Aber eine Querdiskussion gerade über politische Bildung findet nicht statt. Deshalb gibt es die dringende Empfehlung, die Vernetzung und Forschung zu intensivieren. Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen gestärkt werden, damit mehr Lehrkräfte, aber auch junge Menschen für die außerschulische politische Bildung ausgebildet werden.
Ina Bielenberg: Ein durchgehend partizipativer Ansatz sollte bspw. im Zusammenhang mit Medienbildung reflektiert werden. Kinder und Jugendliche eignen sich Medien weitestgehend autonom an und diese autonome Selbstermächtigung muss wertgeschätzt und aufgegriffen werden. Hier spielt auch der Ausbau der digitalen Infrastruktur in Bildungseinrichtungen eine wichtige Rolle.
Eine weitere Empfehlung ist, projektorientiertes Lernen in der Schule zu fördern, weil politische Bildung mehr ist als nur ein Unterrichtsfach. Um die Partizipationsmöglichkeiten für Schüler*innen auszubauen, kommt der Ganztagsbildung besonderes Potenzial zu, hier braucht es zeitliche und personelle Ressourcen. Selbstverständlich bietet sich auch die Kooperation mit außerschulischen Trägern an, die einen deutlichen Beitrag für die Demokratisierung von Schule leisten können. Daran schließen sich politische Handlungsempfehlungen an, d. h. die direkte Adressierung der politisch Verantwortlichen. Jugendliche haben ein Recht auf politische Bildung als ein auf Dauer angelegtes Angebot und politische Bildung muss integraler Bestandteil einer jeden Jugendpolitik sein.
Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) arbeitet zusammen mit ihren Landesdachorganisationen an dem Prozess, das Potenzial der kulturellen Kinder- und Jugendbildung für Demokratiebildung und politische Bildung im Kern zu beschreiben. Auch im Hinblick auf die Förderstrukturen kultureller Kinder- und Jugendbildung bleibt eine Auseinandersetzung mit sich anschließenden Handlungsfeldern inklusive der Reflexion ihrer Grenzen und Schnittmengen wichtig.
Weitere Informationen:
Nachricht Zukünftig mehr politische Bildung: 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung veröffentlicht (13.11.2020)
Interview Demokratiebildung und politische Bildung in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit, Dr.in Helle Becker, erschienen in BKJ-Arbeitshilfe „Zukunftsgestalter*innen. Mit Kunst und Kultur für die Gesellschaft aktiv (2020)
Position Freiwilligendienste als Orte politischer Bildung, Jens Maedler und Dr.in Julia Schlicht (2021)