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Wenn Kinder sich die Stadt digital aneignen
Aus der Praxis

Wenn Kinder sich die Stadt digital aneignen

Projekt „AUGENAUF im Westparkviertel“, Bleiberger Fabrik, Aachen

veröffentlicht:

Acht- bis Zehnjährige beschäftigen sich normalerweise nicht mit Architektur und Städtebau. Im Aachener Westparkviertel ist das anders. Kinder der Katholischen Grundschule Hanbruch erkunden mit Tablets und der App „stadtsache“ jede Woche ihre Umgebung.

von Waldemar Kesler

Copyright: Bild: Bleiberger Fabrik
Copyright: Bild: Bleiberger Fabrik
Copyright: Bild: Bleiberger Fabrik
Bild: Bleiberger Fabrik

Seit September 2018 erkunden die Schüler*innen montagnachmittags zweieinhalb Stunden lang zusammen mit dem Architekturhistoriker und Stadtplaner Björn Schötten von ihrer Schule aus ihren Stadtteil. Björn Schötten wohnt selber hier und hat zu den Gebäuden und dem Stadtbild viel zu berichten. In Hanbruch und dem Westparkviertel leben Student*innen, junge Familien und alte Menschen, viele von ihnen mit Zuwanderungsgeschichte. „AUGENAUF“ findet in Kooperation mit dem Altenheim St. Elisabeth und dem dazugehörigen Quartier 55+ statt. Zusätzlich zu der App können die Schüler*innen also auch auf die Erfahrung der Bewohner*innen zurückgreifen, die zum größten Teil aus dem Viertel stammen und wissen, wie es früher im Westparkviertel aussah.

Mit Kunst und Technik gestalten

Es geht bei dem Projekt aber nicht nur darum, leicht übersehbare Teile der Stadt aufzuspüren. Die Kinder wollen das Viertel auch mitgestalten. Zu diesem Zweck dokumentieren sie mit der App „stadtsache“ diejenigen Orte, die ihnen verschönerungsbedürftig vorkommen. Daraufhin sehen sich Künstler*innen der Bleiberger Fabrik die Fotos an, die die Kinder mit dem Tablet aufgenommen haben. Sie sprechen gemeinsam darüber, wie der Ort schöner werden könnte.

Bei der Zusammenarbeit zwischen den Schüler*innen und den jungen Kunstschaffenden sind die Rollen klar verteilt: „Die Künstler*innen fungieren als Katalysator für die Ideen der Kinder und helfen ihnen bei der technischen Umsetzung. Die Kinder sagen ihnen aber selbstbestimmt, was sie letztendlich tun wollen“, betont Axel Jansen von der Bleiberger Fabrik. Er leitet dort den Kinder- und Jugendbereich und somit auch das Projekt.

Die Arbeit mit der App ist nicht in erster Linie dazu gedacht, die Medienkompetenz der Kinder zu fördern, allein schon, weil sie ihnen dafür zu wenig Gestaltungsspielraum lässt. Axel Jansen beschreibt sie als Mittel zum Zweck: „Die App ist sehr kindgerecht gestaltet und hat einen ausgeprägten Spiel- und Aufforderungscharakter, damit sich die Kinder eigenständig mit den Orten befassen.“ Sie ist wie eine Fotokamera, nur leichter zu bedienen und mit vielen nützlichen Features: Der Standort kann gespeichert werden, die Kinder können Videos drehen und Dokumentationen der Orte anlegen.

„Alle Teilnehmer*innen haben eine Affinität zu neuen Medien. Bisher kannten sie solche Geräte allerdings nur als Unterhaltungsmedium. Jetzt haben sie gelernt, wie ein Tablet als Arbeits- und Dokumentationsmittel verwendbar ist“.

                               Axel Jansen, Bleiberger Fabrik

Gullydeckel, Luftschutzbunker und Kirchturm

Mit jeder Entdeckung der Kinder tun sich neue Themen auf, die dann bei den nächsten Terminen behandelt werden. Axel Jansen erklärt: „Das Projekt ist immer an den Interessen der Kinder ausgerichtet. Wir drängen ihnen keine Orte auf. Zum Beispiel haben sie bemerkt, dass es ganz viele verschiedene Gullydeckel im Stadtteil gibt. Dann haben sie überlegt, warum das so sein könnte, welchen historischen Hintergrund das haben könnte. Da das ihr erstes Projekt war, kamen sie auf die Idee, Kurs-T-Shirts mit den Prägungen der verschiedenen Gullydeckel zu drucken.“ Zusammen mit einer Künstlerin und einem Bollerwagen voller Farben zogen sie dann los und machten bunte Abdrücke von den Deckeln.

Während des jeweils ein Schuljahr laufenden Projekts hat eine Gruppe QR-Codes an die Bäume des Westparks angebracht, nachdem sie sich mit den verschiedenen Baumarten auseinandergesetzt und Bilder dazu gemalt hatten. Die QR-Codes führten direkt zu diesen Bildern auf der Website des Westparkviertels mit weiteren Informationen über die jeweilige Baumart. Ein anderes Mal haben die Kinder entdeckt, dass der Park früher ein Tierpark war. Anschließend haben sie Wegweiser dort aufgestellt, auf denen zu lesen war, wo genau sich früher das Löwengehege oder die Schlangen befunden haben.

Als sie sich mit den tiefsten und den höchsten Punkten im Stadtteil beschäftigten, sind sie auf den Kirchturm der Pfarrei St. Jakob gestiegen und haben dort den Stadtteil von oben entdeckt. „Dieser Kirchturm ist der höchste der Stadt. Von dort aus lässt sich ganz Aachen überblicken. Das war für die Kinder nicht nur sehr beeindruckend, Björn Schötten konnte ihnen von dort oben auch plastisch einige städtebauliche Zusammenhänge erklären: warum die Stadt so angelegt ist, wie sie angelegt ist, was ein Grabenring und eine Stadtmauer sind und woran sie deren früheren Verlauf erkennen können. An so einem Ort solche historischen Spuren zu entdecken, war für die Kinder etwas Besonderes“, berichtet Axel Jansen.

Von der Neugierde zum Engagement

Durch die Expertise von Björn Schötten konnten sich die Kinder einiges städteplanerisches Wissen aneignen. So haben sie etwa festgestellt, dass ein Gebäude in der Nähe einer Hauptstraße früher eine Mühle war, und sich gefragt, was mit dem Bach geschehen ist, der früher zur Mühle gehörte. Es hat sich herausgestellt, dass der Bach komplett unterirdisch kanalisiert wurde. Nun machen sie sich stark dafür, dass der Bachlauf wieder freigelegt wird, um dem Ort an der Mühle eine größere Aufenthaltsqualität zu verleihen. Axel Jansen hat beobachtet, dass die Kinder beim Projekt soziales Engagement entwickelt haben: „Da bald die Kommunalwahlen anstehen, sind Themen wie die Aufenthaltsqualität gerade sehr präsent in den Medien. Das greifen die Kinder auf. Sie machen sich auf, um Verbindungen zwischen diesen kommunalpolitischen Themen und dem Projekt zu finden.“ Ein solches Thema war auch die Sicherheit von Schulwegen. Die Schüler*innen haben sich mit Aktivist*innen der freien Bürgerinitiative „Radentscheid“ getroffen, die ihre Ideen für eine fahrradgerechtere Stadt vorgestellt haben. Mit Architekturstudent*innen der TU Aachen haben sie sich ein anderes Mal auf den Weg gemacht, um herauszufinden, wie sich im Park Inklusion besser verwirklichen lässt und er für Menschen mit Behinderung zugänglicher werden könnte. „Die Studierenden haben den Kindern ihr Fachwissen weitergegeben und umgekehrt konnten sie durch die unvoreingenommene Sicht der Kinder eine neue Perspektive auf das Problem gewinnen.“ Axel Jansen ist sich sicher, dass bei diesem Projekt ein Grundstein dafür gelegt wird, dass sich die Kinder auch in Zukunft dafür einsetzen werden, ihr Lebensumfeld sozial und nachhaltig zu gestalten.

Kooperationen dieser Art kommen durch den Austausch in der Stadtteilkonferenz zustande, in der alle Initiativen und Institutionen vertreten sind, die sich für ein gemeinschaftliches Miteinander im Stadtteil einsetzen und die Lebensqualität im Viertel steigern möchten. Zwei Mal im Jahr haben die Schüler*innen Gelegenheit, ihre Entdeckungen und Ergebnisse bei der Stadtteilkonferenz vorzustellen und dort Stadtpolitiker*innen zu zeigen, wo es aus Kinderperspektive Verbesserungsbedarf gibt. Durch die ihnen vertraute Arbeit mit der App und ihren Funktionen sind sie für diese Präsentation bestens vorbereitet. Die Kinder werden also schließlich mithilfe der digitalen Technik Teil einer aktiven Bürgerschaft.

Förderung: Das Projekt „AUGENAUF im Westparkviertel“ wird gefördert im Programm „Künste öffnen Welten“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) im Rahmen des Gesamtprogramms „Kultur macht stark“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Bündnispartner: Bildungswerk Carolus Magnus e. V./ Bleiberger Fabrik AachenKatholische Grundschule HanbruchQuartiersbüro 55+