Wenn Kinder eine Welt erschaffen – Inklusives Tanztheater und der Zauber der Imagination
„DER BLINZELWAL – ein inklusives Tanztheaterstück“, Berlin
„DER BLINZELWAL – ein inklusives Tanztheaterstück“, Berlin
Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wie sehen uns andere? Sehen sie uns anders, übersehen uns sogar? Das Theaterstück „DER BLINZELWAL“, eine Vorstellung mit Live-Audiodeskription und Gebärdendolmetscherin, integrierte Kinder mit und ohne Behinderungen von Anfang an maßgeblich in den kreativen Prozess. Ein engagiertes Team produzierte und koordinierte das Projekt in enger Kooperation mit der Rosa-Parks-Grundschule und dem Theater Expedition Metropolis e. V. in Berlin-Kreuzberg.
12 Kinder zwischen 6 und 12 Jahren gehen als Wasserwesen auf Reisen, und treffen den Blinzelwal, der allen Vorurteilen trotzt und nur rauskommt, wenn man blinzelt. Es geht, so steht es im Programm, um „Mut und Wut, Selbstwert und Bewusstsein, Zugehörigkeit und (Un)Sichtbarkeit“.
Die Kinder sind das Wichtigste, ihre Meinung ist das Wichtigste, wir versuchen, dass keine*r anders behandelt wird.“
Britt Dunse
Die Kinder tauchen ein in die Welt eines wilden Meeres, treffen fabelhafte Wesen und spüren eigenen Bedürfnissen nach, teilen ihre Wahrnehmung und trauen sich, vor Publikum zu tanzen. Britt Dunse, Projekt- und Künstlerische Co-Leiterin des Projekts betont: „Die Kinder sind das Wichtigste, ihre Meinung ist das Wichtigste, wir versuchen, dass keine*r anders behandelt wird.“
Das inklusive Theaterprojekt erforschte ganz praktisch Ästhetik und barrierefreie Zugänge im Kindertheater. So wurde gezielt auf sehbehinderte Kinder eingegangen, um allen Teilnehmer*innen im künstlerischen Prozess Mitgestaltungsmöglichkeiten zu bieten. Britt Dunse setzt auf ableismussensibles Arbeiten: „Wir sind hier keine besondere Truppe, wir wollen, dass das eine gelassene Normalität wird. So viele Perspektiven wie möglich sind total wichtig, um in eine Selbstverständlichkeit im Umgang zu kommen.“
Die Kinder arbeiteten während eines einwöchigen Workshops eng mit Naomi Sanfo-Ansorge zusammen. Die Künstlerische Co-Leiterin des Projekts mit unsichtbarer Sehbeeinträchtigung verfügt über viel Erfahrung als Choreografin und Tänzerin.
Zentral waren die Ideen, Wünsche und Texte der Kinder. „Das Besondere ist, dass wir geschafft haben, so viele unterschiedliche Bedürfnisse wie möglich unter einen Hut zu bringen“, macht Britt Dunse deutlich. Gemeinsam wurden das Bühnenbild und die Kostüme für die von den Kindern gewählten Meereswesen gestaltet – ob Seeigel, Rochen oder Krabbe, böse Meerjungfrau oder Seepferdchen, Delfin, Meeresschildkröte oder „Strudelfisch“.
Der Workshop schaffte einen Raum, in dem sich die Kinder durch kreative Körperarbeit und offene Gespräche sicher und zugleich miteinander verbunden fühlen konnten. „Für mich macht den Blinzelwal aus, dass wir mit den Kindern auf so eine wunderbare kreative und auch sinnliche Reise gegangen sind“, unterstreicht Naomi Sanfo-Ansorge.
Dabei hilft ihr der eigene Background: „Ich habe vorher im Projekt ‚Ballett für Blinde‘ gearbeitet und darüber sehr viel Erfahrung gesammelt. Ich arbeite sehr bildhaft und mit den Elementen, um in den Körper zu kommen, lasse Sand herunter rieseln oder Wasser durch den Körper fließen. Von innen heraus, von der Imagination ausgehend, improvisatorisch. Es ist wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass es kein Bild von Richtig oder Falsch gibt, dass sie nicht die visuelle Rückmeldung brauchen, um zu tanzen. Ich gehe sehr vom eigenen Körper aus, vom Rhythmusgefühl, und unterstütze die Kinder dabei, eigene Anteile einzubauen.“
Da das Projekt auch sehbeeinträchtigte und blinde Kinder einschloss, startete der Prozess mit einer spannenden Selbstreflexion: Wie empfinden wir unser Äußeres? Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wie möchten wir von anderen gesehen werden? Großen Wert legte das Team darauf, die Einzigartigkeit eines jeden Körpers zu respektieren und Körper in keiner Weise zu kommentieren. Jedes Kind konnte selbst darüber entscheiden, wie es sich beschreiben und anschließend bei der Live-Audiodeskription in seiner Rolle präsentieren wollte. „Es war toll, auf spielerische Weise an Audiodeskription und Selbstbeschreibung ranzugehen, und zu hören und sehen, mit welcher unverkrampften Leichtigkeit die Kinder da rangegangen sind. Alles ist in einem Fluss entstanden“, erinnert sich Naomi Sanfo-Ansorge.
Die Kinder übernahmen für ganz unterschiedliche Bereiche Verantwortung: Sie dirigierten die musikalische Einführung, beschrieben ihre Bewegungen, erzählten, was sie fühlten, und gestalteten neben dem tänzerischen Teil auch den sprachlichen Ausdruck des Stücks: „Wir haben versucht, die Kinder so selbstständig wie möglich arbeiten zu lassen und uns als Erwachsene so doll wie möglich rauszunehmen. Die Kinder waren eine geschlossene Gemeinschaft. Als Naomi den Schwarm inszeniert hat und alle Kinder Teil davon waren, haben sie gesagt: ‚Wir passen aufeinander auf.‘ (…) Es war berührend, was das mit allen gemacht hat, keine*r war besser oder schlechter als der oder die andere.“
Durch die Arbeit am Stück und den Auftritt selbst sollten die Kinder nachhaltig empowert werden. „Das Mutige an diesem Projekt war, nicht zu viel vorzugeben. Ich habe da totales Grundvertrauen reingelegt, weil es bei einem Projekt der Kulturellen Bildung so toll ist, dass eben nichts Bestimmtes dabei rauskommen muss“, macht Britt Dunse klar. Dazu gehörte, dass sich alle Erwachsenen zurücknahmen. So waren die persönlichen Assistenzen der Kinder zwar in unmittelbarer Nähe, aber bewusst nicht im selben Raum, um den Kindern uneingeschränkte Selbstbestimmung zu ermöglichen.
„Mein Größtes Learning war, wie einfach es sein kann, Menschen Platz zu machen, wenn man Barrieren erkennt und behinderte Kinder nicht dazu zwingt, sich anzupassen“, schildert Britt Dunse. Wesentlich seien dafür ausreichende finanzielle Mittel. Kinder mit Behinderung sind oft auf einen Fahrdienst oder Unterbringungsmöglichkeiten für begleitende Erwachsene angewiesen. Britt Dunse stellt außerdem fest, wie wichtig Perspektivenvielfalt ist: „Wir waren dank der Förderung sehr viele Leute. Ich hatte den Wunsch, den Kindern auch eine Bandbreite an künstlerischen Ausdrucksformen zu bieten und deshalb das große Team zusammengestellt. Man braucht einfach genug Kapazitäten, um das wirklich gut leiten zu können, weil Konflikte nie ausbleiben und die Zeit für Austausch so wichtig ist.“ Im besten Fall entsteht dabei eine kleine Realutopie: „Stellt euch vor, wir könnten so eine Gesellschaft haben – wow!“
Text: Madeleine Penny Potganski
„DER BLINZELWAL – ein inklusives Tanztheaterstück“ ist Preisträgerprojekt im MIXED UP Wettbewerb für kreative Kooperationsprojekte 2023.
„Gelungene Partizipation in Kooperationsprojekten der Kulturellen Bildung“: Der MIXED UP Wettbewerb zeichnet 2023 Projekte aus, die sich in Kooperationsteams der Herausforderung gelungener Partizipation innerhalb kultureller Bildungsprojekte stellen.
„DER BLINZELWAL – ein inklusives Tanztheaterstück“ leistet dafür einen wichtigen Beitrag und erhält für die herausragende Durchführung diese Auszeichnung.
Dabei geht es insbesondere darum, dass junge Menschen ihre Anliegen und Interessen in die Entwicklung und Umsetzung der Projekte und Angebote einbringen, über Inhalte und Abläufe mitentscheiden und einen demokratischen Raum erleben können, der die Kinderrechte auf Förderung, Beteiligung und Schutz achtet.
„Der Blinzelwal kommt nur raus, wenn man blinzelt.“ Das Stück für zwölf Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren mit und ohne Behinderungen vereinte die Rosa Parks Grundschule, das Theater Expedition Metropolis und fünf Künstler*innen in Berlin. „Der BLINZELWAL“ schafft etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte und was dennoch viel zu selten ist: Eine inklusive Grundhaltung, durch die Normalität erlebbar wird. Die Performance wurde in einem gemeinsamen künstlerischen Prozess mit allen Kindern entwickelt. Mithilfe von Gesprächsrunden und Körperarbeit entwickelte die Gruppe in dem einwöchigen Workshop die Choreografie und den Tanz, erarbeitete Charaktere und Texte und fertigte Szenenbild und Kostüme an. Die mitgebrachten Voraussetzungen der Kinder sollten in jedem Gestaltungsschritt einbezogen werden, sodass die Wahrnehmung der sehbeeinträchtigten Kinder zum Ausgangspunkt genommen wurde: Beispielsweise flossen Selbstwahrnehmungen und -beschreibungen der Teilnehmer*innen ebenso ein wie Audiodeskriptionen, Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache und taktile Elemente. Dadurch konnten die nicht sehbeeinträchtigten Kinder eine (zumeist) neue Perspektive kennenlernen und auch für das Publikum wurde diese Herangehensweise zugänglich gemacht. „Der BLINZELWAL“ zeigt modellhaft, welche Ästhetiken und welche Zugänge im Theater für alle Kinder nötig und vor allem auch möglich sind.
Bemerkenswert ist, dass die künstlerisch-ästhetische Reise sich nicht auf übliche Herangehensweisen verlassen wollte, sondern die Möglichkeiten der verschiedenen Künste nutzte, damit die teilnehmenden Kinder wie auch das Publikum nicht behindert werden. Damit ist das Projekt ein besonders gelungenes Beispiel, wie Theater partizipativ und inklusiv sein kann und sich an den Voraussetzungen der Teilnehmenden orientiert.
Projektwebsite | www.brittdunse.de/#/blinzelwal/ |
Projektträger | Britt Dunse, Filmemacherin, Autorin und Regisseurin |
Kooperationspartner*innen | Naomi Sanfo-Ansorge, Choreografin und Tänzerin Rosa-Parks-Grundschule Theater Expedition Metropolis Leonie Minor, Künstlerische und pädagogische Mitarbeit, Autorin und Regisseurin Petra Stangenberg, Kostümbildnerin Els Vandeweyer, Musikerin Inga Dietrich, Schauspielerin |