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Von der Berechenbarkeit zur kreativen Mitgestaltung
Interview

Von der Berechenbarkeit zur kreativen Mitgestaltung

Im Gespräch mit Christoph Richter, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

veröffentlicht:

Vieles wird durch die Digitalisierung berechenbar, geregelt und verfügbar. Doch es engt unsere Weltsicht auch ein. Kulturelle Bildung kann eine tragende Rolle für den emanzipierten Umgang mit digitalen Techniken spielen.

Christoph Richter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Medienpädagogik/Bildungsinformatik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Im Onlinelabor für Digitale Kulturelle Bildung beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Mensch und Technik.

Foto: BKJ | Andi Weiland

Was verstehen Sie unter Digitalisierung?

Digitalisierung ist im Kern ein Prozess, durch den soziale Praktiken einer informatischen Verarbeitung zugänglich gemacht und transformiert werden. Sie ist ein ambivalenter Prozess: Einerseits hoffen wir, dass sie produktive Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Vorgängen ermöglicht. Gleichzeitig merken wir – gerade im Bereich der sozialen Medien –, dass wir es mit Plattformen zu tun haben, die einem technokapitalistischen Kalkül folgen. Manche haben die Idee, die Digitalisierung könnte helfen, Grenzen zu überwinden. Und gleichzeitig diskutieren wir über Hate Speech. Digitalisierung ist in diesem Sinne auch kein Übergangsprozess, der sich abschließen lässt, sondern eine permanente gesellschaftliche Herausforderung, die unsere Kultur auf allen Ebenen durchdringt. Und Digitalisierung ist nichts, das außerhalb von uns geschieht. Als Nutzer*innen und als Bürger*innen sind wir immer auch an der Entstehung dieser Technologien beteiligt.

Welche Veränderungen bringt Digitalisierung als kultureller und gesellschaftlicher Transformationsprozess mit sich?

Digitale Technologien wie Google, Facebook und Instagram bestimmen in immer umfassenderer Weise darüber mit, was für uns sicht- und erfahrbar wird. Sie haben insofern einen tiefgreifenden Einfluss auf die Art und Weise, wie wir uns individuell aber auch kollektiv die Welt erschließen können. Digitalität ist insofern kein Add-on, als vielmehr ein integraler Teil unserer Lebenswirklichkeit. Dies gilt insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, die bereits in einer digitalisierten Welt groß geworden sind.

Digitale Technologien als ein historisch gewachsenes und kontingentes Kulturphänomen zu verstehen, ist deshalb besonders herausfordernd für Kinder und Jugendliche.

                               Christoph Richter

Was bedeutet das für unseren Blick auf die Technologien?

Wir brauchen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs erstmal einen anderen Blick darauf, was Digitalisierung ist. Wir dürfen digitale Technologien nicht nur als technische Artefakte begreifen, sondern müssen sie auch und v. a. als kulturelle Produkte verstehen. Von da ausgehend können wir darüber nachdenken, wie wir Kinder und Jugendliche darin begleiten können, sich aktiv einzubringen.

Welche neuen Zukunftsbilder entstehen daraus?

Einen Zukunftsentwurf zu skizzieren ist schwierig, wenn auch dringend notwendig: Zentral scheint mir dabei die Frage, ob wir diesen Entwurf daran ausrichten, was David Gräber als die „Utopie der Regel“ beschrieben hat, an dem Leitbild, dass alles berechenbar, kategorisierbar, geregelt und auch verfügbar sein sollte. Oder, ob wir versuchen eine Zukunft zu schaffen, in der es etwas Menschliches gibt, das sich der Berechenbarkeit, dem Geregelten und somit algorithmischer Kontrolle entzieht? Wo ist da unser gesellschaftlicher Konsens? Wo zieht es uns hin?

Wohin entwickelt sich das Bildungsverständnis in Zeiten der Digitalisierung?

In der Öffentlichkeit werden digitale Technologien v. a. als Instrumente von Bildung begriffen. In Bezug auf Schule und nicht zuletzt auch durch Corona wird verstärkt diskutiert, welche technische Ausstattung benötigt wird, damit Kinder und Jugendliche an formalen Bildungsangeboten teilnehmen können. Ein anderer Aspekt: Welche Kompetenzen brauche ich, um diese Technologien zu nutzen? Zentral sollte jedoch sein, Digitalisierung über den Kontext eines Werkzeugs oder Unterrichtsgegenstands hinauszudenken und die Wechselwirkung von Mensch und digitaler Technologie zu verstehen. Es kann hierbei nicht um Vereinheitlichung, Verfügbarmachung und Berechenbarkeit gehen. Wenn wir das gesellschaftlich nicht für das einzig erstrebenswerte Modell halten, dann müssen wir nach Alternativen suchen und auch Bildung weiterdenken.

Das wichtigste Bildungsprojekt ist dabei aus meiner Sicht, neue Wege zu finden, wie wir Digitalisierung auf verschiedensten Ebenen mitgestalten können.

                               Christoph Richter

Digitale Kultur und Kulturelle Bildung: Was verbindet die beiden Konzepte?

Natürlich ist erst einmal der Kulturbegriff das Bindeglied. Wenn man Kulturelle Bildung in einem weiten Sinn versteht, dann gehört da auch das Digitale als kultureller Prozess mit hinein. Im Kern, glaube ich, können beide aus einer pädagogischen Sicht die Frage stellen: Was ist uns wichtig und wie wollen wir eigentlich gemeinsam leben? Das Konzept der digitalen Kultur betont dabei, dass es etwas Kulturelles im Digitalen gibt, was über die reine Technik hinausweist.

Welche Bedeutung messen Sie den „analogen“ Trägern der Kulturellen Bildung in der Digitalisierung bei?

Kulturelle Bildung bietet sehr viele Ansatzpunkte, um neu über Digitalisierung nachzudenken. Kinder und Jugendliche können Erfahrungen mit Gestaltungs- und Handlungsspielräumen sammeln, über einen experimentellen oder spielerischen Zugang zur Welt auch ästhetische Haltungen entwickeln. Sie sind damit letztendlich besser aufgestellt, wenn es darum geht, sich gegenüber digitalen Technologien zu positionieren.

Ihr Onlinelabor für Digitale Kulturelle Bildung bietet eine vielfältige Plattform für den Austausch zum Thema an. Was möchten Sie herausfinden und was haben Sie bereits herausgefunden?

Ziel des Onlinelabors ist es, ein möglichst facettenreiches Bild von sozialer Mediennutzung zu entwickeln. Wir möchten aufzeigen, wo Differenzen, Handlungs- und Erfahrungsspielräume liegen. Tatsächlich stellen wir eine sehr große Heterogenität sowohl hinsichtlich der genutzten Medien wie auch der Art der Nutzung fest. Oft werden viele verschiedene Medien parallel genutzt, die einen individuellen „Fußabdruck“ ausmachen, da kaum zwei Personen die gleiche Mischung an sozialen Medien nutzen. Das zweite Ergebnis ist, dass die soziale Mediennutzung tatsächlich in allen Altersgruppen für viele Menschen zur Normalität geworden ist. Analytisch interessieren uns auch klassische Kategorien, die in der Praxis oftmals verschwimmen oder neu zusammengedacht werden, z. B.: Was ist eigentlich öffentlich, was privat? Und: Wie verhalten sich Authentizität und Inszenierung zueinander?

Wer profitiert von den digitalen Entwicklungen, wer wird aber auch nicht erreicht?

Im Sinne des Digital Divides sieht man, dass die Menschen, denen es gut geht, eher davon profitieren als diejenigen, die gesellschaftlich schon abgehängt sind. Im Schulkontext hat besonders Corona gezeigt, wie sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche auch diesbezüglich ins Hintertreffen geraten. Natürlich profitieren auch die Technologieunternehmen sehr stark. Umgekehrt habe ich den Eindruck, geraten wir alle ins Hintertreffen, solange wir uns der Digitalisierung passiv ausgeliefert fühlen und nicht verstehen, wie wir sie aktiv mitgestalten können.

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunftsgestalter*innen. Mit Kunst und Kultur für die Gesellschaft aktiv. Arbeitshilfe. Berlin/Remscheid. S.124-127.