Vom Kind aus denken: Zwischen Selbstbestimmung, Schutz und Befähigung
Kinderrechte in digitalen Lebenswelten
Kinderrechte in digitalen Lebenswelten
Jutta Croll
Jutta Croll ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Digitale Chancen und leitet dort seit 2017 das internationale Projekt Kinderrechte.digital. Zu ihren Themenschwerpunkten zählt ein zeitgemäßer Kinderschutz im Internet unter Berücksichtigung der Kinderrechte.
Bild: Mark Bollhorst
1989 wurde die Kinderrechtskonvention (UN-KRK) der Vereinten Nationen verabschiedet, inzwischen ist sie von 196 Staaten anerkannt und damit die meist ratifizierte Menschenrechtskonvention weltweit. In Deutschland wurde die UN-KRK mit der Unterzeichnung durch die Bundesregierung im Jahr 1992 Teil der deutschen Rechtsordnung. Seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention sind 30 Jahre vergangen, in denen sich die Lebensverhältnisse stark verändert haben. 1989 ist auch das Jahr, in dem Tim Berners-Lee den Code entwickelte, der seitdem als WorldWideWeb das bis dahin weitgehend der Forschung und dem Militär vorbehaltene Internet der breiten Bevölkerung zugänglich macht. Dieser Beginn einer Entwicklung, die wir heute unter dem Begriff der Digitalisierung diskutieren, markiert zugleich den Ausgangspunkt veränderter Bedingungen für ein gutes Aufwachsen von Kindern. Im folgenden Artikel wird der Einfluss der Digitalisierung auf die kindlichen Lebenswelten sowie auf die Achtung, den Schutz und die Verwirklichung der Kinderrechte in den Blick genommen. Die Entstehung und Verbreitung digital gestützter technischer Informations-, Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten und das parallel dazu wachsende Wissen um die Kinderrechte sowie die Notwendigkeit von deren Verwirklichung bieten mehrere Ansatzpunkte für eine vertiefende Betrachtung.
Nach der Entstehung des WorldWideWeb wurden in den 1990er-Jahren von Wissenschaft und Politik unter dem Stichwort der Digitalen Spaltung die möglichen Folgen einer Aufspaltung der Gesellschaft in diejenigen, die Zugang zum Internet haben, und diejenigen, denen dieser Zugang fehlt, erörtert. Dabei wurden insbesondere Nachteile für Bevölkerungsgruppen wie Sozial- und Bildungsbenachteiligte, Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status, Ältere und Behinderte oder in ländlichen Räumen ohne Breitbandversorgung lebende Menschen thematisiert. Durch den Ausbau von Festnetz und Mobilfunk und durch die weitreichende Verbreitung von mobilen, internetfähigen Endgeräten hat sich diese Diskussion verändert: Digitale Spaltung zeigt sich nicht mehr in erster Linie an der Verfügbarkeit des Zugangs zum Internet, sondern vielmehr entlang der Frage, wie, wo und durch wen die für eine sichere und verantwortungsbewusste Nutzung erforderlichen Kompetenzen vermittelt werden.
Der von Marc Prenzky 2001 geprägte Begriff der Digital Natives ist inzwischen zu einem Schlagwort geworden, mit dem Unterschiede in der Nutzung digitaler Medien beschrieben werden. Auch Auseinandersetzungen zwischen der Generation der Kinder und Jugendlichen, die von Geburt an mit digitalen Medien aufgewachsen sind, und den nicht digital sozialisierten Erwachsenen werden damit assoziiert. Tatsächlich sind die technischen Bedienfertigkeiten vieler Kinder und Jugendlichen, unterstützt durch intuitive Benutzeroberflächen, schon im frühen Kindesalter gut ausgeprägt, während es älteren Menschen oft schwerfällt, sich die Bedienung digitaler Technologien anzueignen, da ihre Techniksozialisation auf anderen Nutzungskonzepten basiert.
Die Wählscheibe eines Telefons oder die Knöpfe einer Fernbedienung sind mit Drag & Drop oder Swipes auf dem Touchscreen nicht zu vergleichen. Wenn es allerdings um die weiteren Dimensionen der Medienkompetenz geht, d. h. beispielsweise um die Fähigkeit zur Bewertung von Quellen oder die Kenntnis kommerzieller Produktions- und Verwertungsmechanismen digital verbreiteter Inhalte, darf weder bei Kindern und Jugendlichen noch bei Erwachsenen vorausgesetzt werden, dass erforderliches Wissen und Kenntnisse in ausreichendem Maße durch Learning by Doing erworben werden. Medienkompetenz vermittelnde Angebote sind daher für alle Generationen notwendig, sowohl in Bezug auf den eigenen Umgang mit digitalen Angeboten als auch – bei Eltern und pädagogischen Fachkräften – in Bezug auf die Begleitung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen.
Die UN-Kinderrechtskonvention versteht Kinder als Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Nach deutschem Recht gilt als Kind, wer noch nicht 14, und als Jugendlicher, wer noch nicht 18 Jahre alt ist. Aus dieser juristischen Perspektive ist Kindheit ein Status der Minderjährigkeit, der sich durch Schutzbedürftigkeit einerseits und die Notwendigkeit der Entwicklung hin zum vollwertigen Erwachsenen andererseits definiert. Im Alltag wird hingegen eher zwischen Kindheit und Jugend differenziert, wobei Jugend häufig auch junge Erwachsene über 18 Jahre umfasst. Dieser Lebensabschnitt ist von unterschiedlichen Altersgrenzen in verschiedenen Lebensbereichen und -phasen gekennzeichnet. Dazu gehören beispielsweise der Zeitpunkt der Einschulung, die Strafmündigkeit, die Vertragsfähigkeit und Volljährigkeit oder das Alter, ab dem die Religionsfreiheit und das Wahlrecht gewährt werden. Zudem werden auch durch das Jugendschutzgesetz im Alltag relevante Altersbeschränkungen und -freigaben festgelegt, z. B. in Bezug auf den Besuch von Veranstaltungen und die Rezeption medialer Inhalte, den Konsum von alkoholhaltigen Getränken und Nikotin oder die Zulässigkeit sexueller Kontakte. Dieser den Lebensabschnitt der Kindheit und Jugend strukturierende Rahmen hat eine vergleichsweise hohe Stabilität; Herabsetzungen oder auch Heraufsetzungen von Altersgrenzen gehen zumeist langjährige Untersuchungen sowie Aushandlungen voraus. Die Wahrnehmung von Kindheit und den damit verbundenen gesellschaftlichen Handlungen und Haltungen unterliegt hingegen einem ständigen Wandel. Kränzl-Nagl und Mierendorff (2007) haben sich mit diesem komplexen Phänomen befasst und kommen zu dem Schluss, dass erst in den letzten 30 Jahren eine Sichtweise auf Kindheit entstanden ist, die diese nicht mehr nur als eine Entwicklungsphase im Lebensverlauf, sondern auch als ein soziales Phänomen begreift, das von gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst ist und damit seine kulturspezifische Ausprägung erhält. Kindern werde in der Folge eine aktive Rolle zugestanden und sie rückten somit auch als soziale Akteure in das Blickfeld (vgl. ebd., S. 20). Die Autorinnen schreiben: „Die in einer Gesellschaft vorherrschenden Bilder von Kindheit und die Interpretationen ihres Wandels sind Teil gesellschaftlicher Entwicklungen und damit Veränderungen unterworfen – und sie gestalten damit auch den Umgang mit Kindern und ihren gesellschaftlichen Status“ (ebd., S. 4).
Der Einfluss der Fridays for Future-Bewegung auf die weltweite Klimaschutzdebatte ist ein Beleg dafür, wie Kinder heute als soziale Akteure – auch im politischen Umfeld – wirksam werden. Die Bewegung zeigt auch, wie digitale Medien als Katalysator wirken und die Teilhabe von jungen Menschen ermöglichen.
Die UN-Kinderrechtskonvention formuliert in Artikel 3 den Vorrang des Kindeswohls bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen. Dies lässt sich in einem Dreieck der Kinderrechte visualisieren. Im Mittelpunkt des Dreiecks steht das Kindeswohl, Schutz und Befähigung bilden die Ecken der Basis, die Teilhabe markiert die Spitze. Gestützt auf Maßnahmen des Schutzes und der Befähigung werden Kinder in die Lage versetzt, ihr Recht auf Teilhabe zu verwirklichen (s. Abb. 1). Dem in den 1980er-Jahren von Amartya Sen zur Messung des individuellen und gesellschaftlichen Wohlstands entwickelte Capability Approach (deutsch: Befähigungs- oder Verwirklichungschancenansatz) zufolge muss die Gesellschaft die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen ihr volles Potenzial entfalten und ihr Leben erfolgreich gestalten können. Capabilities erfassen nach Sen das Potenzial des Individuums, aus einer Auswahl verschiedener Möglichkeiten über die eigene Lebensweise zu entscheiden und die Verwirklichung der selbst für wertvoll erachteten Lebensziele anzustreben. Diese Freiheit, das Leben selbst zu bestimmen, umfasst sowohl die passive Freiheit, das heißt die Abwesenheit von Hindernissen, als auch die aktive Freiheit, also Entscheidungen im Hinblick auf die eigenen Vorstellungen von einem erfüllten Leben zu treffen. Der Capability-Ansatz stellt eine bewusste Abgrenzung von einem auf gleichen Rechten und Ressourcen beruhenden egalitären Verständnis von Chancengleichheit dar. Nach Sen soll die Aufmerksamkeit nicht auf die Rechte und Ressourcen als solche, sondern vielmehr auf deren Wirkung auf die Menschen gerichtet sein (vgl. Sen 1980, S. 219: “[to shift] the attention from the goods to what goods do to human beings”). Um diese Wirkung gemäß dem Capability-Ansatz zu erfassen, ist ein hohes Maß an Kontextualisierung erforderlich (vgl. Clark & Ziegler 2014, S. 216).
Eine Einordnung versuchen Biggeri und Karkara (2014); sie unterscheiden gestützt auf Sen zwischen A-Capabilities, d. h. verfügbare Fähigkeiten und Voraussetzungen der betreffenden Person (Abilities), O-Capabilities, verstanden als erreichbare Optionen, und P-Capabilities, d. h. Potenzial, das im Zuge der persönlichen Entwicklung und gegebenenfalls erst auf der Basis notwendiger gesellschaftlicher Veränderungen realisierbar wird (vgl. ebd., S. 25). Die Befähigung von Kindern, ein Bewusstsein für ihre Rechte im digitalen Umfeld zu entwickeln und mögliche Risiken zu erkennen, d. h., die erforderlichen ‚Abilities’ zu entwickeln, ist eine Erziehungsaufgabe der Eltern sowie im Idealfall auch Bestandteil formaler und non-formaler Bildungsprozesse. Die dem Bereich der O-Capabilities zuzuordnende Option des (Selbst-)Schutzes wird durch den Erwerb dieser Fähigkeiten realisiert und kann durch eine entsprechende Gestaltung von digitalen Angeboten und Endgeräten durch die Anbieter unterstützt werden. Als P-Capability ist die Entwicklung einer gesellschaftlichen Haltung zu verstehen, die dem Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch und kommerzieller Ausbeutung mittels digitaler Medien ebenso wie dem Schutz ihrer Privatsphäre eine hohe Priorität einräumt und für die Verletzung dieser Schutzrechte deutliche Sanktionierungen vorsieht. Die in der europäischen Datenschutzgrundverordnung erstmals ausdrücklich hervorgehobene besondere Schutzwürdigkeit von Kindern in Bezug auf die Verarbeitung ihrer Daten darf als ein erster Schritt zu einer im Sinne einer P-Capability veränderten gesellschaftlichen Haltung interpretiert werden (vgl. zu dieser Überlegung auch Croll & Pohle 2018). Die Jugendschutzgesetzgebung muss jetzt nachziehen und dem Schutz von Kindern im digitalen Umfeld einen zeitgemäßen Rechtsrahmen geben. Vom Kind aus denken heißt, die Anbieter in die Pflicht zu nehmen und eine gesellschaftliche Haltung zu fördern, die die Rechte des Kindes auf Selbstbestimmung, Schutz und Befähigung ernst nimmt.
Wie zuvor ausgeführt, zeigt die Fridays for Future-Bewegung, wie junge Menschen heute durch den Einsatz von digitalen Medien und das Bespielen von Social-Media-Kanälen ihre Meinungs- und Informationsfreiheit ebenso wie ihr Recht auf Versammlung, Vereinigung und Teilhabe im digitalen Umfeld ausüben. Voraussetzung dafür ist ein chancengleicher und uneingeschränkter Zugang zu digitalen Angeboten für alle Kinder, ergänzt durch die umfassende Gewährleistung von Schutz, Sicherheit und Privatsphäre.
Das hohe Potenzial der Digitalisierung für die Verwirklichung der Kinderrechte wird bisher noch nicht in vollem Umfang ausgeschöpft. Einen Weg, wie dies gelingen kann, weisen die im Juli 2018 vom Europarat verabschiedeten Leitlinien zur Achtung, zum Schutz und zur Verwirklichung der Rechte des Kindes im digitalen Umfeld (Europarat 2018). Weitere Orientierung wird die derzeit entstehende Allgemeine Bemerkung (General Comment) zur UN-Kinderrechtskonvention in Bezug auf die Digitalisierung bieten, deren Annahme durch den Ausschuss der Vereinten Nationen für das Jahr 2020 erwartet wird (vgl. Croll 2019 b).
Literatur
Biggeri, Mario & Karkara, Ravi (2014). Transforming Children’s Rights into Real Freedom: A Dialogue Between Children’s Rights and the Capability Approach from a Life Cycle Perspective. In: Daniel Stoecklin & Jean-Michel Bonvin, Children’s Rights and the Capability Approach (pp. 19 – 41). Springer Netherlands.
Clark, Zoe & Ziegler, Holger (2014). The UN Children’s Rights Convention and the Capabilities Approach – Family Duties and Children’s Rights in Tension. In: Daniel Stoecklin & Jean-Michel Bonvin, Children’s Rights and the Capability Approach (pp. 213 – 231). Springer Netherlands.
Croll, Jutta (2018). Im Mittelpunkt das Kind. Eine kinderrechtliche Perspektive auf den Kinder- und Jugendschutz im Internet. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 68. Jg., 40 – 41, S. 41 – 46.
Croll, Jutta (2019a). Das Recht des Kindes auf Privatsphäre in einer digitalisierten Lebenswelt. In: Frühe Kindheit 02, S. 24 – 31.
Croll, Jutta (2019b). Im Fokus: Kinderrechte im digitalen Umfeld neu verstehen, Ihre Mitwirkung ist gefragt! Verfügbar unter www.kinderrechte.digital, 14.03.2019 (https://www.kinderrechte.digital/fokus/index.cfm/StartAt.6/page.2/arc.0/secid.271/aus.11, zuletzt aufgerufen am 12.09.2019).
Croll, Jutta & Pohle, Sophie (2018). Stopp! Geheim – Das Kinderrecht auf Datenschutz und Privatsphäre in der digitalen Welt. In: merz Wissenschaft (6) Kinder | Medien | Rechte – Komplexe Anforderungen an Zugang, Schutz und Teilhabe im Medienalltag Heranwachsender, S. 29 – 40.
Europarat (2018). Leitlinien zur Achtung, zum Schutz und zur Verwirklichung der Rechte des Kindes im digitalen Umfeld. Empfehlung CM/Rec 7 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten. Verfügbar unter www.kinderrechte.digital/hintergrund/index.cfm/topic.280/key.1568, zuletzt aufgerufen am 12.09.2019.
Kränzl-Nagl, Renate & Mierendorff, Johanna (2007). Kindheit im Wandel – Annäherungen an ein komplexes Phänomen. In: SWS-Rundschau. Die Zeitschrift des Vereins für interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Studien und Analysen, 47. Jg., Heft 1, S. 3 – 25.
Prensky, Marc (2001). On the Horizon. MCB University Press, Vol. 9, No. 5, October 2001. Verfügbar unter www.marcprensky.com/writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20Part1.pdf, zuletzt aufgerufen am 12.09.2019. Sen, Amartya (1980). Equality of what? In: S. McMurrin (Ed.): Tanner lectures on human values (Vol. I, pp. 197 – 220). Cambridge University Press.
Sen, Amartya (2007). Children and human rights. In: Indian Journal of Human Development, I (2), pp. 1 – 11.
Stoecklin, Daniel & Bonvin, Jean-Michel (Eds.) (2014). Children’s Rights and the Capability Approach. Springer Netherlands.
Der Fachbeitrag ist erstveröffentlicht in der Broschüre „Kreativ und Digital – Kulturelle Bildung in Zeiten der Digitalität in Baden-Württemberg“ der LKJ Baden-Württemberg (2020). Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin wird der Fachbeitrag an dieser Stelle veröffentlicht: