Schickt mehr Bücher!
Projekt „Book it!“, Kulturenwerkstatt, Limburg an der Lahn
Projekt „Book it!“, Kulturenwerkstatt, Limburg an der Lahn
Von Kathrin Köller
Per SMS, E-Mail und Telefon bitten Jugendliche dringend um mehr Lesestoff. Täglich packt die Workshopleiterin Romane, Graphic Novels und Sachbücher in Umschläge. „Annie, ich habe dieses Buch in der Hand und es ist bei mir. Ich bin so froh“, sagt der siebzehnjährige Kamil und hält sich an Alan Gratz Jugendroman „Vor uns das Meer“ fest.
Wenn man länger zusammen ist, kommt viel raus. Viele haben Angst vor der Zukunft, vor Krieg und Klimawandel, vor menschengemachten Problemen.
Annie Vollmers
Dass Bücher in Krisenzeiten für Jugendliche von so existentiell wichtiger Bedeutung sind, das hätte selbst die langjährige Lesepädagogin und Streetworkerin nicht vermutet. „Die Bücher werden wirklich verschlungen. Das ist wie ein Anker, dieses Buch zu haben, mehr noch als das Handy, weil das Buch Ruhe gibt und man in eine Geschichte hineingeht“, sagt Annie Vollmers. „Da stecken ja Lebenssituationen drin, die für manche auch eine Rettungsaktion sind und vermitteln, dass man nicht alleine ist. Und natürlich ist das Lesen auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und seinen eigenen Zukunftserwartungen.“
Frühjahr 2020: Deutschland ist im Lockdown und die Jugendlichen, mit denen Annie Vollmers eigentlich Lesungen, Theater und andere literarische Aktionen geplant hat, sitzen in Wohnungen eng mit ihren Familien oder in Unterkünften für Geflüchtete fest. Die Zukunft selbst ist zerbrechlich geworden, noch nicht einmal die nächste Woche lässt sich planen, jeder Gang vor die Tür ist ein Risiko, andere Leute treffen geht gar nicht. Aber dann kommt „Huhn mit Pflaumen“ ins Haus und „Marie Curie“ bringt „Licht ins Dunkle“. Lesend lässt sich auf Reisen gehen und „Schamlos“ Zukunft träumen. Die vom Arbeitskreis für Jugendliteratur finanzierten und von Annie Vollmers täglich verschickten Bücher bringen die Jugendlichen des Literanauten-Leseclubs „Book it!“ wieder zusammen.
Denn Kamil, Andelina und Sara lesen nicht nur für sich selbst, sondern machen Fotos von ihren Lieblingszitaten, präsentieren das aufgeschlagene Buch auf ihrem Frühstücksteller, balancieren die neuesten Lektüren auf dem Kopf oder machen sich mit dem Bügeleisen an zerknitterte Comic-Hefte. Nach sechs Wochen Lockdown, als manche der geflüchteten Jugendlichen sich gar nicht mehr aus ihrem Zimmer trauen, stellt Annie Vollmers Aufgaben, die den Gang nach draußen erfordern. Die Jugendlichen erstellen Collagen, posten ihre Bilder auf verschiedenen Social Media-Kanälen und treffen sich mehrmals die Woche ein einer Videokonferenz. Sie diskutieren über ihre Bücher und Sehnsüchte, sammeln schöne und blöde Wörter, arbeiten an Buchbesprechungen, machen chorisches Lesen per Zoom und überlegen − nicht, was man nicht machen, sondern was man jetzt wie, neu oder anders machen kann. „Mit den Jugendlichen gemeinsam finden wir neue Formate. Wir haben jetzt auch entdeckt, wie wir ein Video machen können und wie wir gemeinsam eine Geschichte erzählen können, in der jeder seine Erlebnisse, Bilder und Texte einfügen kann“, erzählt Annie Vollmers und ergänzt voller Vorfreude: „Es wird ein Abenteuer.“
Die Lust auf Abenteuer und die große Neugier darauf, was Jugendliche zu sagen haben, treiben Annie Vollmers schon seit Jahren an, mit verschiedensten Literaturprojekten bei Jugendlichen aufzuschlagen. Viele der Jugendlichen, mit denen sie arbeitet, haben Fluchterfahrung, sie selbst oder ihre Familien sind eingewandert, einige kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen, die meisten haben zu Hause keinen gefüllten Bücherschrank. Klassische Buch-Vermittlung à la „Lest doch mal ein gutes Buch“ funktioniert da nicht. Die Literaturpädagogin lässt sich bei ihrer Vermittlungstätigkeit in den verschiedensten Projekten von zwei Grundsätzen leiten. Erstens, niemals jemandem ein „gutes Buch“ aufzwingen und schon gar nicht beleidigt sein, wenn jemand sagt, Bücher seien „nicht so wirklich sein Ding“. Zweitens, den Menschen wirklich zuhören, rausbekommen, was den- oder diejenige interessiert – und wenn es schnelle Motorräder sind, um dann vielleicht doch mit einem Buch über schnelle Motorräder um die Ecke zu kommen.
Mit dem handverlesenen Buch, das überreicht wird, hört das Interesse der Literaturpädagogin aber nicht auf. Dazu kommen zunächst niedrigschwellige und oft auch soziokulturelle Angebote. Bücherfotos und die Arbeit mit Zitaten stehen oft am Beginn der Arbeit, dann können Jugendliche immer wieder auch als Journalist*innen und Autor*innen tätig werden. „So hatten wir letztens ein Projekt ‚Bücher öffnen Türen‘ und haben mit vielen Menschen Interviews darüber geführt, welche Perspektiven Bücher eröffnen und was sie bewirken können im Leben.“ Die Jugendlichen haben Mitarbeiter*innen von Pro Familia und einigen anderen sozialen Einrichtungen in Limburg zu dem Thema interviewt. „Ich wollte, dass sie diese Einrichtungen kennenlernen, wissen, was sie bieten, aber trotzdem in einer anderen Position vor Ort sind.“ Am Ende haben die Jugendlichen Wissen und Erfahrung gewonnen, sich als selbstwirksam erfahren und gemeinsam eine wunderschöne Wandzeitung geschaffen.
Die Workshoparbeit bietet ein Sprungbrett für die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen, Fragen, Hoffnungen und Ängsten. Im Frühjahr 2020 sind diese oft sehr existentiell. Ayan, Nikdad, und Jette stellen Fragen, die ihre unmittelbare Zukunft betreffen: Wie geht das weiter mit dem Virus? Wann kann ich meine Freund*innen wieder umarmen, Leute treffen, mich verlieben, tanzen gehen? Kann ich meinen Abschluss machen und wird es einen Ausbildungsplatz für mich geben? Und auch die großen Zukunftsfragen kommen auf den Tisch. „Wenn man länger zusammen ist“, erklärt Annie Vollmers, „kommt viel raus. Viele haben Angst vor der Zukunft, vor Krieg und Klimawandel, vor menschengemachten Problemen.“ Auch wenn Literatur-Workshops diese Probleme nicht lösen können, so geben sie Jugendlichen doch den Raum, Ängste auszusprechen, sich gemeinschaftlich damit auseinanderzusetzen, andere Menschen und ihre Wege zu sehen. Die gemeinsame kreative Arbeit und die Bücher, die die Welt größer machen, geben Halt, machen Mut und bringen gerade in krisengebeutelten Zeiten einfach auch ein bisschen Spaß!
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunft – jetzt utopisch gerecht No. 19, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 19-2020. Berlin. S. 19-22.