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Reflektierte Praktiker*innen und kulturpädagogische Anerkennung
Gastbeitrag Fachbeitrag

Reflektierte Praktiker*innen und kulturpädagogische Anerkennung

Zur Praxisreflexion von Fachkräften im Rahmen des Kompetenznachweis Kultur

veröffentlicht:

Für den Kompetenznachweis Kultur brauchen Fachkräfte einen stärkenorientierten Blick auf die Jugendlichen und die Fähigkeit, mit ihnen in den Dialog zu gehen. Wer Kompetenzberater*in wird, setzt sich mit der Wirkung der eigenen Praxis auseinander und reflektiert das eigene Handeln.

Von Prof. Dr. Tom Braun

Prof. Dr. Tom Braun, ehem. Geschäftsführer der BKJ, ist Professor für Kultur- und Medienpädagogik an der IU Internationale Hochschule und Mitglied im wissenschaftlichen Leitungsteam des IU Research Center „Kulturelle Bildung – Kulturen postdigitaler Subjektivität“.

Sich ein Bild machen, die eigenen Worte finden, neue Sichtweisen entwickeln, eigene Möglichkeiten und Potenziale entdecken, Kritik üben, selbstbestimmt handeln sowie gesellschaftlich Position beziehen können – all dies und noch viel mehr sollen Kinder und Jugendliche in Angeboten der Kulturellen Bildung erfahren und für ihr Leben lernen können. Diese Versprechungen sind nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil die Anforderungen an ihre Verwirklichung hoch sind.

Dies betrifft unter anderem strukturelle, soziale und politische Voraussetzungen, die über die Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Zugänglichkeit und Annehmbarkeit von kulturellen Bildungsangeboten entscheiden. Das hohe Anforderungsniveau bezieht sich aber auch auf die individuelle Erfahrungssituation von Kindern und Jugendlichen in kulturellen Angeboten – vor allem dann, wenn damit der Anspruch verbunden ist, dass Teilnehmer*innen ihr Handeln als selbstbestimmt, selbstwirksam und im Sinne sozialer und methodischer Fragen als kompetent erfahren sollen.

Praxisangebote in der Kulturellen Bildung stellen zu einem gewissem Grad immer organisierte und vorgeordnete Situationen dar. Räumliches und zeitliches Arrangement, die bereitgestellten bzw. verfügbaren ästhetisch-kulturellen Praktiken, Formen der Ansprache, Atmosphäre und ähnliches schaffen Sinnordnungen und bestimmen letztlich Möglichkeitsräume, innerhalb derer Kinder und Jugendliche ihre Selbstwirksamkeit erfahren können. Das bedeutet, dass jedes kulturpädagogische Angebot unausweichlich nur ausschnitthafte, auf die konkrete Situation bezogene Selbstwirksamkeitserfahrungen erschließt.

Werden nun kulturpädagogische Angebote mit dem ausdrücklichen Ziel verbunden, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu dokumentieren, ergibt sich aus der beschrieben Grundkonstellation Erfahrung von Selbstwirksamkeit in gestalteten Situationen eine Problematik der Anerkennung: Anerkennung bedeutet eine Bestimmung von Individuen als etwas. Thomas Bedorf betont, dass Anerkennung mehr ist, als „die zweistellige Relation x erkennt y an […] Vielmehr handelt es sich um eine dreistellige Relation, in der x y als z anerkennt“ (Bedorf 2010: 122).

Die begrenzten Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten der gestalteten Situation umgrenzen insofern zugleich die Möglichkeiten, als was Kinder und Jugendliche in ihr anerkannt werden können. Wird diese Partikularität nicht als solche reflektiert und der ausschnitthafte Eindruck für das Ganze gehalten, dann droht Anerkennung daher allzu leicht zur Verkennung von Kindern und Jugendlichen, ihrer Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen zu werden. Kulturpädagogische Fachkräfte, die sich für die Anerkennung von Kindern und Jugendlichen, ihrer Sichtweisen und Positionen engagieren wollen, müssen daher in der Lage sein, das ermöglichende und begrenzende Setting einer gestalteten Situation erkennen und beschreiben zu können.

Hinzu kommt die Anforderung, zu reflektieren, inwiefern ebenso ihre eigene Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen wesentlich von der Konzeption und Organisation des kulturellen Bildungsangebots bestimmt wird. Das heißt, eine Kulturpädagogik der Anerkennung muss den Blick nicht allein auf das Fühlen, Denken und Handeln von Kindern und Jugendlichen richten. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine professionelle Handlungskompetenz aus, die darin besteht, dass Praktiker*innen das eigene Handeln als ermöglichendes und begrenzendes, als anerkennendes und verkennendes in den Blick nehmen können.

Eine Kulturpädagogik der Anerkennung erschöpft sich deshalb nicht im didaktischen Konstellieren anregungsreicher ästhetisch-kultureller Erfahrungsräume. Stattdessen liegt ihr „Kernstück“ (Koller 2017: 13) in einer auf das eigene Handeln gerichteten kritischen Reflexionskompetenz. Diese zentrale Stellung der Praxisreflexion liegt nach Hans-Christoph Koller in der Fragilität der pädagogischen Handlungssituation. Pädagogische Fachkräfte können sich weder auf durchweg als allgemeingültig anerkannte Positionen zurückziehen („Umstrittenheit pädagogischen Wissens“, Koller 2017: 11), noch sind pädagogische Handlungen als bloße Anwendungen einfach von Situation zu Situation übertragbar („Einzigartigkeit der Situationen und der Menschen“, ebd.) oder gar für die Lösung in der Zukunft der Lernenden liegender Anforderung durchweg belastbar („Zukunftsbezug des pädagogischen Handelns“, ebd.: 12). Pädagogische Handlungskompetenz zeichnet sich also dadurch aus, das pädagogische „Agieren in sozialen Beziehungen“ (Egloff 2011: 213) entsprechend der sich verändernden Interaktionspartner*innen und situationalen Gegebenheiten fortwährend neu zu interpretieren und eigene Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten zu hinterfragen.

Ohne eine systematische Reflexion der Praxiskonstellation eines kulturellen Bildungsangebots können die Fachkräfte ihr soziales Handeln in der pädagogischen Praxis nicht als ein gestaltendes und intervenierendes entdecken oder die konzeptionellen Elemente ihres Angebots als Anforderungen reflektieren. Dies ist jedoch notwendig, wenn sie anerkennen möchten, dass und wie Kinder und Jugendliche sich in ihrer Weise auf die Spezifik der Situation einlassen.

Herausfordernd ist hierbei, dass das pädagogische Handeln in Situationen meist „standpunktbezogen“ (Giesecke 2015: 41), also in unmittelbarer Reaktion erfolgt. Es bedarf daher herausgehobener Phasen der Reflexion, die „eher systematisch, also unter Verzicht auf den Gesichtspunkt der unmittelbaren Brauchbarkeit“ erfolgen (ebd.). Der geforderte Verzicht auf unmittelbare Brauchbarkeit mag überraschen – Im Fokus dieses Vorschlags steht aber die „generalistische“ Kompetenz reflektierter Praktiker*innen (vgl. Friebertshäuser 2002:143; Egloff 2011: 213). Sie liegt in einem Fremdheitsinteresse der Praktiker*innen an den „Besonderheiten und Funktionsweisen“ (Egloff 2011: 213) ihres Praxisfelds.

Um das Funktionsgefüge der eigenen Praxis entdecken zu können, bedarf Reflexionskompetenz neben der Muße zur reflexiven Distanz wesentlich auch der Aneignung von Methoden der Praxisforschung, die es ermöglichen, die eigene Praxis wie ein „Feldforscher in einer ihm fremden Welt“ (ebd.) zu erkunden. Eben das ermöglicht die Systematik des Kompetenznachweis Kultur der BKJ. Er fokussiert nicht allein die Beschreibung und Analyse der Handlungen von Jugendlichen in kulturellen Bildungsangeboten, sondern stellt Praktiker*innen Methoden zur Verfügungen, anhand derer sie ihre eigene Praxis und die anderer in ihrer begrenzenden bzw. ermöglichenden Konzeptionen reflektieren können. Entscheidend ist, dass der Kompetenznachweis Kultur für Praktiker*innen mit der Aneignung von Analyseinstrumenten im Rahmen von herausgehobenen Fortbildungssituationen verbunden ist. Hier können sie ihr eigenes Feld auf dem Wege der Aneignung von Analyseinstrumenten als Reflexionsgegenstand jenseits des üblichen Zeitdrucks der Praxis entdecken und Professionalität entwickeln.

Der Kompetenznachweis Kultur ist ein von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) entwickeltes Verfahren, um individuelle Stärken junger Menschen zu erfassen und zu beschreiben, die sie während der aktiven Teilnahme an kulturpädaggischen Angeboten zeigen und entdecken. Er wird nur von Fachkräften vergeben, die an der dafür entwickelten Fortbildung teilgenommen haben. www.kompetenznachweiskultur.de

Literatur

Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Egloff, Birte (2011): Praxisreflexion. In: Jochen Kade (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer (Grundriss der Pädagogik, Erziehungswissenschaft, 5), S. 211–220.
Friebertshäuser, Barbara (2002): ErziehungswissenschaftlerInnen — die neuen Generalisten? In: Hans-Uwe Otto, Thomas Rauschenbach, Peter Vogel und Karin Bock (Hrsg.): Erziehungswissenschaft: Professionalität und Kompetenz. Opladen: Leske + Budrich (UTB für Wissenschaft Erziehungswissenschaft, 8194), S. 141–161.
Giesecke, Hermann (2015): Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns. 12., überarb. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Koller, Hans-Christoph (2017): Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. 8. aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.