Politischer Entscheidungszwang trifft kulturelle Freiheitsmomente
Im Gespräch mit Dr.in Helle Becker, Transfer für Bildung e. V.
Im Gespräch mit Dr.in Helle Becker, Transfer für Bildung e. V.
Dr.in Helle Becker ist Geschäftsführerin von Transfer für Bildung e. V. mit der Fachstelle politische Bildung. Sie ist außerdem Leiterin von Expertise & Kommunikation für Bildung sowie Lehrbeauftragte in Köln, Osnabrück und Hildesheim.
Bild: Schempershofe
Sie haben eine gemeinsame Ebene in einem grundsätzlichen Verständnis nonformaler Bildung, v. a. hinsichtlich der Prinzipien Freiwilligkeit, Partizipation, Mitgestaltung, Prozessorientierung und Offenheit.
In der Politik geht es um die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch konsensfähige, legitimierte, verbindliche Entscheidungen. Die politische Bildung zeigt dabei u. a., auf welchen Macht- und Herrschaftsverhältnissen solche Entscheidungen basieren können und wie man mit damit verbundenen Interessenskonflikten umgeht, um handeln zu können. Man denkt also quasi entscheidungs- oder lösungsorientiert. In der Kulturellen Bildung erfährt man im Prinzip das Gegenteil, nämlich dass sich Ambiguitäten, Widersprüche, Unvereinbarkeiten im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft tatsächlich nicht auflösen lassen, sondern immer wieder neu in die öffentliche Debatte gebracht werden müssen. Darin besteht ein Freiheitsmoment, indem man Ungelöstes darstellen und angucken kann, ohne unter dem Druck zu stehen, nach einem Kompromiss oder einem Konsens suchen zu müssen.
Politische Bildung thematisiert Möglichkeiten der Regelung öffentlicher Angelegenheiten. Kulturelle Bildung thematisiert die Freiheit, genau diese in Frage zu stellen und mit Konventionen, Regeln und Tabus zu brechen.
Dr.in Helle Becker
Man sollte zunächst formulieren, was jeweils mit kultureller und was mit politischer Bildung gemeint ist. Geht es, wenn von Kultureller Bildung die Rede ist, darum, kulturelle Bildungsprozesse anzuregen oder meint die Rede, dass Kunst oder künstlerische und kreative Methoden eingesetzt werden, um andere, z. B. politische, Bildungsprozesse zu ermöglichen, vielleicht auch typische Sekundäreffekte zur Anregung der Persönlichkeitsentwicklung? Letzteres könnte auch mit anderen Mitteln als Kunst und Kultur erreicht werden. Ich sehe es als das „Alleinstellungsmerkmal“ Kultureller Bildung, dass Menschen, ob groß oder klein, jung oder alt, lernen und den Raum erhalten, Kunst und Kultur zu verstehen und sich selbst darin auszudrücken. Bevor man also Schnittstellen erkennen kann, sollte erst einmal eine Auseinandersetzung stattfinden, wo es gemeinsame und wo unterschiedliche Perspektiven gibt.
Ich kann mir ein produktives Nacheinander oder Durcheinander von kultureller und politischer Bildung denken, aber bitte bewusst arrangiert und nicht, wie man es häufig beobachten kann, naiv behauptet. Die von mir so genannten zwei Seiten einer Medaille können immer wieder wechseln: Geht es darum, Ungelöstes, Ambiguitäten, Widersprüche erfahrbar zu machen und „stehenzulassen“ oder geht es darum zu reflektieren, wie eine Gesellschaft mit Widersprüchen umgehen kann? Für die beteiligten Kulturpädagog*innen und politischen Bildner*innen sollte das klar sein, um pädagogische Entscheidungen treffen zu können. Kinder und Jugendliche gehen mit den Erfahrungs- und Lernangeboten ohnehin selbstbestimmt um, sie finden mal das eine oder das andere für sich interessant.
Das hängt ganz stark von den strukturellen Bedingungen ab. In den letzten 20 Jahren ist die grundständige Finanzierung, die es Trägern und Akteur*innen ermöglichte, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Angebote ausgestalten, immer mehr einer Projektfinanzierung gewichen. Diese ist nicht nur zeitlich begrenzt und nicht nachhaltig, sondern auch extrem politisch gesteuert. In den vergangenen Jahren hatten wir eine Kulturelle-Bildungs-Konjunktur, jetzt kommt die Demokratie-stärken-Konjunktur. Wir sollten aber immer wieder den Mut haben, zu fragen: Wollen wir, dass unsere wirklich hervorragende Qualität, immer wieder dadurch gedeckelt wird, dass wir irgendwelche politischen Ziele einlösen sollen? Das ist alles nicht so einfach, denn die strukturellen Bedingungen können auch das Denken beherrschen. Je nachdem, wer gerade Oberwasser hat, oder um welche Art von Finanzierung es für eine Kooperation geht, ist die Augenhöhe möglich oder nicht. Rein fachlich warne ich vor jeder Art von Hierarchisierung: Beide Erfahrungs- und Bildungsräume sind gleich wichtig.
Alle Jugendarbeit, alle nonformale Bildung kann, wenn sie will, Demokratiefähigkeit fördern und sollte dies auch tun, weil wir in der nonformalen Bildung davon ausgehen, dass Selbsttätigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbildung die zentralen Momente sind und gleichzeitig die Angebote, anders als in der Schule, keine Standardziele vorgeben. Es geht um Prozesse der Auseinandersetzung, die frei und offen in ihren Ergebnissen sind – wichtige Erfahrungen, die demokratische Grundhaltungen stärken können. Je nachdem, welche Form der Kulturellen Bildung angeboten wird, kann man selbstverständlich auch demokratische Verfahren der Meinungsbildung und des Aushandelns einführen, dann kommen diese Erfahrungen hinzu. Geht es auch um die reflexive, kritische Befragung von Macht- und Herrschaftsinteressen und deren demokratische Regelung, sind wir mitten in der politischen Bildung.
Ganz einfach: Die politischen Themen der Kinder und Jugendlichen. Und davon wimmelt es nur so. Da gibt es politische Themen, die sind so politisch, dass sogar die Fachkräfte davor zurückschrecken: Was hat den Krieg in Syrien ausgelöst oder was rettet das Weltklima? Es gibt aber auch politische Themen, die man auf den ersten Blick nicht erkennt: „Warum hat der ein neueres Handy und ich habe nur so eine alte Möhre?“ Das lässt sich auf einer individuellen oder emotionalen Ebene aufgreifen. Oder man hinterfragt, was das für unser gesellschaftliches Zusammenleben bedeutet und welche Politik gerecht wäre.
Wir sollten Kindern und Jugendlichen vertrauen, wenn sie ihre Themen mitbringen und sie darin unterstützen, die politische Dimension ihrer Anliegen zu entdecken.
Dr.in Helle Becker
Sie sollten konsequent auf das hören, was die Kinder und Jugendlichen bewegt und ihnen die Möglichkeit geben, sich einzubringen und selbst zu bestimmen, was passiert. Das ist eine ganz wichtige Sache, weil man davon ausgehen kann, dass nie alle dasselbe wollen. Also muss es einen Aushandlungsprozess geben und somit sind die Träger auch schon auf der richtigen Spur.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunftsgestalter*innen. Mit Kunst und Kultur für die Gesellschaft aktiv. Arbeitshilfe. Berlin/Remscheid. S. 66-69.