Philharmonische Platte
Preisträgerprojekt „Stadtsound Prohlis“ im MIXED UP Wettbewerb 2021, Musaik – Grenzenlos musizieren e. V., Dresden
Preisträgerprojekt „Stadtsound Prohlis“ im MIXED UP Wettbewerb 2021, Musaik – Grenzenlos musizieren e. V., Dresden
Von Waldemar Kesler
Prohlis ist ein Stadtteil im Süden Dresdens, der durch große Plattenbausiedlungen auffällt. Statistisch gesehen werden hier vielen Menschen nur wenig Perspektiven geboten: Armut und Arbeitslosigkeit sind weit verbreitet, Kulturelle Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche sind kaum vorhanden. Hier hat sich der Verein „Musaik – Grenzenlos musizieren e.V.“ niedergelassen, um Kindern zwischen sechs und 14 Jahren Musik näherzubringen. Die kostenlose Instrumentalausbildung findet drei Mal wöchentlich am Nachmittag an Partnerschulen statt. Musaik hat eine Streicher- und eine Bläserabteilung, neuerdings ist eine Perkussionsgruppe hinzugekommen. Der Verein versteht sich aber nicht in erster Linie als Schule für Instrumentalausbildung. Einzelunterricht findet bei Musaik gar nicht statt, durch das Zusammenspiel in der Gruppe sollen die Kinder und Jugendlichen die Freude am gemeinsamen Musizieren entdecken und dabei ihre Persönlichkeit entwickeln: das einander Zuhören und aufeinander Eingehen, regelmäßiges Üben, Frustrationstoleranz und Beharrlichkeit. Ihnen soll auch eine Alternative zum Wettbewerbsdenken erschlossen werden, das zum Teil bei ihnen ausgeprägt ist. Im Orchesterverband lernen sie, dass sie nur gemeinsam ihr Ziel erreichen.
Das Projekt „Stadtsound Prohlis“ zeichnet sich durch eine ganz besondere Kooperation aus: Der Verein Musaik tat sich mit der aus Dresdener Musiker*innen und Geflüchteten bestehenden Brass-Band „Banda Comunale“ und der Dresdner Verkehrsbetriebe AG (DVB) zusammen. Die Wahl des Straßenbahndepots der DVB als Aufführungsort versinnbildlicht die Verbindung von Prohlis zum Dresdner Statdtzentrum und den anderen Stadteilen durch die Musik, da von dort Trams in alle Teile der Stadt fahren. Das Konzert rückte ins öffentliche Bewusstsein, wie wichtig Prohlis als Stadtteil für Dresden sein kann. Es rief dazu auf, die negativen Klischees hinter sich zu lassen und die Rufe nach einer „Aufwertung“ auszublenden, um zu hören, wie harmonisch der Stadtteil für diejenigen klingt, die darin leben. Das Programm bot abwechselnd arrangierte Stücke aus den Lieblingsliedern der Kinder und Jugendlichen und die vier Sätze dieser „Prohlis-Sinfonie“.
Die Musaik-Projektmanagerin Anne-Marie Zabel berichtet, dass die jungen Menschen Prohlis als ihre Heimat betrachten und sich damit identifizieren. „Also haben wir den Kindern gesagt: Niemand kennt euer Zuhause so wie Ihr, findet heraus, was für euch besonders und wichtig daran ist, und was Ihr anderen gerne zeigen würdet.“ Durch diese Aufgabe war gleichzeitig ihre Wahrnehmung und ihr Reflexionsvermögen gefordert. Sie mussten Prohlis bewusst mit ihrem Gehör erkunden und über die wahrgenommenen Laute nachdenken. Die Kinder sollten aber auch überlegen, wie Prohlis in ihren Wohnungen klingt. „Gerade im Sommer gleicht Prohlis einer Radiostation, weil in den Hochhaussiedlungen von allen Seiten her die Musik aus den einzelnen Wohnungen widerhallt. Deshalb haben wir die Kinder gebeten, uns ihre Lieblingssongs zu nennen, damit wir sie in unser Musikstück einbauen können“, erklärt Anne-Marie Zabel. Vier Gruppen sind in Begleitung von zwei Musikpädagog*innen von Musaik und einem Mitglied von Banda Comunale losspaziert und liefen jeweils eine eigene Route im Kiez ab. Mit Aufnahmegeräten zeichneten sie alles auf, was für sie typisch Prohlis war, das Läuten der Kirchenglocken und das Plätschern des Geberbaches genauso wie der Verkehrslärm und die quietschenden Klappen des Altkleidercontainers. Nachdem professionelle Komponist*innen die besten Geräusche ausgewählt hatten, lernten die Schüler*innen, wie sich Geräusche mit Musikinstrumenten imitieren lassen. Ihnen bot sich hier eine Gelegenheit, kreativ mit ihrem Instrumentenwissen umzugehen und zu überlegen, welches Instrument einen bestimmten Klang aus der Umgebung am besten wiedergibt. Dabei lernten sie auch, dass Musik immer eine Interpretation der Welt ist.
Die Kinder wurden bei den aufkommenden künstlerischen Fragen so viel wie möglich einbezogen. Um ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, worauf es beim Komponieren und Musizieren zu achten gilt, lernten sie bei Zoom-Workshops die Grundlagen der Rhythmik, Harmonie und Melodie kennen. Derweil wurden die etlichen Stunden an Tonmaterial zu Klangcollagen arrangiert, die die vier Sätze der Sinfonie einleiten sollten, die jeweils auf den Klangexpeditionen der Gruppen beruhten. Gerade für die Jüngsten war der bevorstehende Auftritt eine besondere Herausforderung, da sie während der Pandemie keinen Präsenzunterricht erhalten konnten. Sie hatten nicht, wie sonst üblich, sechs Monate Zeit, um die Grundlagen des Spiels mit dem Instrument zu erlernen. Nun blieben ihnen vor dem Auftritt nur knapp zwei Monate, sodass die Kinder buchstäblich ihren ersten Konzertauftritt hatten, sobald sie ihre Instrumente richtig halten konnten. Dass dieser Sprung ins kalte Wasser dennoch ein Erfolgserlebnis wurde, ist den Lehrer*innen von Musaik zu verdanken, ehrenamtlich mitwirkenden Musikpädagog*innen und Berufsmusiker*innen von der Sächsischen Staatskapelle und der Dresdner Philharmonie, die das Konzert mit den jungen Musikanfänger*innen gemeinsam bestritten. „Wenn diese Musiker*innen aus anderen Stadtteilen nach Prohlis kommen, bringen sie eine neue kulturelle Perspektive für die Schüler*innen mit. Wenn jemand aus der Philharmonie sie unterrichtet, dann ist es für sie kein unerreichbarer Ort mehr, sie rücken wieder näher an das Kulturleben der Stadt heran“, hat Anne-Marie Zabel beobachtet.
Für Fraser Russell, den Leiter der Bläserabteilung bei Musaik, war es ein Nachmittag, an dem ein Zusammenkommen bislang ungenutzte Potenziale aufdeckte:
So eine Begegnung setzt Energie frei. Die Freude der Kinder beim Musizieren steckt das Publikum an und gibt ihnen ein immenses Selbstwertgefühl. Sie merken, wie positiv sie durch das Musizieren auf andere wirken und das strahlt wiederum positiv auf sie selbst zurück, macht sie glücklich und bringt sie weiter. Und diese Energie wird weitergetragen, wenn unsere auftrittserfahrenen Schüler*innen im Peer-to-Peer-Teaching den Unerfahrenen helfen.
Fraser Russel
Das Musaik-Team denkt nun darüber nach, das Format in Stadtteile mit ähnlichen Strukturen zu exportieren. Dass sie diese Pläne aus Prohlis wegführen, ist Anne-Marie Zabel zufolge allerdings nicht zu befürchten: „Wir haben wie die Kinder hier unser Zuhause gefunden.“
„Stadtsound Prohlis“ ist Preisträger im MIXED UP Wettbewerb für kreative Kooperationsprojekte 2021 in der Kategorie „Kooperation: Zusammen geht mehr“.
Das sagt die Jury:
Im Projekt „Stadtsound Prohlis“ erkunden Kinder und Jugendliche die Geräusche ihres Dresdener Stadtteils und setzen ihre Eindrücke musikalisch in einer eigenen Sinfonie um. Sie mischen dabei ihre unterschiedlichen kulturelle Erfahrungen mit jenen neuen Entdeckungen, die sie gemeinsam machen. Grundlage für diese wichtige Arbeit im Sozialraum bildet eine ungewöhnliche Partnerschaft und ein außergewöhnlicher Konzertort. Ein Träger sozialer Musikprojekte, ein Botschafter für transkulturelle Begegnung und die örtlichen Verkehrsbetriebe als sozialräumliche Infrastruktur und Aufführungsort schaffen interdisziplinäre Strukturen zwischen Bildung, Kultur und kommunalen Partnern. Sie schaffen ein mitreißendes Projekt und geben jungen Menschen eine Plattform, um ihre musikalischen Inspirationen öffentlichkeitswirksam sichtbar zu machen und ermöglichen so kulturelle Begegnungen im öffentlichen Raum. Sie konnten die Jury überzeugen: Großes kann nur gemeinsam umgesetzt werden. Und dafür braucht es Kooperationsparter, die „out of the box“ denken und fachbereichsübergreifend zusammenarbeiten.