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Neue Resonanzräume erspielen – her mit dem guten Leben!
Aus der Praxis

Neue Resonanzräume erspielen – her mit dem guten Leben!

Projekt „Stop Ecocide – start good living“, Schultheater der Länder 2021/Bundesverband Theater in Schulen e. V.

veröffentlicht:
Foto: Dan Baron Cohen

Mitten im Corona-Lockdown: Wie können wir jetzt politisch aktiv sein? Wie können wir in Zukunft gut leben? Darüber kommen Jugendliche u. a. aus Deutschland, Brasilien und Russland im digital-performativen Raum und über die eigenen Grenzen hinaus ins Gespräch.

Der brasilianische Regenwald, die grüne Lunge der Erde, stößt derzeit durch Brandrodung mehr CO2 aus, als er aufnehmen kann. Welche Bedeutung hat das für globale Entwicklungen? Wie stehen Menschen, die in Brasilien leben und aufwachsen zum Thema Regenwald? Was eigentlich macht ein gutes Leben aus, bei dem Mensch und Natur miteinander eine Einheit bilden? Diese Fragen stehen am Anfang des Glokal-Community-Projekts „Stop Ecocide – start good living“, das lokal und global Verflechtungen von Umweltzerstörung, gesellschaftlichem Wandel, alternativen Lebenskonzepten und Teilhabe ästhetisch nachspürt. Der Prozess ist offen, spielerisch, forschend.

„Gemeinsam ein performatives Zeichen setzen.“

Tonio Kempf, Theaterlehrer und Projektinitiator von „Stop Ecocide – start good living“, lädt Dan Baron Cohen, Community-Theaterleiter und artseducator in Brasilien zu einer digitalen Begegnung mit seiner 8. Klasse der Hamburger Klosterschule ein: Dan Baron Cohen spielt auf seinem Urwald-Instrument und rezitiert eigene Gedichte über den Amazonas. So wird der Regenwald für die 14-jährigen Hamburger Jugendlichen klanglich und poetisch erfahrbar. Sie lauschen den Alltagsbeschreibungen aus Brasilien, hören Dan Baron Cohens eigenwilligen, live produzierten Sounderzeugnissen zu und kommen mit ihm ins Gespräch. 

Auch treffen die Schüler*innen im digitalen Raum mit der afroamazonischen Tänzerin Camylla Alves, die sich mit ihrer künstlerischen Arbeit für den Schutz des Regenwaldes einsetzt, zusammen. Sie präsentiert ihre Tanzperformances „Life-Source on Fire“ und „The Whale and the Dancer“ und spricht mit den Schüler*innen über das Gesehene. „Der Tanz war ein emotionaler Türöffner bei der Annäherung an die Themen Umweltschutz und gesellschaftliche Teilhabe. Durch die unmittelbare körperliche Präsenz im digitalen Raum wurde für die Schüler*innen Nähe in der Distanz intensiv erfahrbar. Ein Erlebnis, das die Jugendlichen sehr berührte und immer noch berührt“, so Tonio Kempf.

Die Schüler*innen selbst recherchieren zu verschiedenen Dimensionen der Umweltzerstörung im Amazonas und schreiben einen Brief an Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro, in dem sie ihn nach dem warum fragen. Gemeinsam mit Theaterlehrer Tonio Kempf begeben sie sich auf eine selbst erdachte sinnlich-performative Schiffsreise von Hamburg durch den digitalen Raum bis nach Marabá City in Brasilien. Hier stellen sie sich, begleitet von Dan Baron Cohen, einer Gruppe brasilianischer Jugendlicher vor: Als digitales Hintergrundbild erscheinen ihre Hamburger Lieblingsorte, mit denen sie die Vielfalt der Stadtteile ihres Heimatortes nachzeichnen. Die Jugendlichen funktionieren eine blaue Gardine zum Segeltuch um, in das sie ihre von der Schiffsbewegung ins Wanken geratenen Körper während eines Seesturms einwickeln. Mit dem rhythmischen Klopfen von Holzscheiten kreieren sie ihren Aufbruch-Sound, der zugleich den Takt der Schiffsreise, die akustische Kulisse des Sturms und für das Verlesen ihres Briefes an Jair Bolsonaro bildet.    

Was ist gutes Leben? 

Dan Baron Cohen, der mit den Jugendlichen einen ästhetisch-kreativen Austausch auf Augenhöhe sucht, steht in seiner künstlerisch-bildnerischen Arbeit der südamerikanischen Idee des „Buen Vivir“ nahe, die aus der indigenen Bevölkerung heraus entstanden ist. Der wertschätzende Umgang mit der Natur ist zentral, ebenso Kunst und Kultur als Erfahrungs- und Aushandlungsraum für dieses gute Leben. Mensch und Natur sind gleichermaßen gemeint, die Wiederherstellung eines unbedrohten großen Ganzen ist das Ziel. Was aber hat diese theoretische Idee mit der Alltagsrealität von Jugendlichen zu tun? Am Ende womöglich erstaunlich viel – die am Projekt Beteiligten jedenfalls formulieren, dass sie etwas tun wollen − und dies nicht nur für sich und vor der eigenen Haustür. Über Instagram stehen die Schüler*innen weiterhin in Kontakt, eine Einladung nach Brasilien an die Hamburger Gruppe wurde bereits ausgesprochen. 

Von Hamburg nach Ulm zum Schultheater der Länder 2021 

Szenenwechsel. Auch das erste digitale Schultheater der Länder 2021 (SDL) gestaltet Tonio Kempf mit. Er lädt Camylla Alves erneut ein, ihre Performances den teilnehmenden Theatergruppen aus u. a. St. Petersburg, Thüringen und Berlin zu präsentieren. Und nicht nur das: Im Voraus erhielten die Schüler*innen Videos der Tanzperformances und sollten darauf performativ reagieren. Entstanden sind drei digital-performative Sequenzen, in denen anhand fotografischer Assoziationen, videografischer Momentaufnahmen und mit Mitteln des szenischen Objekttheaters die Themenfelder Müll und Verpackung sowie Klima, Mensch, Tier und Natur ästhetisch bespielt und reflektiert werden. In St. Petersburg bestücken Schüler*innen eine Weltkugel mit kleinen Spielzeugfiguren: Menschen, Tiere, Pflanzen. Um diese dann mit roter Farbe zu übergießen. Und in Thüringen wird im Rahmen eines performativen Akts erst Müll auf einer saftig-grünen Wiese verteilt, dann wieder eingesammelt und durch eine klare Handlungsaufforderung ersetzt: Act now! Als sogenannte „Resonanz-Momente“ werden die ästhetisch-kreativen Annäherungen an Camylla Alves Performances dann im Zusammenspiel mit diesen beim SDL 2021 gezeigt. 

„Außerdem gab es einen Gesprächsraum im digitalen Ulmer Roxy zwischen Jugendlichen aus Russland, Baden-Württemberg und Berlin mit Dan Baron Cohen und Camylla Alves, in dem wir Fragen zu Umweltschutz, Demokratie, Zensur, Diktatur und sozialer Inklusion diskutierten. Das war sehr eindrücklich, auch welche inklusiven Perspektiven die sehr unterschiedlichen Schüler*innen einbrachten. Die Vorstellung, wofür global gestreikt werden soll, wird eine ganz andere, sobald Begegnung untereinander stattfindet“, beschreibt Tonio Kempf. 

Es ist mein Wunsch, in unseren Schulen solche Räume zu erschaffen. Über Theater in Schule in einen Dialog darüber zu kommen, was ein gutes Leben bedeuten könnte und dieses in Resonanzbeziehungen zu erspielen.

Tonio Kempf

Neue Resonanzräume – performativ, digital, transnational 

Mit ihren eigens erforschten künstlerischen Sprachen spüren die an „Stop Ecocide – start good living“ beteiligten Jugendlichen grundsätzlichen Fragen über das Miteinandersein von Mensch und Natur sinnlich nach. Sie entwerfen anhand ästhetischer Methoden alternative Zukunftsperspektiven, überwinden dabei geografische und andere Grenzen, erschaffen künstlerisch-diskursive Handlungsfelder. 

Und die Vision dieses Projekts ist eine starke: „Wir wollen Resonanzräume kreieren, in denen die Schüler*innen wirklich resonieren können und sagen: ‚Das ist uns wichtig! Lass uns so und so dafür eintreten.‘ Es ist mein Wunsch, in unseren Schulen solche Räume zu erschaffen. Über Theater in Schule in einen Dialog darüber zu kommen, was ein gutes Leben bedeuten könnte und dieses in Resonanzbeziehungen zu erspielen“, fasst Tonio Kempf zusammen, der auch Vorsitzender des Bundesverbands Theater in Schulen ist. 

Neben den interaktiv gestalteten Theater-, Film- und Tanzerfahrungen und dem entstandenen transkulturellen Austausch, den die Jugendlichen nun selbst fortführen, wird das Projekt auch strukturell weitergedacht. Kongresse, Tagungen und Fortbildungen zu „Glokal“ und „Transkulturalität“ für Theaterschullehrer*innen in Deutschland und darüber hinaus sind in Planung. Mitmachen erwünscht!

Text: Julia Opitz

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2022): Nachhaltigkeit – schaffen wir das, erschaffen wir was?, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 22-2022. Berlin. S. 66 – 69.