Ganzheitlichkeit, Inklusion oder kulturelle Vielfalt – Aspekte der Nachhaltigkeitsziele. Und Prinzipien der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit. Aber es gibt Spannungslinien zwischen beiden Bildungsbereichen, zwischen Gemeinwohl- und Subjektorientierung.
Von Prof.in Dr.in Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist Vorsitzende der BKJ. Im Hauptamt ist sie Geschäftsführender Vorstand Kunst- und Kulturvermittlung in Europa. Sie war zuvor Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Empirische Kulturforschung.
Foto: Uwe Schinkel
Vereinfacht gesagt: Geht es Kultureller Bildung um das Schaffen von individuellen Freiräumen zur Entwicklung eigener Haltungen, geht es bei BNE um eine Begrenzung egoistischer Interessen im Sinne einer Gemeinschaft.
Prof.in Dr.in Susanne Keuchel
Nachhaltigkeit gewinnt als gesellschaftliches Thema an Bedeutung. Doch was ist eigentlich Nachhaltigkeit? Und warum spielt Kultur weder in Debatten zur Nachhaltigkeit noch in der 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung eine exponierte Rolle? Die gleiche Frage stellt sich für Kulturelle Bildung bezogen auf das Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE), das die Umsetzung der verabschiedeten Agenda 2030 und der sogenannten 17 Sustainable Development Goals (SDGs) unterstützen soll. Denn obwohl die UNESCO (2014) betont, dass „keine Entwicklung […] ohne die Einbeziehung der Kultur nachhaltig sein“ kann, wird Kultur innerhalb von BNE in der Umsetzung nicht als zentrale Säule genannt − im Gegensatz zu Ökonomie, Ökologie und Soziales.
Nachhaltige Dimensionen der UN-Agenda
Der Begriff Nachhaltigkeit leitet sich aus der Forstwirtschaft ab: Es soll nicht mehr verbraucht werden, als jeweils nachwachsen und künftig wieder bereitgestellt werden kann. Innerhalb der UN-Agenda 2030 wird Nachhaltigkeit im Sinne des Brundtland-Berichtes der Vereinten Nationen von 1987 definiert: „[…] to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.”
Neben der Generationengerechtigkeit gilt als zentrales Ziel der UN-Agenda 2030 auch globale Gerechtigkeit. Die 17 Nachhaltigkeitsziele umkreisen dabei ein breites Spektrum von Fragen des Klima- und Umweltschutzes bis hin zu Fragen qualitativer Bildung, der Städteentwicklung, kommunaler Infrastruktur oder guter Arbeitsplätze.
Damit bildet die UN-Agenda 2030 und auch BNE letztlich die Grundlage für eine gesellschaftliche Transformation, weg von rein ökonomischen Erwägungen und persönlichem Wettbewerbsdenken hin zu nachhaltigem und gemeinwohlorientiertem Denken: Der Einzelne soll lernen, „die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen“ (BMBF o. J.).
Zur strukturellen Nachhaltigkeit von Kultureller Bildung
Ökonomisierung hat Kulturelle Bildung in den letzten Jahrzehnten in Deutschland stark beeinflusst(Keuchel 2017), bspw. durch zunehmende Output-Orientierung bezogen auf wirtschaftliche Verwertungsprinzipien in Form sogenannter Transfereffekte, die über Wirkungsstudien (Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013) ermittelt werden.
Vor allem aber hatte Ökonomisierung einen Einfluss auf Finanzierung und Strukturen in der Kulturellen Bildung. Die Corona-Pandemie machte jüngst diese Auswirkungen, wie in anderen Handlungsfeldern auch, sichtbar, konkret die zunehmende Fragilität der Strukturen. Der Ausbau der Kulturellen Bildung im Zuge des Ganztags oder der Teilhabegerechtigkeit vollzog sich nahezu ausschließlich über Projektfinanzierung, während die Infrastrukturförderung in den letzten Jahrzehnten weitgehend konstant blieb. Diese Infrastruktur ist zugleich vielfach an das Erwirtschaften von Drittmitteln gekoppelt, welche im Zuge notwendiger Tarifanpassungen von Gehältern ebenfalls einen immer höheren Anteil der Existenzsicherung ausmachen. Die Notwendigkeit des Erhebens von Teilnahmegebühren verstärkt angesichts einer zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft ungleiche Teilhabechancen. Dem wiederum wird versucht mittels zusätzlicher kostenfreier Bildungsprogramme, wie „Kultur macht stark“, entgegenzuwirken, die sozial benachteiligte junge Zielgruppen ansprechen. Diese projektfinanzierten Programme sind aber weder flächendeckend auf das Erreichen aller bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen noch auf nachhaltige Zugänge ausgerichtet.
Zur inhaltlichen Nachhaltigkeit von Kultureller Bildung
Kulturelle Bildung hat innerhalb der eigenen Leitprinzipien Nachhaltigkeitsziele verankert, wie Ganzheitlichkeit, Inklusion oder auch kulturelle Vielfalt. Gemeinsamkeiten zeigen sich v. a. im Kontext eines normativen und emanzipatorischen Bildungsanspruchs sowie nachhaltiger Prinzipien durch Prozessorientierung.
Für das Medium der Kulturellen Bildung, die Künste, können ebenfalls Bezüge zur Nachhaltigkeit hergestellt werden, etwa der sich in den Künsten widerspiegelnde Anspruch der Menschheit, etwas „Unsterbliches“ für die Nachwelt zu hinterlassen. Auch geht es den Künsten nicht primär um kurzweilige Unterhaltung. Im Wechselspiel der Verwendung von kulturellen Symbolen mit bewussten Brüchen, die die Zugänglichkeit durch Reibungen erschweren, bieten die Künste immer wieder neue Zugänge, also „mehrperspektivische“, letztlich nachhaltige Interpretationsmöglichkeiten.
Künste können daher kreativer Motor einer Gesellschaft sein und Transformationsprozesse unterstützen. Zugleich können die Künste selbst, bspw. im Bereich Architektur oder Modedesign, ökologisch nachhaltig gestaltet werden. Sie können kulturelle ökologische Identitäten und Narrative schaffen, wie etwa die Philologische Bibliothek in Berlin, das sogenannte „Berlin Brain“ – ein Bau, der Ästhetik mit Umweltbewusstsein verbindet.
Ebenfalls ergeben sich bezogen auf den Anspruch globaler Perspektiven zwischen BNE und Kultureller Bildung Gemeinsamkeiten: BNE „[…] responds to local specificities and respects cultural diversity“ (UNESCO 2014) und Kulturelle Bildung setzt sich für die Anerkennung kultureller Vielfalt ein, auch wenn sie bezogen auf das Einbinden globaler Perspektiven noch Entwicklungspotenzial hat. Nicht nur ist der inhaltliche und kulturgeschichtliche Kanon in Deutschland in der Fläche immer noch sehr westlich, europäisch und v. a. national geprägt (Keuchel 2015), auch die Mehrdimensionalität von Zugängen ist noch stark ausbaufähig, insbesondere bezogen auf kulturgeschichtliche Darstellung, wenn z. B. in Geschichtsbüchern von Kolumbus als Entdecker von Amerika gesprochen wird.
Eine Auseinandersetzung mit Themen der Nachhaltigkeit findet innerhalb der Kulturellen Bildung mit Ausnahmen, bspw. in der baukulturellen Bildung, zurzeit noch eher punktuell und zufällig statt. Dies könnte an einem Spannungsfeld zu sehr konkreten Zielen von BNE liegen, die im Widerspruch zum Anspruch Kultureller Bildung stehen können, Freiraum zu gewähren, subjekt- und prozessorientiert zu agieren.
Zu (produktiven) Spannungsfeldern …
Im Gegensatz zur Kulturellen Bildung verfolgt BNE klar definierte Handlungsziele und ist damit letztlich in ihrem emanzipatorischen Ansatz begrenzt. Zwar soll der Einzelne die Auswirkungen eigener Handlungen auf Dritte kritisch reflektieren, jedoch nicht die normativen Bildungsziele der UN-Agenda 2030 selbst kritisch hinterfragen. Dies steht einem offenen, nicht zielgerichteten Bildungsprozess gegenüber, der im Sinne des humanistischen Bildungsideals der Selbstbildung aber auch der Künste, dem Medium der Kulturellen Bildung, subjektorientiert ausgerichtet ist. So ist die Freiheit der Künste auch im Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3 verankert. Entsprechend gibt es innerhalb der Kulturellen Bildung Akteure, die aufgrund der möglichen Vereinnahmung von künstlerischer Praxis einer Kooperation mit BNE skeptisch gegenüberstehen.
Natürlich sollten künstlerische Mittel nicht dazu genutzt werden, normative Vorgaben oder eine ideologische Beeinflussung vorzunehmen, also zu Mülltrennung, Wassersparen oder Fair Trade zu „erziehen“. Kulturelle Bildung kann jedoch sehr wohl in einem offenen Prozess gesellschaftspolitische Themen aufgreifen, wenn eine Subjekt- und nicht eine Gemeinwohlorientierung im Vordergrund steht. Denn mit dem Medium der Künste kann der Einzelne eigene gesellschaftspolitische Haltungen entwickeln, lernen diese auszudrücken, eine Öffentlichkeit hierfür herzustellen und so selbstwirksam zu werden.
Und hier unterscheiden sich Kulturelle Bildung und BNE wesentlich voneinander: Konzentriert sich Kulturelle Bildung auf die Stärkung des Subjekts, setzt BNE auf die Stärkung einer gemeinwohlorientierten Perspektive. Vereinfacht gesagt: Geht es Kultureller Bildung um das Schaffen von individuellen Freiräumen zur Entwicklung eigener Haltungen, geht es bei BNE um eine Begrenzung egoistischer Interessen im Sinne einer Gemeinschaft.
Gerade diese Unterschiede können jedoch ertragreiche Synergien bilden – unter der Voraussetzung, dass die Eigenheiten beider Bildungsbereiche bestehen bleiben: Denn es bedarf letztlich immer beider Perspektiven, die der Subjekt- wie die der Gemeinwohlorientierung, die der prozess- wie die einer zielorientierten Perspektive, um Entwicklungen vorantreiben zu können.
Mit der Zielorientierung wird einem Ist-Stand ein Ziel, ein Soll-Stand, gegenübergestellt und daraus notwendige Schritte abgeleitet, wie das Ziel erreicht werden kann. Die Umweltbildung z. B. betrachtet das Wechselspiel von Mensch und Natur, um Existenzbedingungen zu ermitteln. Negative Veränderungen der Umwelt führen damit zwangsweise zu dem Schluss der Notwendigkeit einer Verhaltensveränderung. Das wiederum heißt, es gibt ein klar definiertes „falsches“ und damit auch ein richtiges Handeln, das jedoch möglicherweise weniger klar definiert ist.
Innerhalb der Künste gibt es weder „richtig“ oder „falsch“. Regelbrüche der Künste ermöglichen Perspektivwechsel und können so auch kreativer Motor für gesellschaftliche Entwicklung sein. Damit bergen Ergebnisoffenheit und Mehrperspektivität der Kulturellen Bildung die Chance, neue Lösungswege zu entdecken und so auch der Komplexität der SDGs Rechnung zu tragen, bspw. ökologische mit humanen und ökologischen Zielen in Einklang zu bringen. Kulturelle Bildung kann daher als offener Diskursraum fungieren, wie etwa im Zuge der Ausstellung „Willkommen im Antropozän“ des Deutschen Museums in München oder dem „UTOPIA TOOLBOX Container“, einem mobilen Ministerium für Zukunftsträume und Utopien, das sich „Anstiftung zur radikalen Kreativität“ zum Ziel setzte.
Da die Künste immer auch das Potenzial haben, als Korrektiv bestehende gesellschaftliche Verhältnisse kritisch zu hinterfragen, ist allerdings nicht auszuschließen, dass sich die Kunst am Ende einer erfolgreichen nachhaltigen Gesellschaftstransformation auch kritisch mit dieser nachhaltigen Gesellschaft auseinandersetzen wird, um neue Perspektivwechsel zu eröffnen.
Fazit: Zur Rolle von „Nachhaltigkeit“ in der Kulturellen Bildung
Nachhaltigkeit sollte innerhalb der Kulturellen Bildung auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle spielen: Zuallererst sollte sie sich selbst kritisch reflektieren im Zuge der eigenen Nachhaltigkeit. Damit ist nicht nur der nachhaltige ökologische Umgang mit Ressourcen innerhalb des eigenen Handlungsfelds gemeint, sondern v. a. der Blick auf die eigenen Strukturen im Sinne gerechter und nachhaltiger Zugänge für Kinder und Jugendliche. Müsste Kulturelle Bildung nicht flächendeckend allen kostenfrei und langzeitperspektivisch zur Verfügung stehen? Auch sollten beispielsweise globale Perspektiven innerhalb der kulturellen Bildungsarbeit angemessen Berücksichtigung finden.
Des Weiteren sollte sie Kinder und Jugendlichen Diskursräume zur Nachhaltigkeit für die Entwicklung eigener Haltungen eröffnen. Aktuell lösen Fragen zum Klimawandel bei jungen Menschen große Zukunftsängste und Hoffnungslosigkeit aus. Kulturelle Bildung kann hier als Gegengewicht stärkenorientierte offene kulturelle Diskursräume ermöglichen. In diesen können junge Menschen eigene Ideen für ihre Zukunft unter sozialen, ökologischen, ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten entwickeln und in Folge mit ihren Positionen proaktiv gesellschaftliche Transformation (mit)gestalten.
Literatur
BMBF − Bundesministerium für Bildung und Forschung (o. J.): Was ist BNE? In: BNE-Portal Kampagne. www.bne-portal.de/bne/de/einstieg/was-ist-bne/was-ist-bne.html [Zugriff: 10.12.2021].
Keuchel, Susanne (2015): Internationalität in der kulturellen Bildungspraxis. In: Keuchel. Susanne/Kelb, Viola (Hrsg.) (2015): Diversität in der Kulturellen Bildung. Bielefeld.
Keuchel, Susanne (2017): Ökonomisches Prinzip und globale Märkte – Zum Einfluss der Ökonomisierung auf (kulturelle) Bildung. In: Taube, Gerd/Fuchs, Max/Braun, Tom (Hrsg.) (2017): Handbuch das starke Subjekt. Schlüsselbegriffe in Theorie und Praxis. München: kopaed. S. 209−224.
UNESCO (Hrsg.) (2014): Unesco Roadmap for Implementing the Global Action Programme on Education for Sustainable Development. Paris. S. 33.
Winner, Ellen/Goldstein/Thalia R./Vincent-Lancrin, Stéphan (2013): Art for Art’s Sake?: The Impact of Arts Education. Educational Research and Innovation. OECD Publishing.
World Commission on Environment and Development/Brundtland-Kommission (Hrsg.) (1987): Our Common Future (Brundtland Report). Oxford: Oxford University Press. S. 16.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2022): Nachhaltigkeit – schaffen wir das, erschaffen wir was?, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 22-2022. Berlin. S. 34 – 37.