Mit ERNA spielt die Musik!
Tool „ERNA“, Musikschule Lahr
Tool „ERNA“, Musikschule Lahr
Von Kathrin Köller
Weshalb sie auch zunächst von manch einer Lehrkraft und Musikschul-Institution mit Angst und Argusaugen betrachtet wurde. Tobias Meinen, Leiter der Musikschule Lahr und einer der drei Väter ERNAs, weiß um die Bedenken, die es gegenüber Digitalität in der Musikschulwelt gibt. Und er stellt deswegen auch erst einmal klar, dass nichts über die Begegnung in der Musikschule und die Kernarbeit im Unterricht geht. Das gemeinsame Musizieren in Orchester oder Big Band bleibt weiterhin das Herz der öffentlichen Musikschulen. Doch machen seiner Erfahrung nach Einzelunterricht und Ensemblearbeit, wenn es hochkommt, zwei Stunden pro Woche aus. „Was ist mit der Zeit, in der die Musikschule nicht präsent besucht wird? Das ist ein Riesenloch, das wir mit ERNA füllen wollen. Und wir holen die Schüler*innen letztlich auch da ab, wo sie sind, nämlich ein Stück weit in ihrer digitalen Welt.“
Aber was dürfen wir uns darunter vorstellen? Schickt dann etwa auch noch die Musikschule Werbenachrichten? Auf gar keinen Fall, versichert Tobias Meinen. „ERNA ist ein werbefreier, geschützter Lernraum. Alles, was da drin steht, ist verlässlich gut, und es werden auch keine Daten gesammelt.“ Was ERNA bietet, ist z. B. eine individuelle Mediathek, in der sich die Violinistin Video-Tutorials zur richtigen Bogenhaltung oder ein Violinkonzert anschauen kann. Der Kollege an der Querflöte findet Korrepetitionswerke, d. h., eine Klavierbegleitung, mit der zusammen das eigene Üben gleich noch mal mehr Spaß macht und die an keiner Musikschule ausreichend zur Verfügung steht. Im Sinfonieorchester-Chat kann man nachfragen, wann das nächste Konzert stattfindet und mit den Anderen über die letzte Probenfahrt quatschen. Die Lehrerin kann den jungen Musiker*innen Aufgaben und Noten schicken, die anschließend selbstständig geübt und dann in den Ordner „Erledigt“ verschoben werden können. Wer möchte, kann sein Musizieren mitschneiden und die Aufnahme an die Lehrkraft schicken. Tobias Meinen erachtet gerade dieses bewusste Hören und sich auch selbst aufnehmen und wieder hören, als großen Qualitätsgewinn, mit dem die App die musikalische Kompetenz der Kinder und Jugendlichen unterstützt.
Wir holen die Schüler*innen letztlich da ab, wo sie sind, nämlich ein Stück weit in ihrer digitalen Welt.
Tobias Meinen
Im Pandemiejahr 2020 war ERNA zufällig in ihrer Beta-Phase und wurde gerade an 50 Musikschulen im gesamten Bundesgebiet getestet. In diesem eingeschränkten Jahr machte es für die Musiker*innen einen großen Unterschied, ob sie bereits mit ERNA unterwegs waren oder nicht. „Beim renommierten Jugend Musik-Wettbewerb waren die ERNA-Schüler*innen klar im Vorteil, weil sie 24/7 ihre Werke abrufen und üben und sich aufnehmen konnten“, berichtet der Musikschulleiter und Miterfinder der App. Dabei ist ihm wichtig zu betonen, dass die App nicht nur als Überbrückungstool in einer pandemischen Lage Sinn hat, sondern auch in postpandemischer Zeit das Musiklernen erweitern kann.
Im Bereich der populären Musik probiert die Musikschule Lahr inzwischen auch hybride Konzepte, in denen ERNA eine wichtige Rolle spielt. Alle, die mal als Schüler*in oder Elternteil Musikschulunterricht erlebt haben, kennen den Stress, wenn die Bahn nicht kommt, das Auto im Stau steckt oder man schlicht die Zeit vergessen hat und die eh schon kurz bemessene halbe Stunde Musikunterricht auf viel zu knappe 15 Minuten zusammenschnurrt. Dieses für alle Beteiligten unbefriedigende Modell wird in Lahr durch Gleitzeit ersetzt. „Die Schüler*innen kommen, wann sie wollen, sie bleiben, solange sie wollen und es sind immer Lehrkräfte da, die in einer Art Atelierarbeit mit ihnen arbeiten“, erläutert der Musikschulleiter. Zugrunde liegt dem Modellprojekt „GrooveLab“ ein Montessori-Konzept. In einer Art Gruppenunterricht treffen die Teilnehmer*innen flexibel ein und finden eine vorbereitete Umgebung mit verschiedenen Lernstationen vor, an denen sie auch mit iPads und digitalen Aufnahmemöglichkeiten arbeiten. Über ERNA wissen die Lehrkräfte, an welchem Stück die jeweiligen Schüler*innen gerade gearbeitet haben und womit sie weitermachen könnten. Weil der Zeitdruck wegfällt und die jungen Musiker*innen sich an den verschiedenen Stationen „abarbeiten“ können, steigt die Verweildauer in der Musikschule. Im Schnitt liegt sie jetzt bei zwei statt einer angefressenen halben Stunde.
Für Tobias Meinen ist das nicht nur quantitativ mehr Musikschule im Leben der Kinder und Jugendlichen, sondern auch qualitativ musikalische Bildung, die selbstbestimmter in den Händen der jungen Musiker*innen liegt. Durch die musikalischen Angebote auf der App können die Schüler*innen umfassender in die Welt ihres Instrumentes eintauchen. Es gibt das musikalische Angebot, das sie von der Lehrkraft mitbekommen, aber es gibt darüber hinaus auch noch viel mehr. Momentan laufen Verhandlungen, die „arte concerts“ über die App nicht nur zugänglich zu machen, sondern den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, ein Teil dieses Geschehens zu werden. Wie wäre es, wenn sie in jede Stimme hineinhören und über Mikrofon und Blick zur Dirigentin selbst am Konzert teilhaben könnten? „ERNA möchte den Blick weiten und den Schüler*innen mehr Freiheit, aber auch mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen geben.“
Der engagierte Musikschulleiter traut übrigens nicht nur den Schüler*innen, sondern auch den Lehrkräften einiges zu. Schließlich sind sie an der musikalischen Förderung junger Menschen und verbesserten kommunikativen und technischen Möglichkeiten der Gehörbildung interessiert. Außerdem leben sie ebenfalls in einer Welt, in der sie tagtäglich digitale Tools benutzen. Damit die Entwicklung digitaler Medien für den Musikunterricht funktioniert, müssen nach Tobias Meinen zwei Bedingungen erfüllt sein: 1. An erster Stelle steht das pädagogische Konzept, die Technik hat eine dienende Funktion. 2. Die digitalen Medien müssen ohne Fortbildung intuitiv zu verstehen sein. Die Entwickler*innen von ERNA haben sich dies zu Herzen genommen. In den nächsten Jahren soll ERNA auch über Deutschland hinaus und vielleicht sogar, so Tobias Meinen, in Hochschulen zum Einsatz kommen.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 66-69.
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