Mehr als „nicht krank sein“: Mentale Gesundheit von Jugendlichen verstehen und stärken
Deutsches Jugendinstitut
Deutsches Jugendinstitut
Dr.in Lisa Hasenbein leitet die Fachgruppe „Lebenslagen und Lebensführung Jugendlicher“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI). In ihrer Forschung beschäftigt sich die Psychologin unter anderem mit der Vielfalt jugendlicher Lebenslagen sowie Belastungs- und Resilienzfaktoren für gesundes Aufwachsen.
Foto: Fabian Vogl
Die mentale Gesundheit von Jugendlichen hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erhalten – nicht zuletzt aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen und der Auswirkungen der Corona-Pandemie.
Bevor wir uns dem Thema der mentalen Gesundheit von Jugendlichen widmen, gilt es eine Sache festzuhalten, die auch der 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung zuletzt wieder hervorgehoben hat: „Die heutige junge Generation ist die diverseste, die es je gab“ (BMFSFJ 2024). Anders gesagt: ‚Die‘ Jugend gibt es nicht und es bedarf einer differenzierten Sichtweise auf die vielfältigen Lebenswelten junger Menschen. Uns begegnen in der öffentlichen Diskussion oft sogenannte Generationenlabels wie etwa „Generation Corona“, um die junge Generation zu beschreiben.
Ausgehend von einer gemeinsamen gesellschaftlich-politischen Erfahrung (in diesem Fall die Corona-Pandemie) wird dabei verallgemeinernd davon ausgegangen, dass junge Menschen alle ähnlich auf diese gesellschaftliche Situation reagieren und es zu einer (vermeintlich) generationentypischen Bewältigung und Prägung im Jugendalter kommt. Die dahinterliegenden Annahmen über jugendliche Lebenswelten sind nicht grundlegend falsch, jedoch sehr vereinfachend – sie missachten die Unterschiede innerhalb einer bei weitem nicht homogenen Gruppe von jungen Menschen (vgl. AGJ 2023; Schröder 2018). Wie junge Menschen aufwachsen – und damit auch aktuelle Krisen bewältigen – ist stark durch etwa ihre soziale Herkunft, geschlechtliche und andere Zugehörigkeiten, regionale Unterschiede und weitere Faktoren geprägt.
Dabei haben alle jungen Menschen das Recht auf ein gesundes Aufwachsen, das sogenannte Recht „auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ (UN-Kinderrechtskonvention Art. 24).
Wenn von Gesundheit die Rede ist, orientiert sich die UN-Kinderrechtskonvention an der Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO. Diese versteht unter Gesundheit den „Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein die bloße Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 1946). Es wird also deutlich, dass Gesundheit mehr ist als „nicht krank sein“. Insbesondere das genannte geistige und soziale Wohlbefinden (oft auch: Well-being) geht weit darüber hinaus: Es umfasst vielschichtige Aspekte wie etwa Selbstwert, Lebenszufriedenheit und Resilienz und verdeutlicht die enge Verknüpfung mit der Entwicklung und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen (Röhrle 2023).
An der Definition wird damit auch deutlich: Gesundheit und Krankheit sind nicht einfach zwei gegensätzliche Pole, wobei sich (junge) Menschen entweder dem einen oder anderen zuordnen. Vielmehr handelt es sich um ein Kontinuum zwischen „gesund“ und „krank“, wobei eine einzige Beeinträchtigung oder Erkrankung nicht immer zu einem generalisierten Unwohlsein führen muss (vgl. Hasenbein/Seckinger 2024).
Deutlich wird das zum Beispiel daran, dass eine deutliche Mehrheit der 12- bis 17-Jährigen (82 Prozent) ihren eigenen Gesundheitszustand als (sehr) gut bezeichnet und nur ein Prozent in dieser Altersgruppe von sich selbst sagt, dass der eigene Gesundheitszustand (sehr) schlecht sei. So zeigt es sich in den aktuellen Daten des Surveys „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (DJI 2024), der regelmäßig junge Menschen zu ihrer aktuellen Lebenslage befragt. Verglichen mit Ergebnissen anderer wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die allein schon bei psychischen Erkrankungen von einem 10- bis 20-prozentigen Anteil an betroffenen jungen Menschen ausgehen (vgl. Kaman et al. 2024) oder gar noch höhere Werte nennen, zeigt sich hier ein erheblicher Unterschied zu der subjektiven Bewertung des eigenen Gesundheitszustandes.
Das liegt zum einen an der bereits angesprochenen Unschärfe der Kategorien „gesund“ und „krank“. Zum anderen ist gerade bei jungen Menschen, die in einem unterstützenden Umfeld aufwachsen, davon auszugehen, dass auf die Bedürfnisse der Jugendlichen besondere Rücksicht genommen und sich daran angepasst wird, was die wahrgenommenen Einschränkungen und Belastungen seitens der jungen Menschen abschwächt.
Das Jugendalter bringt mit der Entwicklung der eigenen Identität und Eigenständigkeit vielfältige Anforderungen mit sich und ist dadurch grundsätzlich immer auch von inneren Konflikten und Krisen geprägt (Erikson 1972). Während der Krisenbegriff bisweilen sehr negativ aufgeladen ist, gehören persönliche Krisen aus entwicklungspsychologischer Sicht zu einem gewissen Grad zum Aufwachsen dazu: Sie stellen Wendepunkte dar, die sowohl negative als auch – im Fall der erfolgreichen Bewältigung – positive Auswirkungen auf den individuellen Lebensverlauf haben können (Hobbs 1984). Für junge Menschen betrifft dies sowohl den Umgang mit ihren persönlichen („alterstypischen“) Herausforderungen als auch den Umgang mit globalen gesellschaftlichen Krisen (vgl. Kaman et al. 2024).
Eingangs haben wir bereits festgehalten: Die junge Generation ist vielfältig. So sind es auch die Fähigkeiten und Ressourcen junger Menschen, die es ihnen ermöglichen Krisen erfolgreich zu bewältigen – das heißt, gesund aufzuwachsen. Forschungsbefunde zeigen, dass insbesondere die Anhäufung von widrigen Lebensereignissen und -bedingungen in jungen Jahren zu Stress und Überforderung führen kann und auch langfristig das Risiko für Einschränkungen der psychischen wie auch körperlichen Gesundheit erhöht (Werner et al. 2023; Zohsel et al. 2017).
Schulische und außerschulische Bildungsangebote, die etwa Problemlöse- und Selbstregulationsfähigkeiten sowie Selbstwirksamkeit fördern, stärken nicht nur die individuellen Ressourcen junger Menschen, sondern auch ihre soziale Eingebundenheit.
Dr.in Lisa Hasenbein, Jugendforscherin
Dabei spielen einzelne kritische Lebensereignisse genauso eine Rolle wie wiederholt auftretende alltägliche Anforderungen, mit denen Jugendliche sich konfrontiert sehen. Daraus resultierender Stress und Überforderung werden für junge Menschen umso mehr zur psychischen Belastung, wenn es ihnen an den notwendigen Erfahrungen und Ressourcen zur Bewältigung fehlt. Ein besonderes Risiko besteht damit etwa für junge Menschen, die in Armut aufwachsen. Finanzielle Engpässe überschatten häufig das Familienklima und gehen mit eingeschränkten Handlungsspielräumen einher (Berngruber /Hasenbein 2024). Auch Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte oder Behinderung sowie junge LSBTIQ+ sind besonders gefährdet. Diese jungen Menschen berichten häufig von negativen Gefühlen der Andersartigkeit, Ausgrenzungserfahrungen und Einsamkeit (Berngruber/Hasenbein/Steiner 2024).
Eine ambivalente Rolle nehmen an dieser Stelle digitale und besonders soziale Medien ein. Sie sind fester Bestandteil des Lebens junger Menschen und bieten mit Blick auf ein gesundes Aufwachsen sowohl Chancen als auch Gefahren. Bei einem Teil der Jugendlichen zeigt sich ein Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen und (intensiver) Nutzung digitaler Medien (Kaman et al. 2024). Zugleich weisen Studien auch auf die Potenziale hin, die junge Menschen in der digitalen Welt für sich nutzen: So ermöglichen digitale Räume etwa insbesondere für junge LSBTIQ+ die Erschließung neuer Freiräume und sozialer Kontakte, die ihnen in der analogen Welt teils schmerzlich fehlen (vgl. Gavranic/Stemmer 2024).
Die Digitalisierung und die Corona-Pandemie haben neue Herausforderungen für ein gesundes Aufwachsen junger Menschen geschaffen, gleichzeitig aber auch neue Wege aufgezeigt. Was in Zeiten von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen etwa besonders deutlich wurde, ist in der Resilienzforschung keine Neuigkeit: Stabile, wertschätzende soziale Beziehungen sind ein zentraler Schutzfaktor für psychisches Wohlbefinden (Rönnau-Böse/Fröhlich-Gildhoff 2023). Nicht ohne Grund hat das Erleben von Einsamkeit, insbesondere wenn es länger andauert, schwerwiegende Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit. Das deutet sich auch in den oben erwähnten Daten des DJI-Surveys AID:A an: Unter denjenigen Jugendlichen, die von häufigen Einsamkeitsgefühlen berichten, bewertet nur etwa die Hälfte ihren eigenen Gesundheitszustand als (sehr) gut (im Vergleich: unter denjenigen, die sich seltener einsam fühlen, sind es über 80 Prozent).
Um die mentale Gesundheit von Jugendlichen zu stärken, sind diversitätssensible und zielgruppengerechte Ansätze notwendig, die sowohl präventiv als auch intervenierend wirken. Damit auch benachteiligte junge Menschen Zugang dazu haben, braucht es niedrigschwellige, mit anderen Angeboten im Sozialraum vernetzte Programme.
Dr.in Lisa Hasenbein, Jugendforscherin
Jugendliche profitieren von einem Umfeld, das Sicherheit vermittelt, ihre Fähigkeiten wertschätzt und soziale Eingebundenheit fördert. Zum einen geschieht das in Freundschaftsbeziehungen zu Gleichaltrigen, die eine wichtige Rolle spielen für die Identitätsentwicklung und die Bewältigung der Herausforderungen des Jugendalters (Grunert 2022). Zum anderen sind – und bleiben trotz aller Abnabelungsprozesse in diesem Alter – Erwachsene wichtige Bezugspersonen. Stabilen Familienbeziehungen kommt dabei eine wichtige Rolle zu, wobei junge Menschen, insbesondere im Falle familiärer Konflikte, auch auf die Unterstützung weiterer Personen aus dem sozialen Nahumfeld angewiesen sind.
Um die mentale Gesundheit von Jugendlichen zu stärken, sind diversitätssensible und zielgruppengerechte Ansätze notwendig, die sowohl präventiv als auch intervenierend wirken. Damit auch benachteiligte junge Menschen Zugang dazu haben, braucht es niedrigschwellige, mit anderen Angeboten im Sozialraum vernetzte Programme. Dazu müssen Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenarbeiten und für psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen sensibilisiert werden, um frühzeitig und gezielt darauf eingehen zu können (vgl. Hasenbein/Seckinger 2024; Leopoldina 2021).
Junge Menschen brauchen (Frei-)Räume, um sich ihrer persönlichen Ressourcen bewusst zu werden und sie weiterzuentwickeln. Schulische und außerschulische Bildungsangebote, die etwa Problemlöse- und Selbstregulationsfähigkeiten sowie Selbstwirksamkeit fördern, stärken nicht nur die individuellen Ressourcen junger Menschen, sondern auch ihre soziale Eingebundenheit. Sie stellen damit einen wichtigen Baustein für ein gesundes Aufwachsen und die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen dar und tragen dazu bei, dass (mehr) junge Menschen gestärkt in die Zukunft blicken können.