Mehrheitsgesellschaftliches Staunen und versteckter Rassismus
Im Gespräch mit Susanne Bücken, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Im Gespräch mit Susanne Bücken, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Susanne Bücken ist Lehrbeauftragte an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und in der politischen und kulturellen Bildungsarbeit tätig. Sie promoviert zum Thema „Kulturelle Bildung als politischer Diskurs“.
Es ist bedeutsam, dass Bildungsarbeiter*innen und Künstler*innen sich damit auseinandersetzen, inwiefern sie selbst in Diskriminierungs- und Machtverhältnisse eingebunden sind, welche Position sie in diesen Verhältnissen einnehmen und welche dominanzkulturellen Vorstellungen bzw. Stereotype sie möglicherweise in ihrer Tätigkeit reproduzieren oder bestätigen. Dann ist es grundsätzlich wichtig mitzudenken, dass Kinder und Jugendliche alltägliche Diskriminierungserfahrungen machen – sei es z. B. aufgrund ihrer Geschlechtlichkeit, ihrer Religion, ihres Körpers oder aufgrund der vorherrschenden „weißen“ Norm. Es ist wesentlich, dass sich die Akteur*innen in der Kinder- und Jugendarbeit diese Perspektivität zu eigen machen wollen und eine Sensibilität dafür entwickeln, gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre Wirkungen wahrzunehmen. Hierzu gehören auch die Sorgen von Kindern vor Abschiebung durch das herrschende Asylregime. An diese Reflexionen können sich Fragen dazu anknüpfen, welche pädagogischen Voraussetzungen es braucht, um über Differenz- und Diskriminierungserfahrungen zu sprechen und Empowerment und tatsächliche Partizipation zu ermöglichen.
Die Förderanträge stammen aus dem Bundesprogramm „Kultur macht stark“ bzw. „Kultur macht stark plus“. Es geht hierbei um die Förderung von kulturellen Bildungsangeboten, die lokale Bündnispartner aus z. B. Kultureinrichtungen und sozialräumlich verankerten Trägern für sogenannte bildungsbenachteiligte Kinder zwischen 3 und 18 Jahren oder eben für junge geflüchtete Erwachsene bis 26 Jahren beantragt haben.
Die in den Anträgen adressierten Zielgruppen wurden zuallermeist als defizitär konstruiert. Deutlich wurde, dass geflüchteten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien – dies betrifft ebenso Roma und Sinti – in besonderer Weise ein Mangel an Kultur und Bildung, an Werten und Demokratiefähigkeit unterstellt wird. Zugleich haben wir Ausprägungen von sekundärer Diskriminierung bzw. eines sekundären Rassismus festgestellt, da in nahezu keiner Weise thematisiert wird, dass Bildungsbenachteiligungen ebenso durch Erfahrungen von Rassismus, durch Erfahrungen mit sexistischer Diskriminierung und über Erfahrungen von Klassismus und strukturell ungleich verteilten Zugängen zu gesellschaftlichen Gütern und Ressourcen entstehen. Auffallend war in dem untersuchten Antragsdiskurs die Dichte an stereotypisierenden Aussagen und das vorherrschende kulturalisierende Othering. Als Ergebnis wurde insgesamt deutlich, dass bestehende Klassenverhältnisse fixiert werden, Inklusion nicht mitgedacht wird und Geschlechterverhältnisse fast ausschließlich heteronorm angenommen werden. Wir haben die rassifizierte Denkfigur des „mehrheitsgesellschaftlichen Staunen“ analysiert und meinen damit Sprechweisen, die sich verwundert darüber zeigen, dass Refugees ähnliche Interessen und Fähigkeiten haben, wie das „deutsche Wir“.
Diese eurozentristischen Denkfiguren und die einseitige Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen entlang einer zugeschriebenen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit anhand derer festgemacht wird, wer sie sind und wer sie nicht sind, waren für das Forschungsteam wirklich erschreckend.
Susanne Bücken
Wir hätten Offenheit und symbolisch grenzüberschreitende Ideen zur Ermöglichung und Umsetzung von Vielsprachigkeit und migrationsgesellschaftlichen Lernprozessen erwartet. Stattdessen wird Lernen als einseitiger Prozess behandelt, in dem sich die vermeintlich bildungsfernen, kulturfremden Kinder und Jugendlichen deutsche Alltagkultur und eine überlegen gedachte deutsche ästhetische Praxis aneignen sollen. Gerade im Kontext von Flucht und Asyl hatten wir gehofft, im Diskurs der Kulturellen Bildung einen Ausdruck politischer und solidarischer Haltung zu erkennen.
Wir haben wenige solcher Anträge gelesen, in denen benannt wurde, dass Kinder und Jugendliche sich in Wohnsituationen befinden, die zu Isolation und emotionalem Stress führen bzw. dass Kinder und Jugendliche Vorurteile, Ausgrenzung und Rassismus erfahren. Diese kulturellen Bildungsangebote wollten dazu beitragen, einen geschützten oder empowernden Raum zu schaffen. Ein anderes Projekt nannte als Zielsetzung, den Sozialraum für Themen wie Alltagsrassismus und Rechtsextremismus zu sensibilisieren und Solidarität und Wärme im Umfeld einer Flüchtlingsunterkunft herzustellen. Positiv haben wir auch Anträge wahrgenommen, die Menschen mit Fluchterfahrung als heterogene Gruppe gedeutet haben, die es erst einmal kennenzulernen gilt. Aber diese Anträge waren tatsächlich die Ausnahme.
Insbesondere würde ich den Trägern, wie auch Bildungsinstitutionen, empfehlen, sich einer fortwährenden selbstbefragenden Analyse und Kritik zu unterziehen: Wer arbeitet hier? Wer von uns hat feste Stellen? Bildet sich in der eigenen Institution gesellschaftliche Differenz ab? Haben nicht-dominanzkulturell positionierte Personen strukturelle Entscheidungsmacht oder füllen diese eher eine „Alibirolle“ aus, die das dominante System letztlich bestätigt? Wichtig ist, dass diese Reflexionen mit dem Interesse verbunden sind, Veränderungen innerhalb und außerhalb der Institution zu bewirken. Mit dieser Bewegung werden immer auch Entprivilegierungsprozesse in Bezug auf fachliche Deutungshoheit und normalisierte Wissensbestände einhergehen.
Auf Ebene der Förderanträge wünsche ich sehr, dass die Akteur*innen der Kulturellen Bildung eine machtkritische Perspektive einnehmen und auch konzeptionell deutlich machen, dass Diskriminierungserfahrungen ebenso Bildungsbenachteiligungen sind.
Susanne Bücken
Unsere Hypothese ist es, dass Anträge, die zu Rassismus oder Diskriminierung sprechen, durchaus bewilligt würden. Auf der politischen Ebene der Förderprogramme wäre es notwendig, die Grundannahmen der eigenen Förderpraxis auf den Prüfstand zu stellen, ggf. Antidiskriminierungsklauseln zu entwickeln und das Förderprogramm diskriminierungskritisch zu evaluieren. Produktiv finde ich für diese Veränderungsprozesse, Verunsicherungen zuzulassen und Widersprüche aushalten zu können sowie als Träger offen zu sein gegenüber unerprobten Spiel-, Handlungs- und Entwicklungsräumen, die möglicherweise auch mal „scheitern“.
Das ist eine zentrale Frage, auf die ich für mein Denken und Handeln reflektiere. Aktuell habe ich entschieden, verstärkt außerhalb der Hochschule zu arbeiten, da es für mich zunehmend schwierig wurde, mit den beharrlichen Strukturen der „weiß“ und dominanzkulturell geprägten Hochschule umzugehen. Auch habe ich gezögert, dieses Interview als „weiße“ Person alleine zu führen. Ich habe mich dazu entschieden, um die Ergebnisse unserer Forschung hier vorzustellen und damit machtkritische Veränderungsimpulse geben zu können. Und ich gehe zuversichtlich davon aus, dass in der Arbeitshilfe ebenfalls Expert*innen of Color zu Wort kommen.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunftsgestalter*innen. Mit Kunst und Kultur für die Gesellschaft aktiv. Arbeitshilfe. Berlin/Remscheid. S. 43-46.