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Manege frei für Partizipation
Aus der Praxis

Manege frei für Partizipation

NAUMZI – Der Natur- und Umweltzirkus, Dreiskau-Muckern

veröffentlicht:
Bild: Hannah Eymann

Im sächsischen Natur- und Umweltzirkus bilden Kinder und Jugendliche nicht nur ihre artistischen Fähigkeiten aus. Sie entdecken, welche Entwicklungsmöglichkeiten ihnen gesellschaftliche Beteiligung bietet.

Von Waldemar Kesler

Copyright: Bild: Hannah Eymann
Copyright: Bild: Hannah Eymann
Copyright: Bild: Hannah Eymann
Bild: Hannah Eymann

NAUMZI entstand 2018, nachdem Frank Beutners Tochter in einem Leipziger Zirkus mit dem Vertikaltuchtraining angefangen hatte. Da der Zirkus 30 Kilometer von ihrem Heimatdorf Dreiskau Muckern entfernt war und das Training der Tochter so gut gefiel, dass sie auch ihre Freund*innen dafür begeistern wollte, holte eine Elterninitiative schlussendlich ein ganzes Zirkusprojekt nach Dreiskau Muckern. Um Fördermittel beantragen zu können, musste das Projekt einen regional relevanten Rahmen erhalten. Da der Ort in einem ehemaligen Braunkohleabbaugebiet liegt, war ein übergeordnetes Thema schnell gefunden: Das Modellprojekt „So ein Zirkus um die Kohle“ entstand, das vom ortsansässigen Verein UferLeben Störmthaler See, dem Leipziger Zirkusverein Zirkomania und der Ökologischen Station Borna Birkenhain getragen wurde. Naturwissenschaftler*innen, Umwelt  und Zirkuspädagog*innen erarbeiteten gemeinsam ein Konzept zur praktischen Verknüpfung von natur  und umweltpädagogischen Inhalten mit zirkuspädagogischen Methoden.

In den Workshops geht es oft darum, wie wir miteinander umgehen wollen. Wenn es dann zu Streitereien kam, konnten wir die Kinder darauf hinweisen, was sie selbst am Anfang der Woche festgelegt haben. Zirkus vermittelt eben auch andere Dinge neben dem körperlichen Können.

Stephanie Lehman

Umwelt durch den Körper verstehen

Durch einen spielerischen Zugang lernten die 5- bis 16-Jährigen zwei Ferienwochen lang, sich in den Disziplinen Jonglage, Balance, Luftakrobatik, HulaHoop/LeviStick, Clownerie, Kung-Fu und Zauberei selbstständig mit Umweltthemen auseinanderzusetzen. Bei Nachtwanderungen und Exkursionen in einen aktiven Tagebau und in ein Renaturierungsgebiet konnten sie Einblicke in die Auswirkungen des Braunkohlebergbaus in ihrer Heimat erhalten. In umweltpädagogischen Workshops haben sie z. B. erfahren, wie ein Kraftwerk funktioniert, angefangen beim Förderband, auf dem die Kohle hereinkommt, bis zum Strom, der daraus gewonnen wird. Im Anschluss haben die Kinder mit ihrem neuen Wissen eine Zirkusnummer kreiert, bei der sie die einzelnen Elemente des Kraftwerkes pantomimisch darstellten. Das Thema „Systemgrenzen“ wurde für sie durch ihre Erfahrungen mit dem Jonglieren greifbar. Frank Beutner erklärt: „Innerhalb einer Woche können sie lernen, mit drei Bällen zu jonglieren. Dabei merken sie, wie viel Anstrengung allein dazu nötig ist. Und je mehr Bälle es sind, desto größer ist die Herausforderung. Irgendwo ist also den Koordinationsfähigkeiten des Körpers eine Grenze gesetzt und durch solch einfache Mittel lernen die Kinder, dass es Grenzen des Machbaren gibt, dass alles an Grenzen gerät, sei es in einem persönlichen Maßstab oder in einem globalen.“

Die Workshops weckten bei Kindern und Jugendlichen Interesse, sich intensiver mit den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten von Umweltthemen zu beschäftigen. Einige NAUMZI-Teilnehmer*innen fingen an, in Leipzig Veranstaltungen von „Fridays for Future“ zu besuchen. Sie veranstalteten einen eigenen umweltkulturellen „Sunday for Future“ und gestalteten den Workshop „Circus for Future“, für den sie Posen, Figuren sowie Plakate für die Demos entwickelten.

Die Artistin und Zirkuspädagogin Stephanie Lehman begleitet die NAUMZI-Projekte seit den Anfängen. Sie beobachtete, dass das Engagement der Kinder mit der Entwicklung ihrer artistischen und sozialen Kompetenzen einherging: „In den Workshops geht es oft darum, wie wir miteinander umgehen wollen. Wenn es dann zu Streitereien kam, konnten wir die Kinder darauf hinweisen, was sie selbst am Anfang der Woche festgelegt haben. Zirkus vermittelt eben auch andere Dinge neben dem körperlichen Können.“

Eintritt in eine geheime Welt

2020 und 2021 veranstalteten UferLeben und Zirkomania am Tagebaurestloch Störmthaler See das Sommerzirkusprojekt „PartiZirkussion“. Das den See umgebende Gebiet ist eine Braunkohletagebau-Rekultivierungszone. Die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sollten sich eine „Trauminsel“ ausdenken, dabei Ideen für die Entwicklung des Störmthaler Sees finden und ihre Bedürfnisse durch Zirkusnummern artikulieren, um sie für die Entscheidungsträger*innen der Landschaftsplanung sichtbar zu machen. Da die bei PartiZirkussion 2020 zum Ausdruck gebrachten Kinderwünsche zur Gestaltung des Störmthaler Sees bei den lokalen Politiker*innen bis dahin keine Resonanz erfahren hatten, wurde das Projekt 2021 in den Abenteuerfreizeitpark „Die geheime Welt von Turisede“ verlegt – teils um die Kinder nicht dadurch zu enttäuschen, dass sich der Störmthaler See trotz ihrer Vorschläge nicht verändert hatte, teils aber auch, weil die 52 Teilnehmer*innen in Turisede viele ihrer Wünsche für einen perfekten Ort für Kinder und Jugendliche verwirklicht fanden: Dort leben Tiere, es gibt Baumhäuser, Hängematten, Übernachtungsmöglichkeiten und auch eine Bibliothek. Durch die fehlende öffentliche Reaktion war im zweiten Jahr eine besondere Aufmerksamkeit für ihre Gefühlslage gefragt, wie Frank Beutner berichtet: „Wir haben uns dann allgemeiner mit Beteiligung beschäftigt, um wieder ein bisschen weg von der Trauminsel zu kommen. Wenn wir die Kinder auffordern, sich gesellschaftlich zu beteiligen und die Gemeinde darauf nicht reagiert, ist natürlich die Gefahr da, dass Frustration entsteht, die wir auffangen müssen. Wir haben uns also den Themen Gerechtigkeit, Natur- und Umweltschutz gewidmet und gefragt, wo sich die Kinder eigentlich beteiligen möchten.“

Die eigene Sprache finden

PartiZirkussion hat inzwischen den Kultur.LEBT.Demokratie“-Preis, den sächsischen Preis für Kulturelle Bildung 2021, und den Preis des Bundeswettbewerbs „Rauskommen! Der Jugendkunstschuleffekt“ vom Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke) erhalten. Diese öffentlichen Auszeichnungen haben Wirkung gezeigt: Nach dem zweiten Projekt in Turisede wurden die Träger zu einem Gespräch mit der Bürgermeisterin eingeladen, bei dem erörtert wurde, wie die Ideen der jungen Menschen bei der Neugestaltung des Seegeländes berücksichtigt werden können. Vielleicht wird der Zirkus auch bald in das Ganztagsangebot einer Schule zwischen Dreiskau Muckern und Leipzig integriert werden. Das NAUMZI-Team ist überzeugt, dass der Zirkus ein großes Potenzial hat, um Kinder und Jugendliche zur gesellschaftlichen Beteiligung zu bewegen: „Wir haben erlebt, wie stark sich Kinder mit Projekten identifizieren, wenn sie selber Entscheidungen treffen können.“ Sie lernen, dass sie sich intensiv mit Themen und Ideen auseinandersetzen müssen, wenn sie sich wirkungsvoll öffentlich ausdrücken wollen. Dies kann kognitiv erfolgen, in der Diskussion mit der Gruppe, oder auch körperlich und emotional, wobei den kreativen Ideen und der Intuition freien Lauf gelassen werden kann. Oder es wird gespielt und das Problem in einen anderen Kontext übertragen. Aber im Zirkus können sie auch ihre ganz eigene Sprache finden: „Kinder können sich einfach am besten kulturell ausdrücken. Ihnen fehlen oftmals rhetorisch noch die Mittel, ihre Anliegen konkret und mit ausreichend Nachdruck gegenüber Entscheidungsträgern zu kommunizieren. Die kulturelle Bühne bietet ihnen aber dazu vielfältige Möglichkeiten, die ihren individuellen Fähigkeiten entsprechen.“

Wenn wir die Kinder auffordern, sich gesellschaftlich zu beteiligen und die Gemeinde darauf nicht reagiert, ist natürlich die Gefahr da, dass Frustration entsteht, die wir auffangen müssen. Wir haben uns also den Themen Gerechtigkeit, Natur und Umweltschutz gewidmet und gefragt, wo sich die Kinder eigentlich beteiligen möchten.

Frank Beutner

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2022): Nachhaltigkeit – schaffen wir das, erschaffen wir was?, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 22-2022. Berlin. S. 55 – 57.