Kulturelle Bildung und Digitalität – zwei (un)gleiche Partner?
Im Gespräch mit Prof. Dr. Ivo Züchner, Philipps-Universität Marburg, und Julia Nierstheimer, Bundesverband der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke)
Im Gespräch mit Prof. Dr. Ivo Züchner, Philipps-Universität Marburg, und Julia Nierstheimer, Bundesverband der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke)
Julia Nierstheimer ist Geschäftsführerin des Bundesverbands der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke) und Vorsitzende des BKJ-Fachausschusses „Kulturelle Bildung und digitale Kommunikation“.
Prof. Dr. Ivo Züchner lehrt und forscht im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind außerschulische Jugendbildung, Jugendforschung, Ganztagsschule, soziale Berufe.
Foto: bjke
Ivo Züchner: Das Alltagskulturelle beschreibt, wie wir alle mit digitalen Medien umgehen, mehr oder weniger stark, in der Interaktion, in der Produktion. Mit TikTok z. B. können Jugendliche für eine gewisse Zeit eine Lebensweise ausprobieren, im Film oder im Bild, und mit ihren Freunden teilen. Der Alltag hat sich dadurch verändert, erweitert, denn neben dem Offline-Leben ergeben sich im Online-Leben viele Möglichkeiten. Jugendliche können mehr gestalten, z. B. Musik machen oder kommunizieren. Jede Gruppierung, jede Szene macht sich diese digitalen Formen zunutze, aber darüber allein lassen sich keine neuen Kulturen konstituieren.
Julia Nierstheimer: Die BKJ macht sich in ihrem Positionspapier dafür stark, Begriffe wie das Digitale und das Analoge oder das Reale und das Virtuelle nicht mehr entgegenzusetzen. Das kann ich unterschreiben. Wir leben in einer Wirklichkeit, die durchwoben ist von digitalen Medien, Erfahrungen können hier wie dort gemacht werden und alles hat Einfluss darauf, wie Menschen agieren, wie sie kommunizieren Informelle Lernprozesse z. B. vollziehen sich auch in digitalen Räumen und wirken im Alltag.
Ivo Züchner: Ich komme noch einmal auf das Beispiel TikTok. Jugendliche lernen hier zum einen von Vorbildern, aber sie merken auch: Um einen Film zu produzieren, muss ich auch üben. Drei Mädchen, die mit ihrem Handy einen Film drehen, wollen sich ein bisschen darstellen, sie wollen ausprobieren, wie etwa der Lichteinfall das Bild verändert. Das ist ja eine Form von Lernen, eine Form von Aneignung. Das ist das Spannende: Bestimmten Trends und Moden zu folgen und sie im Sinne von Selbstaneignung auszuprobieren – ganz im Sinne der Kulturellen Bildung.
Julia Nierstheimer: Grundsätzlich beeinflusst Digitalität Kulturelle Bildung auf drei Ebenen: auf der ästhetischen, auf der kommunikativen und auf der inhaltlichen Ebene. Auf der inhaltlichen Ebene geht es darum, was Kinder und Jugendliche rezipieren, selbst einbringen und hinterfragen können. Auf der ästhetischen Ebene, wie Digitalität die künstlerischen Möglichkeiten der unterschiedlichen Kunstsparten beeinflusst und z. B. um medienkünstlerische Elemente oder Künstliche Intelligenz (KI) erweitert. Die kommunikative Ebene betrifft die (kritische) Mediennutzung zum Austausch über ein Projekt und innerhalb eines Projekts, damit z. B. digital vernetzt eine gemeinsame Tanzaufführung über geografische Grenzen stattfinden kann.
Ivo Züchner: Dazu ergänze ich gern noch zwei Beispiele auf der Mikroebene. Das eine ist, dass Digitalität die künstlerische Reflexion des Eigenen ermöglicht. Am Beispiel Selbstinszenierung und Smartphone: Ich tanze, nehme es auf und schicke es weg. Ich bin gewohnt, welche Ausdrucksform auch immer, zu reflektieren: Wie wirkt es? Wie kommt es rüber? Was kann ich noch optimieren? Aufzeichnungen sind ein permanenter Begleiter. Das andere ist, dass es Lernanlässe gibt, die auf Medienreflexion bezogen sind, z. B.: Warum ist es sinnvoll, von WhatsApp auf Signal zu wechseln? Kulturelle Bildung muss diese ganzen Ebenen zusammensetzen, damit Kinder und Jugendliche produktiv und kritisch Medien nutzen können. Wir sind auch in der Forschung erst gerade am Anfang, Lernprozesse der non-formalen und informellen Bildung zusammen zu betrachten.
Muss das Handy weg oder lässt es sich kreativ und geschickt nutzen?
Prof. Dr. Ivo Züchner
Julia Nierstheimer: Ich würde es da mit Marina Weisband halten, die meint, dass wir aktuell – im Informationszeitalter – überhaupt einen anderen Begriff von Bildung brauchen, einen, der Selbstbildungsprozesse viel stärker in den Blick nimmt. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Kulturellen Bildung und auch auf die von informellen und non-formalen Lernprozessen. Darin liegt vielleicht auch eine Chance, den Bildungslandschaft ein bisschen mehr Leben einzuhauchen. Marina Weisband geht mit ihrer Forderung so weit, die Schulpflicht durch eine allgemeine Bildungspflicht zu ersetzen. Das ist natürlich provokativ, wirkt aber als Denkfigur: Wie weit können sich Bildungslandschaften, inwieweit kann sich Schule öffnen gegenüber neuen, auch vielfältigen Ansätzen?
Ivo Züchner: Wie unsere – allerdings noch nicht veröffentlichte – Studie „Angebote in Handlungsräumen der kulturellen Jugendbildung im Prozess der Digitalisierung“ zeigt, hängt Digitalität in der Bildung zum einen davon ab, inwieweit Jugendliche selbst die Digitalität mit in die Einrichtungen der Kulturellen Bildung bringen. Zum anderen davon, wie digital die Einrichtungen aufgestellt sind, über welche Ausstattung sie verfügen und inwieweit die Kulturakteur*innen sie nutzen. Es ist keine systematische Entwicklung. Dadurch, dass die Welt der Jugendlichen medial mitgestaltet ist, tragen sie das meist automatisch in die Einrichtungen. Dann stellt sich die Frage, wie sich Einrichtungen dazu verhalten: Muss das Handy weg oder lässt es sich kreativ und geschickt nutzen? Die Studie zeigt, dass es dabei kunstspartenspezifische Unterschiede gibt: Wird Digitalität in der Musik eher außen vor gehalten, nehmen die Darstellenden und Bildnerischen Künste sie deutlich stärker aktiv in die Angebote auf.
Julia Nierstheimer: Ja, insofern ästhetische Praktiken und originär künstlerische Fähigkeiten wichtiger zu werden scheinen, z. B. eine interessante Geschichte in schlüssiger Dramaturgie und guten Bildern inszenieren zu können. Ich glaube auch, dass YouTube, TikTok, Instagram etc. ihre eigenen Mainstream-Ästhetiken hervorbringen. Die wirken dann aber oft gar nicht innovativ oder avantgardistisch. Eher im Gegenteil. Außerdem entstehen, wie schon gesagt, neue Möglichkeiten, wie z. B. immersive Ästhetiken oder computergestützte Kunst.
Ivo Züchner: Neue Elemente sind sicher die erhöhte Zugänglichkeit und das Crossover. Jugendliche können in ihr Video ein hohes C aus einer Arie von Mozart schneiden. Sie können mit Schnipseln aus Lyrik, Bild und Ton Neues samplen. Sie können Bestehendes aus der klassischen Bildung in einen anderen Kontext setzen. Bildungsinhalte werden ineinander neu komprimiert. Medien haben immer Entwicklungen vorangetrieben, das tun sie auch heute. Daraus entsteht nicht immer etwas ganz Neues. Ich habe zu Hause eine hohe Zugriffsfähigkeit und ich kann auch selbst Filme drehen, Bestehendes in eine Richtung verändern, wenn ich irgendeine Idee habe.
Julia Nierstheimer: Medienpädagog*innen sagen: Anwendungskompetenz ist noch keine Medienkompetenz, auf gar keinen Fall kritische Medienbildung und auch nicht zwangsläufig Gestaltungskompetenz. Die Kulturelle Bildung setzt sich nicht dafür ein, Ergebnisse des Selbstausdrucks zu perfektionieren. Aber man kann natürlich schon überlegen, wie bewusst der Einsatz von bestimmten Ästhetiken ist und welches Reflexionsniveau dahintersteckt. Also wie selbstgesteuert von dem Kind oder dem Jugendlichen ist tatsächlich der Ausdruck mit Werkzeugen, die der Bildkunst oder die der Kulturellen Bildung entspringen?
Ivo Züchner: Neben dem Malen mit Tusche und Wasserfarbe zeichnen Kinder und Jugendliche auch auf dem Bildschirm und dem Tablet. Ist das kreativer? Der Umgang mit dem Rechner erfordert bestimmte Kompetenzen, z. B. die Funktion von Programmen, die Möglichkeiten und Grenzen der Farbspektren zu kennen. Es gibt neue Impulse durch die Mischung der Medien. Aber ob das zu mehr Kreativität führt? Wie will ich Kreativität messen? Was heißt eigentlich Kreativität? Bin ich einfach nur aktiver oder habe ich auch eine eigene Vorstellung von Weltausdruck, von Weltaneignung, von Weltmitgestaltung bekommen?
Ich glaube nicht, dass Kulturelle Bildung gut ohne jegliche Präsenz funktioniert. Aber andere oder mehr Kinder und Jugendliche zusammen zu bringen, die sich sonst nicht so einfach begegnen, das ist über größere Distanzen hinweg, insbesondere im ländlichen Raum, ein Potenzial digitaler Technologien. Daran muss man jetzt anknüpfen.
Julia Nierstheimer
Julia Nierstheimer: Die Pandemie hat der Kulturellen Bildung insofern einen Bärendienst erwiesen, als dass sie Digitalität als Thema viel breiter in die Landschaft getragen hat – eine Entwicklung, die längst überfällig war. Einrichtungen und Fachkräfte haben sich endlich getraut, mit digitalen Medien zu experimentieren – und dabei Spaß zu haben. Wir brauchen jetzt die Chance, neue, zusätzliche Angebote mit den Kindern und Jugendlichen zu entwickeln, ohne die alten zwangsläufig ersetzen zu müssen. Ich glaube nicht, dass Kulturelle Bildung gut ohne jegliche Präsenz funktioniert. Aber andere oder mehr Kinder und Jugendliche zusammen zu bringen, die sich sonst nicht so einfach begegnen, das ist über größere Distanzen hinweg, insbesondere im ländlichen Raum, ein Potenzial digitaler Technologien. Daran muss man jetzt anknüpfen.
Ivo Züchner: Ich bin eher skeptisch, ob wir durch Digitalität mehr Jugendliche erreichen. Das mit der Regionalität, mit der Distanz, das wäre eine spannende Frage, die man sich in drei Jahren noch einmal angucken muss: Verändert Digitalität Einzugsbereiche? Da muss man schauen, welche digital-kulturellen Ausdrucksformen haben Jugendliche, die sich nicht klassischerweise in angebotenen Aktivitäten von Trägern wiederfinden. Inwieweit nehmen sie diese schon wahr, nur nicht als non-formales Angebot? Gibt es da Brücken zu den Aktivitäten?
Julia Nierstheimer: Es gibt Forderungen von der BKJ, vom Deutschen Kulturrat und vom Bundesjugendkuratorium nach einem Digitalpakt für die Kulturelle Bildung bzw. die Jugendarbeit. Dabei geht es um bezahlte Zeit, um neue Netzwerke zu schmieden, um Kinder und Jugendliche verstärkt einzubeziehen, aber auch für Fort- und Weiterbildung und für zusätzliche Fachkräfte. Ein Digitalpakt sollte weniger Modellprojekte fördern, sondern Infrastrukturen vor Ort stärken, insbesondere im ländlichen Raum. Natürlich müssen wir dann auch evaluieren, was gut funktioniert, was weniger gut. Was sind Gelingensbedingungen in Prozessen? Die Projekte müssen anders konzipiert sein und dafür braucht man Zeit und Möglichkeiten. Und man braucht zum Teil auch andere Kooperationspartner.
Ivo Züchner: Durch Corona haben zahlreiche Einrichtungen aus der Existenzlogik heraus schnell neue Dinge entwickelt. Dort, wo diese Abhängigkeit von Adressat*innen bestand, hat sich eine hohe Dynamik entwickelt. Denn: In der Schule müssen die Kinder mitmachen, sie haben keine Wahl. Bei der außerschulischen Kulturellen Bildung schon. Wir wissen nicht, wie das in einem Jahr aussieht, aber da ist zumindest Know-how entstanden, was erst mal informell, also miteinander, geteilt wird. Es hängt dann stark von der Initiative der Personen in den Einrichtungen ab, was passiert. Aber, ob sich dadurch das Feld systematisch verändert, das kann ich nicht sagen. Ich tue mich schwer, eine fachpolitische Konsequenz zu ziehen, nach dem Motto: Transformation muss jetzt sein. Das ist noch relativ offen, weil das jede*r für sich entscheiden kann, wie viel Digitales in ein Offline-Angebot einzieht.
Ivo Züchner: Aus der akademischen Distanz heraus würde ich empfehlen, die Dynamik zu nutzen, die Fähigkeiten, Interessen und Kompetenzen von Jugendlichen einzubeziehen und ihnen dann in der Rolle eines kritischen und vielleicht nicht ganz so medienaffinen Partners auch eine gewisse Medienkritik nahezubringen. Dem ganzen Feld kann man dabei nur wünschen, für sich Klarheit zu bekommen: Wo liegen für uns die v. a. auch inhaltlichen Weiterentwicklungsperspektiven und Chancen in der Digitalität? Und sich nicht darauf zu reduzieren: Jetzt haben wir uns nicht vor Ort treffen können, dann muss es eben digital gehen.
Julia Nierstheimer: Die Träger sollten sich ein bisschen den Stolz bewahren, dass sie über Nacht weitergemacht haben. Es ist wichtig, selbstbewusst dranzubleiben, Spaß daran zu haben und weiterzudenken: Was bringt das, was ich jetzt gelernt habe, für meine Projekte? Wie kann ich das nutzen, um Kinder und Jugendliche noch stärker einzubinden in meine Organisation? Wie kann ich Kinder und Jugendliche, die ich jetzt vielleicht noch nicht erreiche, ansprechen? Kann ich mein Projekt attraktiver gestalten? Wir diskutieren jetzt über Digitalität, aber ich habe auch anderen Themen im Hinterkopf: die Frage nach Teilhabe, Diversität und Partizipation, also die großen Herausforderungen. Inwiefern sollte die Kulturelle Bildung die Themen überhaupt getrennt betrachten? Ist es nicht eher eine Gesamtherausforderung, ein Querschnittsthema, wenn es darum geht, eine Kultur der Digitalität mitzugestalten?
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 36-41.
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