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„Kulturelle Bildung ist Mensch werden, ist 360-Grad-Persönlichkeitsentwicklung!“
Aus der Praxis

„Kulturelle Bildung ist Mensch werden, ist 360-Grad-Persönlichkeitsentwicklung!“

Projekt „Schreibwerkstatt Marzahn“, Berlin

veröffentlicht:
BKJ | Anna Spindelndreier

Eigene Geschichten schreiben und sich neue Welten ausdenken, ist Viviennes große Leidenschaft. Wieviel Spaß es macht, diese mit anderen zu teilen, hat sie in der Schreibwerkstatt Marzahn entdeckt und dabei auch Neues über sich selbst gelernt.

Seit sie denken kann, steckt Viviannes Kopf voller Ideen. Bereits im Grundschulalter erfindet sie Figuren, lässt sie Abenteuer und Alltägliches erleben und spinnt ihre Geschichten weiter. Wie schön es wäre, diese Geschichten auch zu Papier zu bringen!  Schon bevor sie richtig schreiben kann, legt sie los. „Man konnte die Hälfte der Wörter nicht mal richtig entziffern!“, erinnert sich die heute Sechzehnjährige und lacht. Rechtschreibung, Interpunktion, Spannungsbogen – alles nicht wichtig, das einzige was zählt, ist die Lust am Geschichten erfinden, die Lust am Schreiben. Um damit ihre Figuren zum Leben zu erwecken.

Wieviel Freude es macht, das gemeinsam mit anderen zu tun, hat Vivienne durch die Schreibwerkstatt Marzahn erfahren. Jeden ersten Samstag im Monat können Jugendliche ab zwölf Jahren sich hier im Schreiben ausprobieren. Regelmäßig trifft sie sich dort mit Jugendlichen, denen es ganz ähnlich geht und die ihre Leidenschaft teilen. Wie könnte es mit dieser Figur weitergehen? Welches Ende soll die Geschichte nehmen? Bei diesen und ähnlichen Fragen findet sie hier regen Austausch. Gemeinsam wird an den Texten gefeilt, werden Figuren geschärft oder wird diskutiert, wie es mit der Geschichte weitergehen könnte. Mit Gleichgesinnten zusammen sein und sich verstanden fühlen, das ist besonders wichtig für Vivienne, die sich ein Leben ohne Schreibwerkstatt gar nicht mehr vorstellen mag. Dabei fiel ihr der Start dort alles andere als leicht.

Über den eigenen Schatten springen

Denn, dass sie jetzt viele Freund*innen hat, die ganz ähnlich ticken wie sie, ist für Vivienne keine Selbstverständlichkeit. Lange fühlte sie sich allein, Freundschaften und Kontakte zu knüpfen fiel ihr schwer – dann kam der Vorschlag, mal bei der Schreibwerkstatt vorbeizuschauen. „Damals war ich zwar Feuer und Flamme, aber als ich wirklich hingehen konnte, war ich komplett nervös und hatte so eine Angst. Dann bin ich in den Raum reingekommen und wurde komplett willkommen geheißen. Ich hab mich nicht mal richtig getraut, ‚hallo‘ zu sagen.“

Copyright: BKJ | Anna Spindelndreier
Copyright: BKJ | Anna Spindelndreier
Copyright: BKJ | Anna Spindelndreier
BKJ | Anna Spindelndreier

Eine echte Herausforderung für die Jugendliche, die sich selbst als eher introvertiert beschreibt. Was werden die anderen von mir denken? Was, wenn ich etwas Falsches sage? Ihr erster Besuch in der Schreibwerkstatt kostete sie einiges an Überwindung. Doch die hat sich gelohnt. Bereits am Ende des ersten Tages ist sie sicher: Hier sind andere, die mich verstehen. Eine Erfahrung, die sie gerne weitergeben möchte. „Macht es einfach! Ich weiß, dass das schwer ist, und ich weiß, dass man sich denkt, nein das ist so peinlich und was, wenn ich was Falsches sage, aber macht es einfach. Es ist so eine tolle Sache“, rät sie anderen Jugendlichen.

Ich glaube, ich bin einfach selbstbewusster geworden und ich habe einfach gelernt, dass ich mich so ausdrücken kann, wie ich bin.

Vivienne

Denn für Vivienne steht nicht nur das kreative Arbeiten an den eigenen Geschichten im Vordergrund, sondern vor allem das Miteinander, das aus der Schreibwerkstatt erwächst. Wer die eigenen Texte anderen zeigt, zeigt damit auch sich selbst, meint Vivienne. „Man liest zwischen den Zeilen und bekommt dadurch auch einen Einblick in die Person, die vor einem sitzt.“ Sich einander so zu öffnen, erfordert Mut und einen Raum, in dem niemand Angst haben muss, schief angeschaut zu werden für die eigenen Gedanken und Gefühle.

Perspektiven auf die Welt entwickeln

Dass die Schreibwerkstatt solch ein Ort für Jugendliche ist, weiß auch der Autor und Poetryslammer Bas Böttcher zu schätzen, den Vivienne während eines Schreib-Workshops kennenlernte. Für ihn sind kulturelle Angebote, innerhalb derer sich junge Menschen frei entwickeln und finden können, unerlässlich. „Kulturelle Bildung ist Mensch werden, ist 360-Grad-Persönlichkeitsbildung!“ Dabei kann das Schreiben ein kreatives Mittel sein, die eigene Identität zu entdecken und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Welche Wirkung das auf die Jugendlichen haben kann, hat er selbst oft erlebt: „Wenn man sich lange mit Sprache und kreativ mit Worten beschäftigt, merkt man, dass man die Perspektive auf die Welt verändern kann. Du siehst die Welt plötzlich in einem anderen Licht.“

Er selbst hat seine Liebe zu Sprache schon früh entdeckt und erforscht in Workshops gemeinsam mit jungen Menschen, wie mit Sprache gespielt und experimentiert werden kann. Dabei gibt er ihnen vor allem Möglichkeiten an die Hand, Bilder für das zu finden, was die Jugendlichen im Innern bewegt und auch mal gegen den Strich zu denken. Wichtig ist ihm vor allem, dass die Freude am Ausprobieren und Entdecken im Vordergrund steht. „Scheitern macht Spaß!“, lacht der Sprachkünstler.

Vivienne erzählt, was das Schreiben ihr bedeutet.

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Sich selbst zum Ausdruck bringen

Das Entdecken macht auch Vivienne immer wieder Spaß, wenn sie neue Geschichten anfängt. Im Prinzip sei es jedes Mal wie ein neues Leben, erklärt sie begeistert, denn jede Figur öffnet die Tür zu etwas Neuem. Auch wenn diese vielleicht erst verschlossen bleiben: „Manchmal habe ich eine extrem große Schreibblockade, aber dann geht einem ein Licht auf wie ein Geistesblitz, dann geht das locker vom Band.“ Auch solche Erfahrungen werden in der Schreibwerkstatt geteilt und Tipps für den Umgang mit solchen Blockaden getauscht. Dass sie dadurch stetig dazulernt und ihre Schreibkünste erweitert, steht dabei allerdings für Vivienne nicht an erster Stelle. „Es geht auch nicht darum, besser zu werden, es geht darum, man selbst zu sein und sich selbst in irgendeiner Art und Weise in seinen Geschichten zu Papier zu bringen.“ Darüber freut sich auch Bas Böttcher, dem es vor allem wichtig ist, dass die Jugendlichen sich selbst zum Ausdruck bringen – am Anfang gar nicht so leicht, doch wenn es gelingt, kann der Effekt enorm sein. „Das zu verstehen, dass man selbst in der Kunst entscheidet, was richtig und was falsch ist, das ist so ein Schlüsselmoment“, weiß Bas Böttcher aus Erfahrung.

Macht es einfach! Ich weiß, dass das schwer ist, und ich weiß, dass man sich denkt, nein das ist so peinlich und was, wenn ich was Falsches sage, aber macht es einfach. Es ist so eine tolle Sache.

Vivienne

Für Vivienne hat dieser Effekt nachhaltige Wirkung gezeigt. „Ich glaube, ich bin einfach selbstbewusster geworden und ich hab einfach gelernt, dass ich mich so ausdrücken kann, wie ich bin.“  Und während sie das sagt, sieht man ihr an, wie stolz sie darauf ist. Dass sie den Weg in die Schreibwerkstatt gefunden hat und dafür über ihren Schatten gesprungen ist, bleibt für die 16-Jährige ein echter Meilenstein. „Dadurch, dass ich hier meine eigenen Ängste überwinde, hoffe ich, dass das hier vielleicht einfach irgendwen erreicht. Ich würde es einfach schön finden, wenn es Leute gibt, die dadurch inspiriert sind“, wünscht sie sich.

Text: Antje Kölling

In der Schreibwerkstatt Marzahn treffen sich Jugendliche ab zwölf Jahren zum gemeinsamen Lesen und Schreiben und für den Austausch über die entstandenen Texte. Die Schreibwerkstatt findet einmal im Monat in der Mark Twain Bibliothek statt. Auch Schreibspiele, Gruppenpräsentationen, Projekte und Workshops gehören zum Programm. Die Praxisreportage ist entstanden im Rahmen von „Machmamit! Finde, was deins ist“, der Kampagne für Kulturelle Bildung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Das begleitende Kinderbüchlein „Machmamit! – Mika und Flopp auf Sternenritt!“ wurde von Vivienne geschrieben.