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Kulturelle Bildung ist kein Autorennen
Fachbeitrag

Kulturelle Bildung ist kein Autorennen

Über das Aufholen im Krisenkontext

veröffentlicht:

Welche Erwartungen sind mit den Bundesprogrammen verbunden? Was suggeriert der Titel „Aufholen nach Corona“ und welche Dilemmata verstärken solche Begriffe? Welche Perspektivwechsel sind notwendig und wie werden Kinder und Jugendliche bei der Frage einbezogen, was sie für ihre Zukunft brauchen?

Von Kerstin Hübner

Kerstin Hübner koordiniert das Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung. Zuvor hat sie den Arbeitsbereich „Kooperation, Bildung, Innovation“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung geleitet. Ihre Schwerpunkte sind Kooperationen, Bildungslandschaften und Zivilgesellschaft.

Neustarten, Aufholen, Starkmachen – manchmal fühlt sich Kulturelle Bildung wie die Formel 1 an, die alles den Gesetzen der Geschwindigkeit, des Erfolgs, des Marktes unterwirft. Völlig abgeschlagen sind Prinzipien wie Fairness und Teamgeist. Ganz zu schweigen davon, dass globale Ziele eine Rolle spielen könnten: Menschenrechte, Umweltfreundlichkeit oder Nachhaltigkeit. Aber hier soll es nicht um die Formel 1 gehen. Schließlich ist Kulturelle Bildung kein Sport und schon gar kein Hochleistungssport. Bundesprogramme wie „Aufholen nach Corona“, „Neustart Kultur“ oder „Kultur macht stark“ folgen anderen Zielen. Und auch der Jugendarbeit im Sport, die wie die Kulturelle Bildung Partner des Aufholprogramms ist, würden wir mit diesem Vergleich unrecht tun. Dennoch laden die Titel der Bundesprogramme und die mit ihnen verbundenen Erwartungen und Dynamiken geradezu ein, genauer hinzuschauen: welche Potenziale sie eröffnen oder welche sich in ihnen zeigen, aber eben auch welche Dilemmata sie verstärken oder sichtbar machen. Als Dachverband der kulturellen Kinder- und Jugendbildung in Deutschland sind wir gemeinsam mit unseren Mitgliedern und Partnern auf Bundes- und Landesebene, die sich an diesen Programmen mitgestaltend beteiligen, Teil dieser Ambivalenzen.

Es ist zu wünschen, dass es weniger um etwas Vergangenes oder Fehlendes geht, das nach- oder aufgeholt werden soll, sondern dass vielmehr die Frage mehr Raum erhält, was junge Menschen für ihre noch unbekannte Zukunft brauchen und wollen. 

Kerstin Hübner

Außerschulisches Aufholen

Die BKJ hat sich gemeinsam mit anderen Verbänden der Jugendarbeit zunächst dafür eingesetzt, dass junge Menschen im Zuge der Pandemie überhaupt wahrgenommen werden – nicht nur als Pandemietreiber*innen, Zu-Betreuende oder Schüler*innen, sondern als eine vielfältige Gruppe, für deren eigenständige Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben die Einschnitte besonders massiv waren. Als ein Erfolg ist zu werten, dass nach den Schulen auch Jugend- und außerschulische Bildungseinrichtungen öffnen konnten und im Falle von verschärften Pandemie-Lagen offenbleiben können. Als sich ein Aufholprogramm im Schulbereich ankündigte beziehungsweise erste Programme in den Bundesländern umgesetzt wurden, die sich vornehmlich den Lernrückständen – und dies zudem v. a. bezogen auf die sogenannten Kernfächer – zuwandten, waren es die Verbände der Jugendarbeit, die forderten: Kinder und Jugendliche benötigen auch in der Freizeit wieder mehr Möglichkeiten, sich zu begegnen, ihren Interessen nachzugehen, Spaß zu haben … All das, was seit Frühjahr 2020 viel zu kurz gekommen ist. Mit einer Milliarde Euro werden daher 2021 und 2022 jenseits des schulischen „Aufholens“ auch außerschulische Aktivitäten gefördert. Für die kulturelle Kinder- und Jugendbildung beteiligt sich die BKJ gemeinsam mit ihren Mitgliedern seit Sommer 2021 an diesem Programm.

Es braucht diese Bundesprogramme! Nicht nur, weil die Gelder unmittelbar für und in junge Menschen investiert werden, welche diese Förderung zum Ausleben ihrer Interessen dringend brauchen. Sondern auch, weil sie öffentlich allen Eltern und Bürger*innen ebenso wie Verwaltung und Politik auf allen Ebenen verdeutlichen: Kinder und Jugendliche sind eine wichtige gesellschaftliche Gruppe und (kulturelle) Kinder- und Jugend- bzw. Bildungsarbeit gehört zum Aufwachsen dieser jungen Menschen unbedingt dazu – gerade auch in Krisensituationen und gerade auch für jene jungen Menschen, die in Risikolagen aufwachsen. Nicht zuletzt geben die Programme mit ihren Fördergeldern vielen Trägern zusätzliche Möglichkeiten, ihre Aufgaben umzusetzen und ihre Angebote qualitativ und quantitativ weiterzuentwickeln.

Wirkungen und Nebenwirkungen

Wir erkennen in den Anträgen bereits jetzt, wie groß der Bedarf an kulturellen Freizeitaktivitäten und an Finanzmitteln ist, wie individuell die Programmziele mit den Situationen vor Ort und den kulturellen Spielarten verbunden werden und wie weit die Antragsteller über das Spektrum der BKJ hinausreichen, weil sich Kulturelle Bildung eben auch in der sozialen Arbeit, in der offenen Jugendarbeit, in Kultureinrichtungen oder bei Bildungsträgern findet. Eine Bilanz ist noch nicht möglich, aber anhand der Maßgaben des Programms, seines politischen und gesellschaftlichen Kontextes und der Situation, in der sich die Träger befinden, lässt sich ableiten, inwieweit Spannungsfelder bestimmte Wirkungen beschränken und andere, ggf. auch „Neben“-Wirkungen, beschleunigen:

Das Perspektivdilemma

Welche Perspektiven spielen eigentlich eine Rolle und welche Perspektiven werden entwickelt? Es ist ein Gewinn, dass Kinder und Jugendliche zunehmend wahrgenommen wurden, wenn auch mehr durch Stellungnahmen von Kinder- und Jugendärzt*innen/-psycholog*innen und aus dem anwaltschaftlich handelnden Verbandsspektrum der Kinder- und Jugendarbeit heraus, als dass junge Menschen selbst befragt, gehört oder beteiligt wurden. Letzteres trifft auch auf die Träger der Kulturellen Bildung zu: Im Ringen um das Halten von Kontakten und Angeboten war es eine besondere Herausforderung, herauszufiltern und umzusetzen, was junge Menschen (wirklich) brauchen. Überlagert und geleitet wurden diese Diskurse zudem von gesundheitlichen – sogar noch enger geführt: von pandemischen – Risikobewertungen; der (junge) Mensch als Ganze*r war und ist nicht im Blick. Zu hoffen ist, dass der Corona-Expertenrat diese Perspektive erweitert, auch wenn sich in seiner Zusammensetzung die Schwerpunkte nur vorsichtig verschoben haben.

Politische Entscheidungen (und politische Programme), unsere Gesellschaft und damit auch die Strategien der Träger aus den Bereichen Jugend, Kultur und Bildung tun vor allem eines (noch) nicht: Sie klären nicht die Frage danach, wie wir langfristig mit dem Virus selbst und/oder mit seinen einschneidenden Auswirkungen umgehen können. Welche Lösungen wir finden, welche Prioritäten wir setzen, welche Perspektiven wir brauchen. Wie sich eine „neue Normalität“ langfristig ausdrückt und womit sie gestaltet werden kann – hierzu fehlt der Ansatz. Kulturelle Bildung kann eine Plattform für solche Diskurse und Visionen, aber auch für entsprechende Experimentierräume sein.

Das Unverzichtbarkeitsdilemma

Kulturelle Kinder- und Jugendarbeit ist unverzichtbar, lautet die Überzeugung der BKJ. Dafür lassen sich viele Belege anführen oder eben einfach „nur“ Erfahrungswerte aufzählen. Die BKJ nutzt alle Möglichkeiten, die sich ergeben, um kulturelle Bildungsgelegenheiten zu schaffen bzw. zu sichern. Und natürlich konnten wir schnell herleiten, warum es Kulturelle Bildung gerade jetzt im Besonderen braucht – aber die Bedeutung der Kulturellen Bildung zeigte sich nicht durch ihre besondere Leistung in der Krise, sondern durch ihren Verlust. Sie fehlte vielfach schlichtweg.

Das Optimierungsdilemma

„Mein Kind hat etwas verpasst.“ – Das ist eine große Sorge von Eltern, die durch Befragungen und Lehrer*innen bestätigt wurde. Diese Benachteiligung vertraten auch Jugendliche selbst, lautstark v. a.  jene, die das Abitur bewältigen wollten, einen Ausbildungsplatz suchten, ein Online-Studium erleben mussten oder am Einstieg ins Berufsleben standen. Gemeint waren damit v. a. Lücken im Schulstoff und in den Kompetenzen. Die damit verbundene gesellschaftliche Sorge folgte vornehmlich ökonomischen Paradigmen. Letztlich war dies ein wesentlicher Impuls für unterschiedliche bildungspolitische Aufholmaßnahmen – in der Schule, in der Freizeit und in den Ferien. Bildungsbenachteiligungen haben sich verschärft, und das deutlich. Aber wir sollten keine ganze Generation zu prekarisieren versuchen, die sich nicht nur sehr solidarisch verhalten, sondern vielfach auch als enorm geduldig und widerstandsfähig gezeigt hat.

Anstatt aber grundsätzlich darüber nachzudenken, wie sich unser Bildungssystem durch eine andere Orientierung verändern lässt, wird am neoliberalen Grundprinzip festgehalten. Individuell bedeutet dies noch mehr Druck, noch weniger Freiräume. Die jungen Menschen starten ihre Ausbildung früher, für Auszeiten und Orientierungsphasen bleibt offenbar keine (Lebens-)Zeit.

Nach und nach wurden Stimmen lauter, die darauf aufmerksam machten, dass es jungen Menschen auch an Möglichkeiten mangelte, ihren Freizeitinteressen – sozial, kulturell, sportlich, politisch … – nachzugehen. Und die forderten, auch hier möglichst nichts „zu verpassen“ oder möglichst viel „nachzuholen“. Inwieweit diese rückwärtsgerichtete Perspektive sinnvoll ist und in welchem Umfang das überhaupt gelingen kann, sollte in der Kulturellen Bildung näher beleuchtet und diskutiert werden. Gerade in der Pandemie gewinnt der Begriff der Lebenskunst wieder stärker an Bedeutung, der ja auch auf die Bewältigung des Unplanbaren zielt und sich weniger an einer Normierung von Bildungsbiografien und Lebenswegen orientiert. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass andere Begriffe (wieder-)entdeckt werden: Resilienz, Widerständigkeit, Emanzipation.

Das Geschwindigkeitsdilemma

So massiv und dynamisch die Corona-Zeit über unsere Welt hereinbrach und erst einmal zum Stillstand des öffentlichen Lebens führte, so sehr verdichteten und beschleunigten sich der Handlungsdruck, die politische Entscheidungsmacht, die (Nachrichten-)Kommunikation und die entsprechenden Reaktionen der Gesellschaft. Letztlich ist auch das Aufholprogramm Ausdruck dieser Dynamik und stand unter dem Druck, schnell implementiert und zu einer Erfolgsgeschichte werden zu müssen. Auch wenn dies gelungen ist: Es blieb keine Zeit für das Uneindeutige, für das Abwägen, für das Kontrastieren – Räume und Potenziale, wie sie gerade für die Kinder- und Jugendarbeit oder die Kulturelle Bildung wichtig und notwendig sind.

Das Strukturdilemma

Die Corona-Pandemie hat die Fragilität vieler Trägerstrukturen Kultureller Bildung sichtbar gemacht: Nicht nur die jungen Nutzer*innen blieben weg, sondern auch Fördermittel und Ehrenamtliche. Zusätzlich mussten sich die Träger neu erfinden: mit der Frage, welche Rolle Kulturelle Bildung in der Pandemie einnehmen kann bzw. sollte und mit der Umstellung auf neue Angebotsformate (bspw. digital, Outreach, Outdoor). Erhöhte Flexibilität und Innovationsbereitschaft unter zugleich erschwerten Bedingungen waren und sind gefragt; Engagement und Aufopferung der hauptamtlichen, ehrenamtlichen und freischaffenden Kräfte stehen dabei oft in keinem Verhältnis zu den Ressourcen.

Im gleichen Maße, wie die Erschöpfung und Demotivation steigen, wachsen auch die Unsicherheiten. Ungeklärt ist so beispielsweise, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen die Träger nach der Pandemie werden arbeiten können. Es scheint, als müssten sie selbst nicht nur „aufholen“ – Nachwuchs, Fachkräfte und Finanzen -, sondern als müsste grundsätzlich das Struktur- und damit das Fördermodell überdacht werden. Projektförderung, wie sie im Aufholprogramm ermöglicht wird und wichtige Spielräume eröffnet, droht mit verlässlicher Infrastrukturförderung ausgespielt zu werden. Daraus entsteht kein nachhaltiges Strukturkonzept.

Perspektiven wechseln – Perspektiven öffnen

Mit dem Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition „Mehr Fortschritt wagen“ ist angekündigt: „Im Anschluss an das Corona-Aufholpaket werden wir die Situation für Kinder und Jugendliche mit einem Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit schnell und wirksam verbessern.“ Damit wird zum einen eine Perspektive angekündigt, die über die Dringlichkeit des Aufholpaketes hinausgeht und vielleicht sogar eine nachhaltige Träger- und Angebotsstruktur unterstützt. Zum anderen hat sich mit den Begriff „Zukunftspaket“ nicht nur die sprachliche Perspektive verändert: Es ist zu wünschen, dass es weniger um etwas Vergangenes oder Fehlendes geht, das nach- oder aufgeholt werden soll, sondern dass vielmehr die Frage mehr Raum erhält, was junge Menschen für ihre noch unbekannte Zukunft brauchen und wollen. Kulturelle Bildung – das ist immer auch Perspektivwechsel, das ist die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln und Zukunft neu zu denken, oft auch anders als geplant.

 

Der Beitrag ist erstveröffentlicht im Dezember 2021 unter dem Titel „Kulturelle Bildung ist kein Autorennen“ im infodienst – Das Magazin für Kulturelle Bildung zum Thema „Aufholen Rauskommen Mitmischen“, Nr. 142, S. 16/17. Der Beitrag wird mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber LKD NRW/bjke hier veröffentlicht.