Geschichtsschreibung von morgen
Projekt „Club Global“, Jugend im Museum e. V., Berlin
Projekt „Club Global“, Jugend im Museum e. V., Berlin
Von Kathrin Köller
Ein Mädchen läuft den Fernsehturm hinauf, zwischen den Hochhäusern schaukeln Freund*innen in der Hängematte und an die Tiergartenmauer hat jemand LGBTIQ+ gesprayt. All dies wäre Richard Wagner wohl in seinen kühnsten Träumen nicht in den Sinn gekommen.
Barbara Antal ist schwer begeistert, welch inklusive und kreative Berlinbilder die Schulklassen entwerfen, die zum zweitägigen Workshop „Club Global“ in die Berlinische Galerie kommen. Seit vielen Jahren arbeitet die Museumspädagogin als Kursleiterin bei Jugend im Museum e. V. Der Verein betreibt in Kooperation mit der Berlinischen Galerie schon lange ein extra Atelier für Kinder und Jugendliche. In dem Berliner Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur werden mithilfe der Kunst Geschichten über Berlin erzählt und neue Geschichten entstehen. Hier hängt auch Anton von Werners Gemälde mit dem sprechenden Titel „Enthüllung des Richard-Wagner-Denkmals im Tiergarten“, ein Paradebeispiel für das Erzählen von Geschichte von oben. Der Maler versammelt Persönlichkeiten, die in der Berliner Politik und Wirtschaft Anfang des 20. Jahrhunderts wichtig waren, zu einem großen Fest im Tiergarten. Barbara Antal und ihre Kollegin Beate Gorges vom „Atelier Bunter Jakob“, die die Workshops gemeinsam leiten, haben dieses Bild ganz bewusst für ihren Workshop ausgesucht. Es ist ein guter Ausgangspunkt, um darüber zu sprechen, wie Geschichte erzählt wird, wie prägend Bilder für kulturelle Identität sind und wie exklusiv diese Geschichte ist. „Wir setzen uns vor dieses Bild und stellen Fragen“, erzählt Barbara Antal. „Was ist zu sehen, was wird erzählt, welche Personen sind abgebildet? Und es kommt dann sehr schnell zu dem Punkt, dass einige Menschen in diesem Bild fehlen. Die Jugendlichen kommen da selbst drauf“, berichtet die Workshopleiterin. „Da sind nur weiße, privilegierte Menschen von damals zu sehen“, bemerken die Teilnehmer*innen.
Und dann beschäftigen sie sich damit, wer eigentlich Anfang des 20. Jahrhunderts noch so in Berlin lebte und wie die Lebensbedingungen in der Großstadt aussahen. Die Schüler*innen erfahren von Wohnungsnot durch die Urbanisierung, hören zum ersten Mal von Schlafburschen und der Völkerschau, auf der schwarze Menschen wie exotische Wesen in Baströckchen präsentiert wurden. „Dafür haben wir ganz konkrete Personen ausgesucht, z. B. Theodor Wonja Michael und einen Textauszug aus seiner Biografie „Deutschsein und schwarz dazu“. Wir haben Videobeiträge von ihm angeschaut und dadurch erfahren, wie es war, als Kind Teilnehmer an dieser Völkerschau zu sein und wie er gelebt hat und wie sein Alltag aussah.“ Das geht besonders bei Jugendlichen, die selber Erfahrung mit Othering gemacht haben, sehr tief. Und plötzlich wird es allen klar: „Wir leben in Berlin und spazieren durch den Tiergarten, aber wir denken überhaupt nicht an diesen Mann, der hier auch gelebt hat. Seine Geschichte ist nicht in der Berlinischen Galerie ausgestellt.“
Und es wird auch klar, was das mit ihnen heute zu tun hat und wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Im Workshop überlegen die Teilnehmer*innen, wie aus der geschlossenen Gesellschaft eine offenere werden kann. Dazu bringen die beiden Leiterinnen auch diverse Stimmen von heute mit ein. „Es gibt eine tolle YouTube-Reihe namens Germania und da sprechen junge berühmte deutsche Menschen mit Migrationshintergrund über ihr Leben und ihre Erfahrungen.“ Das macht den Raum auf für Gespräche über eigene Erfahrungen und die Frage, was sich verändert hat seit Anton von Werners Feierlichkeiten im Tiergarten. Und was muss dringend noch passieren? Wie ist es heute mit Migrationshintergrund in Berlin zu leben? Haben die Schüler*innen den Eindruck, sichtbar zu sein, oder nicht? „Die Gespräche, die da entstehen, sind wahnsinnig interessant“, berichtet Barbara Antal. Und die Schüler*innen der 5. bis 7. Klassen beginnen zu überlegen, wie sie dieses Bild selbst gestalten würden. „Zum Beispiel in der Mitte sitzt Wagner als Statue, damals war er sehr renommiert.“, erzählt Barbara Antal.
Die Frage ist, wen von uns sollen die Menschen in der Zukunft erinnern? Wer sollte heute auf so einem Sockel stehen? Wer soll gefeiert werden? Und welche Leute sollten zu dem Fest in der Zukunft eingeladen werden?
Barbara Antal
Klar ist nach der Diskussion: Für das Bild von der Party im Tiergarten braucht es ein Update. Die Schüler*innen knöpfen sich die Szenerie vor. So viele Männer in Uniform braucht es nicht, aber sie selbst müssen mit aufs Bild, außerdem Theodor Wonja Michael und all die anderen Persönlichkeiten, die sie kennengelernt haben. Die Schüler*innen überlegen, wie es heute im Tiergarten aussieht. Eine Gruppe überklebt die alten Honoratioren mit Gras und fügt dann für die neu Hinzugekommenen noch einen Grill hinzu. Eine andere Gruppe verziert eine elegante Dame mit Herthafähnchen und zeichnet ihr einen kleinen Jungen an die Seite. „Schau mal, die trägt ein Kopftuch“, steht in seiner Sprechblase. Am Ende ist eine inklusivere Gesellschaft abgebildet und das selbstgestaltete Bild der Schüler*innen kann sich neben dem Original absolut sehen lassen. Es wandert als Dauerleihgabe in die jeweiligen Klassenzimmer. Barbara Antal hofft, dass die Schüler*innen auch zukünftig Bilder und Präsentationen hinterfragen – kritisch gegenüber exklusiven Geschichten und engagiert für Bilder und Geschichten, die eine größere Vielfalt abbilden.
Im Museum ist die Erkenntnis geblieben, Kinder und Jugendliche als Museumsgäste und auch als Gestalter ernst zu nehmen. Barbara Antal hat während der Workshops oft erlebt, dass Jugendliche Künstler*innen vorschlagen, die sie kennen und mögen, die sie aber in der Sammlung nicht repräsentiert sehen. Die Berlinische Galerie hat inzwischen auch ein eigenes Jugendgremium etabliert, das sich damit auseinandersetzt, wie sich Museen für Jugendliche interessanter gestalten lassen. Auch hier ist das Feedback das Gleiche: ein Museum der Zukunft, in dem sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen, ist ein Ort, an dem sie mitbestimmen und selbst gestalten können. Jugendliche Kurator*innen im Museumsbetrieb zu verankern, würde sicherlich zu einer größeren Vielfalt der Geschichten führen, was den Museen gesamtgesellschaftlich zu größerer Relevanz verhelfen würde.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunft – jetzt utopisch gerecht No. 19, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 19-2020. Berlin. S.23-33.