Forschung und Praxis in der internationalen Jugendarbeit: Die Zukunft gemeinsam gestalten
Forschung und Praxis sollten strategisch abgestimmt Hand in Hand arbeiten
Forschung und Praxis sollten strategisch abgestimmt Hand in Hand arbeiten
von Ulrike De Ponte, Michael Schwarz, Claudius Siebel und Rolf Witte
In den letzten beiden Jahrzehnten standen unter verschiedenen Aspekten hauptsächlich die individuellen Bildungswirkungen von unterschiedlichen Formaten der Internationalen Jugendarbeit im Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen. Wissenschaftliche Untersuchungen wurden von den Trägerstrukturen der Internationalen Jugendarbeit auch dringend zur Legitimierung der eigenen Angebote gebraucht und genutzt, um die Lobbyarbeit für die Sinnhaftigkeit internationaler Begegnungsformate gegenüber Politik und Verwaltung mit Daten und Fakten zu unterfüttern.
Diese Phase können nun sowohl Praxisvertreter*innen als auch Wissenschaftler*innen guten Gewissens hinter sich lassen. Da es auf allen politischen Ebenen unseres Landes mittlerweile unumstritten ist, wie wichtig grenzüberschreitende Lern- und Lebenserfahrungen junger Menschen für das Zusammenleben in Europa und weltweit sind, müssen jetzt sowohl die Träger der Internationalen Jugendarbeit als auch die interessierten Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen ganz andere und neue Fragestellungen durchdringen und in neue Praxisformen umsetzen.
Einige dieser Herausforderungen, bei deren Bewältigung ohne ein Zusammenwirken von Praxis und Forschung wenig Nachhaltiges und Zukunftsweisendes entstehen kann, sollen im Folgenden beschrieben werden.
Eines ist klar: Ganz automatisch und ganz von alleine werden nicht alle ehren-, neben- und hauptamtlichen Jugendarbeiter*innen der Bundesrepublik mit ihren Vereinen, Einrichtungen, Organisationen, Verbänden und anderen Strukturen das Thema Internationale Jugendarbeit für sich als Arbeits- und Angebotsform entdecken. Und selbst wenn sie dazu eine intrinsische Motivation entwickeln und sich auf den Weg machen wollen, die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Jugendarbeit für sich und ihre Zielgruppen zu nutzen, dann werden viele von ihnen nicht über die Durchführung oder Teilnahme an einer ersten Begegnung hinauskommen – oder womöglich schon vorher wieder aufgeben. Denn allein die Bewältigung der komplexen Herausforderungen, die die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern erfordert und dazu die immer undurchsichtiger werdende Förderlandschaft zu durchdringen, auf die man als Träger internationaler Begegnungen von jungen Menschen angewiesen ist, bringen so manche ehren- oder auch hauptamtliche Fachkraft an ihre Grenzen.
In persönlichen Gesprächen äußern deshalb Kolleg*innen aus dem Arbeitsfeld immer wieder sehr deutlich, dass der größte Bedarf, den sie bei diesen ersten und auch bei weiteren Schritten benötigen, eine begleitende Unterstützung von außen ist, die sie ‚an die Hand nimmt‘ und ihr eigenes Durchhaltevermögen steigert sowie den notwendigen raschen Kenntnisgewinn im neuen Arbeitsfeld der Internationalen Jugendarbeit unterstützt. Dabei geht es ihnen dezidiert nicht nur um mehr Informationen oder punktuelle Beratung, die bei Bedarf abgerufen werden können. Es besteht vielmehr das Bedürfnis nach einer echten Prozessbegleitung auf diesem für sie ungewohnten und auch persönlich verunsichernden Terrain der internationalen Zusammenarbeit – weil viele Fachkräfte ähnlich wie junge Menschen auch beispielsweise wenig Vertrauen in ihre eigenen Fremdsprachenkenntnisse haben, diese aber für den Umgang mit Partnern aus dem Ausland als zwingend erforderlich einschätzen.
Diese einzelnen, individuell motivierten Kolleg*innen in der lokalen, regionalen, landes- und bundesweiten Jugendarbeit sind mit ihrem persönlichen Engagement für grenzüberschreitende Lern- und Lebenserfahrungen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich die tragenden Säulen der Internationalen Jugendarbeit. Oftmals sind sie dabei über Jahre hinweg Einzelkämpfer*innen in ihren Vereinen, Einrichtungen oder Organisationen und müssen sich gegenüber Vorgesetzten oder Kolleg*innen sogar noch rechtfertigen, wenn sie mit Jugendlichen „schon wieder 10 Tage im Ausland Begegnungs-‚Urlaub‘ machen“.
Die Tatsache, dass internationale Angebote nicht zum regelmäßigen Arbeitsauftrag, Konzept und Angebotsrepertoire von Jugendeinrichtungen und Jugendorganisationen gehören, führt dazu, dass nach dem Weggang dieser Einzelkämpfer*innen meist alle mühsam aufgebauten internationalen Kontakte und Partnerschaften einschlafen und das Spektrum der eigenen Angebote und Arbeitsformen mit den Jugendlichen sich wieder auf Themen und Inhalte vor Ort verengt. Dieser Mechanismus ist im Übrigen nicht nur typisch für die außerschulische Jugendarbeit, sondern greift in Schulen beim Weggang der einzigen ‚Austauschlehrer*innen‘ in gleichem Maße.
Diese Umstände, Rahmenbedingungen und Erfahrungen der letzten Jahrzehnte führen deutlich vor Augen, dass mittlerweile – da europäische, internationale und globale Zusammenhänge eine immer größere Bedeutung für das persönliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben haben – eine flächendeckende strukturelle Verankerung von internationalen Angeboten und Arbeitsformen in allen Einrichtungen und Organisationen der Jugendarbeit auf allen Ebenen dringend angesagt ist. Nur durch das Erreichen dieses Ziels kann allen jungen Menschen an vielen verschiedenen Orten eine vollumfängliche Teilhabe und Mitwirkung an gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht werden, die heutzutage über weite Strecken nicht mehr nur lokal und regional stattfinden.
In den heutigen digitalen und weltweit verflochtenen Formen des täglichen Interagierens und Zusammenlebens hat diese Herausforderung an das Feld der Jugendarbeit in seiner ganzen Breite eine Dimension angenommen, die jungen Menschen mit Sicherheit nicht mehr nur von Einzelkämpfer*innen vermittelt werden kann. Hier sind ganz grundlegend alle Einrichtungen und Organisationen der freien und öffentlich getragenen Jugendarbeit und Jugendbildung gefordert, ihre grundlegenden Zielsetzungen über die lokalen Grenzen hinaus zu definieren, ihre Konzepte im Lichte internationaler Erfahrungen weiter zu entwickeln, ihre finanzielle und personelle Ressourcenplanung zu überdenken und ihre Angebote um grenzüberschreitende Erfahrungsmöglichkeiten für ihre Zielgruppen zu erweitern. Alles in allem ein Paradigmenwechsel, der nicht nur von einzelnen Personen getragen und umgesetzt werden kann, sondern der auch strukturelle Veränderungen erfordert, die strategisch geplant und behutsam schrittweise umgesetzt werden müssen.
Den meisten Organisationen und Einrichtungen der Jugendarbeit wird ein solcher grundlegender Europäisierungs- oder Internationalisierungsprozess nur aus eigener Kraft und mit Bordmitteln nicht gelingen, sodass in dieser Phase des konzeptionellen und strukturellen Wandels Unterstützung und Begleitung von außen dringend erforderlich sein werden.
Beispielhaft, zum Teil experimentell und noch lange nicht flächendeckend, sind solche Unterstützungsformate in den letzten Jahren auf verschiedenen Feldern der Jugendarbeit bereits entwickelt, erprobt und erfolgreich eingesetzt worden – und werden es zum Teil auch aktuell.
So haben Träger der Internationalen Jugendarbeit und Schulen beispielsweise im Pilotprojekt IKUS – Interkulturelles Lernfeld Schule erfolgreiche Tandems gebildet und eng zusammengearbeitet, um interkulturelle Lernmodule für junge Menschen zu entwickeln und im Schulalltag zu implementieren, die jeweils passgenau den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Partner entsprachen.
Im Rahmen der jugendpolitischen Initiative JiVE – Jugend international Vielfalt erleben wurden in verschiedenen Teilprojekten unterschiedliche Ansätze der Verankerung internationaler Elemente in der Jugendarbeit entwickelt, erprobt und die Erkenntnisse und Vorschläge in Form von Handlungsempfehlungen für Politik, Verwaltung und die Fachkräfte der Jugendarbeit ausformuliert.
Im Rahmen des Projekts Kommune goes international (KGI) profitieren die mittlerweile teilnehmenden 34 Kommunen und Landkreise aus allen Teilen Deutschlands seit 2011 von einem langfristigen Unterstützungsangebot in Form von Beratung, Vernetzung, Information und Qualifizierung. Als ein besonders weit entwickeltes und strukturell verankertes Beispiel sei in diesem Zusammenhang die Landeshauptstadt Wiesbaden erwähnt, die in Form der langfristig angelegten Initiative „Wiesbaden international – unsere Stadt lebt Weltoffenheit“ das Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen in der globalisierten demokratischen Welt stärken will und dazu mit vielen Akteursgruppen nachhaltige stadtweite Vernetzungsstrukturen geschaffen hat.
Neben diesen Projekten, in denen in unterschiedlicher Ausprägung bereits auf die Methode des Coachings zurückgegriffen wurde, hat IJAB im Rahmen des sehr kleinen Modellprojekts zur Entwicklung einer internationalen Dimension in der Kinder- und Jugendhilfe voll und ganz auf diesen Ansatz gesetzt. Interessierte Träger wurden von in der Internationalen Jugendarbeit erfahrenen Coaches durch institutionelle Entwicklungsprozesse begleitet, die sich den Dimensionen der Personal-, Organisations- und Qualitätsentwicklung je nach spezifischer Ausgangslage widmeten.
Die bei diesem Modellprojekt von IJAB auch wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse sowie die entstandenen Arbeitshilfen zur Internationalisierung für Coaches und Organisationen der Jugendhilfe hat die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) aufgegriffen und ihre Initiative Welt-Öffner gestartet, in deren Rahmen 13 landes- und bundesweite Organisationen der Kulturellen Bildung mit der Unterstützung von erfahrenen Coaches ihre spezifischen Internationalisierungsstrategien entwickeln und in ihren Organisationsstrukturen verankern.
Mit dieser bundesweiten Initiative der BKJ wird ebenso wie mit dem nun schon 10 Jahre laufenden Vorhaben Kommune goes international versucht, endlich die kurzfristig angelegte – und im Bereich der Jugendarbeit leider viel zu weit verbreitete – Projektarbeit hinter sich zu lassen. Auswirkungen der Vorhaben sollen nachhaltig in die Fläche getragen und multipliziert werden und nicht – wie meist üblich – nach der Erstellung eines den Erfolg nachweisenden Projektabschlussberichts in der Schublade von Förderinstitutionen verschwinden.
Es sind also in den letzten Jahren auf vielfältigem Wege bereits wissenschaftlich belegte Erfolge mit der Zielrichtung der Internationalisierung von Einrichtungen, Strukturen und Organisationen erbracht worden, die nicht nochmals erarbeitet werden müssen, sondern die nun konsequent bundesweit Anwendung und Verbreitung bei öffentlichen und freien Trägern finden müssen. Hierzu wäre beispielsweise ein neuer Fördermechanismus erforderlich, der es den Vereinen, Verbänden, Organisationen und Einrichtungen der Jugendarbeit ermöglicht, sich einen zwei- bis dreijährigen Coaching-Prozess leisten zu können. Denn nur in solchen Zeiträumen gedacht können tatsächlich alle betroffenen Jugendarbeiter*innen, Gremien und Entscheidungsträger*innen gemeinsam den oben beschriebenen Paradigmenwechsel hin zur Internationalisierung der Jugendarbeit in ihrer ganzen Breite bewältigen und aktiv mitgestalten.
Die Auswirkungen einer solchen neuen Fördermöglichkeit sollten dabei unbedingt wissenschaftlich zeitnah untersucht werden, auch um erfolgreiche Entwicklungen rasch motivierend sichtbar zu machen und konzeptionell einordnen zu können. Der auch politisch gewollte und dringend angesagte Paradigmenwechsel hin zu einer Europäisierung oder Internationalisierung der Jugendarbeit (und Jugendhilfe insgesamt) wird nicht zum Nulltarif zu haben sein.
Die politische Zuständigkeit und Verantwortung für die Internationale Jugendarbeit liegt auf den ersten Blick zunächst allein in der Verantwortung des Bundes. Aufgrund der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland und der zahlreichen internationalen Beziehungen der einzelnen Bundesländer haben sich im Laufe der Zeit aber auch hier Zuständigkeiten und Profilierungen durch Beziehungen zu unterschiedlichen Partnerregionen weltweit entwickelt. Dies äußert sich dann etwa durch die Förderung von internationalen Jugendaustauschmaßnahmen oder durch Maßnahmen des internationalen Schul- und Schüler*innenaustauschs, der immer schon in der Verantwortung der Bundesländer lag. Darüber hinaus bieten eine Vielzahl von Städtepartnerschaften Möglichkeiten der Erfahrung von ‚Internationalität‘ auch auf der lokalen Ebene, wobei diese für alle Altersgruppen auch über Kinder und Jugendliche hinaus offenstehen und in ihrer Wirkung bisher auch wenig wissenschaftliche Auswertung erfahren haben. Die zuständigen Ministerien in den einzelnen Bundesländern bearbeiten das Themenfeld Internationale Jugendarbeit entweder selbst oder haben es an nachgeordnete Behörden oder nichtstaatliche Organisationen übertragen. Diese wirken in der Regel auch als sogenannte Länderzentralstellen für die Förderung internationaler Maßnahmen durch den Kinder- und Jugendplan des Bundes (KJP).
Diese Vielfalt der Ebenen und Akteure und ihr Zusammenwirken wird auf Bundesebene vor allem im Mitgliedernetzwerk von IJAB, der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit, gebündelt. Hier findet unter anderem ein Austausch über die vielfältigen Träger- und Angebotsstrukturen sowie die konzeptionelle und qualitative Weiterentwicklung des Feldes statt.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) hat 2020 die Position „Potentiale der Internationalen Jugendarbeit weiterentwickeln, stärken und nutzen“ veröffentlicht und auf die Bedeutung der Internationalen Jugendarbeit innerhalb der Jugendarbeit hingewiesen. Ihr Fazit lautet:
„Internationale Jugendarbeit braucht gesicherte Strukturen. Sie braucht insbesondere auch im europäischen Kontext den Dialog der Beteiligten – das heißt auch mit der Politik – auf allen Ebenen: Kommune, Land, Bund und EU sowie der Trägerorganisationen und der Jugendlichen selbst – über die Ländergrenzen hinweg. Das ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Demokratie, der internationalen Verständigung und zur europäischen Integration. Die Landesjugendämter und die Jugendämter auf kommunaler Ebene sind wichtige Akteure der Europäischen und Internationalen Jugendarbeit“.
Nach der Veröffentlichung dieser Position Ende 2020 wäre es nun interessant genauer zu verfolgen, ob dieses Statement tatsächlich auf den verschiedenen Ebenen etwas bewegt und ob die lokale Ebene bzw. die kommunalen Jugendämter sich verstärkt im Arbeitsfeld Internationale Jugendarbeit engagieren. Denn ihre Zuständigkeit sowohl für die lokale öffentliche als auch die von freien Trägern organisierte Jugendarbeit umfasst auch die Herausforderung, aus dieser lokalen Jugendarbeit heraus internationale Formate und Begegnungsmöglichkeiten für junge Menschen zu entwickeln. Solche ‚bottom-up-Entstehungsgeschichten‘ von Internationaler Jugendarbeit sind mit wissenschaftlichen Methoden auf ihre Gelingensbedingungen hin zu untersuchen, um breit gestreut im ganzen Land Nachahmer*innen motivieren zu können.
Einzelne Bundesländer wie z. B. Bayern haben eine Befassung zu Fragen der internationalen Jugendmobilität in ihren Landtagen durchgeführt. So tagte 2020 der Bundes- und Europaausschuss des Bayerischen Landtags zu dem Thema Internationale Jugendarbeit (PDF). Im Koalitionsvertrag (PDF, siehe S. 60) zwischen der CSU und den Freien Wählern wird z. B. ein Auslandsinstitut erwähnt, das für den internationalen Jugendaustausch zuständig sein soll. Durch die Corona-Pandemie wurden diese Pläne zunächst ausgebremst, sind nun im Frühjahr 2021 aber wieder konkreter in einer noch zu gründenden „Internationale Jugendstiftung Bayern“ aufgegriffen worden. Ziel der Stiftung ist es, den internationalen Jugendaustausch zu stärken.
Insgesamt haben die vielen Auslandsbeziehungen der Bundesländer oft wirtschaftliche Gründe. Darüber hinaus werden immer wieder einzelne zusätzliche Programme für den Jugend- und Schüler*innenaustausch beschlossen, die es in den Bundesländern jedoch nicht nur zu proklamieren, sondern auch mit finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten gilt. Eine umfassende, leicht zugängliche und regelmäßig aktualisierte bundesweite Übersicht der Programme und Aktivitäten der Bundesländer wäre ein lohnenswerter Schritt zu mehr Transparenz und leichterer Zugänglichkeit für viele ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende in der Jugendarbeit.
Eine gewisse strukturelle Verankerung von Internationaler Jugendarbeit auf der Ebene der Bundesländer ist in einigen Ländern durch die Einrichtung von landesweit tätigen Beratungs- oder Koordinierungsstellen bereits angegangen worden. Deren Erfahrungen und (Aus-)Wirkungen auf die Praxis im jeweiligen Land nach mehreren Jahren Existenz genauer zu betrachten und wissenschaftlich zu beleuchten, wäre sehr wünschenswert. So könnten weitere Bundesländer durch Erfahrungswerte motiviert werden, auf dieser Ebene Neues zu wagen. Ein Vergleich der Bundesländer miteinander zeigt, dass Internationale Jugendarbeit dann an Bedeutung gewinnt, wenn die Länder europäische und internationale Bezüge auch als eine ihrer Aufgaben und als einen wichtigen Aspekt ihres landespolitischen Profils sehen. Aktuell gibt es als Grundlage für internationale Strategien in der Jugendarbeit auf der Ebene der Bundesländer noch keine gebündelte Evaluation, wie die internationalen Profilierungen der einzelnen Bundesländer konkret aussehen und ausgestaltet werden.
Ganz aktuell und in den drohenden Kürzungsrunden der kommenden Haushaltsjahre gilt es zudem, die Auswirkungen der Pandemie auf die Jugendpolitik und die Haushaltsansätze vor allem der kommunalen Ebene zu beobachten. Hier wird sich zeigen, ob Internationale Jugendarbeit strukturell auf lokaler Ebene bereits gut verankert ist, oder doch wieder aufgrund mangelnder politischer Akzeptanz oder institutioneller Absicherung als Spielball bei Kürzungsbeschlüssen aufgrund geringerer Steuereinnahmen herhalten muss. Hier wäre eine vergleichende wissenschaftliche Analyse nützlich, die belegt, ob z. B. in Kommunen, die seit Jahren bei Kommune goes international (KGI) mitarbeiten und Internationale Jugendarbeit strategisch in ihrer kommunalen Jugendarbeitsstruktur verankert haben, die Auswirkungen der langfristigen Pandemiefolgen auf den internationalen Jugendaustausch weniger stark durchschlagen als bei vergleichbaren Kommunen, die sich noch nicht auf diesen Weg der Internationalisierung oder Europäisierung der lokalen Jugendarbeit gemacht haben. Hier wären die Effekte der lokalen Vernetzung, der strukturellen Verankerung, einer leicht zugänglichen Beratung und der kontinuierlichen Begleitung von Akteur*innen der Internationalen Jugendarbeit sicherlich gut auszuloten.
Die im Arbeitsfeld der Internationalen Jugendarbeit weit verbreitete Fokussierung auf internationalen Austausch greift trotz der damit gebotenen, intensiven Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten für junge Menschen letztlich als alleinstehendes Angebot zu kurz. Der Austausch, die Begegnung, die Auslandserfahrung müssen in Verbindung gebracht werden mit der Notwendigkeit, inter- und transkulturelle Sensibilisierung als gemeinsamen Bildungsauftrag der Institution Schule sowie der freien und öffentlichen Träger außerschulischer Jugendarbeit zu begreifen und als dringend angesagte Querschnittsaufgabe in all diesen Bereichen zu verankern.
Das Board on Cultural and Ethnic Diversity der European Federation of Psychologists Association (EFPA) hat sich in seiner Arbeitsplanung 2019–2021 ff. das Ziel gesetzt, eine grundständige Verankerung der Interkulturellen Psychologie in den Psychologie-Bachelorstudiengängen anzustreben. Da so ausgebildete Psycholog*innen auch in die Lehrer*innen-Ausbildung einbezogen sind, könnten auf diesem Weg eine dringend erforderliche inter- oder transkulturelle Sensibilisierung für verschiedene Konzepte, eine Erfahrungsorientierung und die (Selbst-)Reflexion erreicht werden.
Ein solcher Ansatz könnte natürlich über die Lehrer*innenausbildung hinaus auch in allen Formen der grundständigen Ausbildung von Jugendarbeiter*innen und in der Jugendhilfe Tätigen verankert werden. Da dies meistens nach wie vor aber nicht der Fall ist, hat sich im Feld der Internationalen Jugendarbeit auf bundesdeutscher, bilateraler und europäischer Ebene ein breites Spektrum von nichtformalen Fort- und Weiterbildungsangeboten entwickelt, das von haupt- und ehrenamtlichen Fachkräften genutzt werden kann. Hier spielen tatsächlich transkulturelle und diversitätsorientierte Fortbildungsangebote eine große Rolle. Ganz egal, ob es sich dabei um vom Deutsch-Französischen Jugendwerk geförderte Fortbildungen seiner Partner aus beiden Ländern handelt, ob Fortbildungen des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes oder der anderen bilateralen Fördereinrichtungen genutzt werden, ob Toolboxen von IJAB, der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit zum interkulturellen Lernen Reflexionsanlässe bieten oder ob das breitgefächerte multilateral angelegte Fortbildungsangebot von SALTO .auf europäischer Ebene genutzt wird, das in seiner Ausrichtung u. a. auf einer eigener „Inclusion & Diversity Strategy“ für die europäischen Jugend-Förderprogramme beruht: Spannend wäre es in jedem Fall, die konzeptionellen und praktischen Auswirkungen der Inanspruchnahme dieser Fortbildungsmöglichkeiten durch haupt- und ehrenamtliche Jugendarbeiter*innen auf ihre sich anschließende Praxis und ihre Jugendeinrichtungen zu untersuchen.
Neben dem Ansatz des Coachings von Trägern zur Internationalisierung ihrer Organisationen und Einrichtungen, neben der Verankerung europäischer, internationaler und transkultureller Aspekte in den Grundausbildungen von Jugendarbeiter*innen und Lehrkräften und neben der Einrichtung von Beratungsstellen für Internationale Jugendarbeit auf der Ebene von Bundesländern und Kommunen sind sicherlich noch weitere Ansätze vorstellbar, wie ‚das Internationale‘ in der ganzen Breite der Jugendarbeit strukturell verankert und damit zukunftssicher gemacht werden könnte. Hier gilt es aber zunächst, den politischen Willen für wirklich flächendeckende Angebote internationaler Erfahrungen für alle Kinder und Jugendlichen zu wecken, um überhaupt neue Ideen und Formen erproben und begleitend auf ihre Wirksamkeit hin erforschen zu können.
Die positiven Wirkungen für junge Menschen, die an internationalen Maßnahmen teilgenommen haben, sind mehrfach wissenschaftlich untersucht und belegt worden. Deshalb darf aus jugendpolitischer Sicht dieses Angebot nicht nur für eine bestimmte Bildungselite gemacht werden. Die richtige Forderung, allen jungen Menschen einen Zugang zu Angeboten der Internationalen Jugendarbeit zu eröffnen, wird immer deutlicher in der Fachdiskussion, aber auch in der jugendpolitischen Diskussion formuliert. Es gilt, Zugangsbarrieren verschiedensten Zielgruppen gegenüber abzubauen und eine größere Vielfalt an Formaten anzubieten, die den Interessen und Bedürfnissen von vielen jungen Menschen in ihren jeweiligen Lebensumständen entspricht. Jugendliche sind bei deren Gestaltung aktiv miteinzubeziehen.
Deshalb sollten sowohl alle Schultypen als auch alle Träger der außerschulischen Jugendarbeit den Umgang mit ‚dem Internationalen‘ als mögliche Arbeits- und Angebotsform für sich entdecken, ihn aus ihrer eigenen Logik heraus mit angemessenen Angeboten ausgestalten und jungen Menschen dadurch den Zugang zu diesem weiten Erfahrungsfeld erleichtern. Die dadurch bottom-up entstehende größere Vielfalt von Angebotsformen, Begegnungs- und Austauschformaten wird mit Sicherheit sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Lebenswelt und Lebenserfahrungen der jeweils erreichten jungen Menschen haben. Dieser Entstehungsprozess einer größeren Breite in der Internationalen Jugendarbeit müsste auf jeden Fall wissenschaftlich begleitet werden, um erfolgreiche Ansätze, aber auch Hindernisse deutlicher erkennen zu können und um deutliche Hinweise für zukünftig erforderliche zusätzliche Fördermechanismen abzuleiten. Dies würde mit Sicherheit zu einer Erweiterung des Mobilitäts-Puzzles (PDF) von Andreas Thimmel führen, das verdeutlicht, wie sich Formate des formalen Bildungs- und Ausbildungssystems, der nichtformalen Jugendarbeit und Jugendbildung sowie des pädagogisch begleiteten Kinder- und Jugendreisens ergänzen, um möglichst vielen jungen Zielgruppen in spezifischen Altersgruppen und Lebenssituationen eine jeweils passende und motivierende grenzüberschreitende Lern-und Lebenserfahrung anbieten zu können. Für dieses Puzzle gilt es in der Tat noch ein paar passende Teile zu (er)finden, damit ein vollständiges und bunteres Bild daraus wird, in dem jeder junge Mensch ein motivierendes und passendes Angebot finden kann.
Eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe ist es auch, die besondere Bedeutung der Teilnahme an einem internationalen Jugend- oder Schüler*innenaustausch klarer und besser darzustellen, damit die damit verbundenen Chancen und Qualitäten für Lehrer*innen und Jugendarbeiter*innen, die noch keinen Bezug zur internationalen Arbeit haben, leichter verstanden werden. Nur wenn diese Multiplikator*innen, die unter verschiedenen Umständen mit jungen Menschen zusammenarbeiten, transkulturelles Lernen und Begegnungserfahrungen als Methode und Angebotsform für sich entdecken, kann es längerfristig zu einer Abbildung der Vielfalt der Milieus, Schichten, Zielgruppen und der Diversität der jungen Menschen der Gesellschaft unter den Teilnehmende}n in der Internationalen Jugendarbeit kommen. Ziel muss weiterhin die breitere Zielgruppenerreichung bleiben, bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Abdeckung. Dazu bedarf es einer (jugend)politisch gewollten und wissenschaftlich begleiteten Strategie zur Vernetzung aller örtlichen, regionalen, bundesweiten freien und öffentlichen Träger und ihrer Angebote im Jugend- und Schüler*innenaustausch sowie anderer Mobilitätsangebote.
Eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit im Selbstverständnis der Internationalen Jugendarbeit ist darauf ausgerichtet, allen jungen Menschen Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen und zu Teilhabe zu ermöglichen. Vielfalt wird als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, die Sensibilität für Diskriminierungen und Ausschlussmechanismen aber noch nicht per se erhöht. Die Lebenswelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen muss Ausgangspunkt und Gegenstand von Bildungsprozessen sein, die in der Internationalen Jugendarbeit angestoßen werden. Bildung soll dazu befähigen, Probleme der eigenen Lebenswelt zu benennen und zu identifizieren, um diese im Kontext der gesellschaftlich-historischen Verursachungszusammenhänge begreifen zu lernen und so lokales, internationales und globales Handeln miteinander verbinden zu können. Die Internationale Jugendarbeit schafft Rahmenbedingungen, in denen junge Menschen gemeinsam lernen, sich selbst entfalten und Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können. Neben der Partizipation junger Menschen geht es auch um deren gezielte Interessensvertretung, nicht nur zur Sicherung von Rahmenmöglichkeiten Internationaler Jugendarbeit, sondern darüber hinaus zur gesellschaftlichen und politischen Mitgestaltung auch von internationalen Zusammenhängen.
Viele Jugendliche benötigen mehr, richtige und genauere Informationen, und sie benötigen Zuspruch und Ermunterung, ggf. heranführende „Schnupper“erfahrungen und vor allem Formate, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Besonders hilfreich sind vertrauenswürdige Personen, die eigene internationale Erfahrungen haben, Bedenken zerstreuen können und für die Sinnhaftigkeit von internationalem Jugendaustausch einstehen. Nur dann können Jugendliche, die bisher glauben oder die Erfahrung machen, dass internationale Angebote nicht für sie gedacht seien, erreicht werden. Es muss auf die Ängste und Bedürfnisse von jungen Menschen, die noch nie im Ausland waren, eingegangen werden. Gut geeignete motivierende Formate für Jugendliche in Programmen Internationaler Jugendarbeit sind:
Gute Einstiegsmöglichkeiten bieten auch: kurzfristige Kennenlern- und Anbahnungsformate und unter bestimmten Umständen auch Formate, bei denen junge Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte als ‚Reiseleitung‘ für das Gastland und Herkunftsland der eigenen Familie fungieren können. Informationsabende mit authentischen Erlebnisberichten von jungen Menschen oder mit landeskundlichen Informationen in Einrichtungen der Jugendarbeit sind ebenfalls gut geeignet. Sicherlich ist diese Liste noch um viele weitere Ideen erweiterbar.
Eine wissenschaftliche Betrachtung von möglichst vielen verschiedenen sogenannten ‚Einstiegsformaten‘ wäre sinnvoll, um weitere Fragestellungen zu klären:
Eine wissenschaftliche Überprüfung der tatsächlichen Bedeutung und Auswirkungen von unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen, sowie von Bildungs-, Jugend-, Schul-, Sozialpolitik auf das Ziel hin, allen jungen Menschen ein Mobilitätsangebot zu machen, sollte unternommen werden.
Wer als Fachkraft selbst an einer Austauschmaßnahme teilgenommen hat, sei es in jungen Jahren oder im Rahmen der Ausbildung oder Tätigkeit, kann die verschiedenen Dimensionen dieser Erfahrung weitaus besser vermitteln als jemand ohne persönliche internationale Erfahrung in der internationalen Pädagogik und Didaktik. Um als haupt- oder ehrenamtliche Fachkraft überhaupt die Möglichkeit zu haben, z. B. im Rahmen einer Fortbildung eine grenzüberschreitende Begegnungserfahrung zu machen, muss Jugendarbeit insgesamt personell und finanziell ausreichend ausgestattet sein.
Durch die noch stärkere Vernetzung der einzelnen Felder und Akteure in der vielfältigen Trägerlandschaft der Internationalen Jugendarbeit und durch einen intensiveren fachlichen Austausch der Lehrkräfte und Jugendarbeiter*innen könnten vermehrt Synergieeffekte genutzt werden, da gemeinsame Interessen und Zielsetzungen vorliegen. Hierzu sollten Vernetzungstreffen von IJAB, der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit, oder der Initiative „Austausch macht Schule“ trägerübergreifend genutzt und wissenschaftlich unterstützt werden.
Eine klare Aussage der Zugangsstudie ist die Forderung nach einer stabilen, funktionierenden und adäquat ausgestatteten Jugendarbeit vor Ort als Ausgangspunkt auch für neue Formen und Formate der Internationalen Jugendarbeit, die aus den jeweils spezifischen Gegebenheiten der jungen Menschen und der Jugendarbeiter*innen vor Ort entwickelt und umgesetzt werden sollen. Dies würde eine Entwicklung hin zu mehr Teilhabe von jungen Menschen in verschiedensten Lebenslagen an grenzüberschreitenden Lern- und Lebenserfahrungen bedeuten.
Aktuell ist der gängige Ansatz ein völlig anderer: Sowohl junge Menschen als auch ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter*innen in der Jugendarbeit und Jugendbildung haben zunächst ein großes Informations- und Lernpensum zu absolvieren, wenn sie sich erstmals für Internationale Jugendarbeit interessieren und die Planung eines ersten Begegnungsvorhabens angehen wollen: Welche Form muss unsere Begegnung haben, damit sie überhaupt öffentlich gefördert werden kann? Welche thematischen Inhalte werden verlangt und wie muss unsere Gruppe zusammengesetzt sein? Welche Institution wäre überhaupt für die Förderung unserer Begegnung zuständig? Ist das dann auch die Stelle, wo wir unseren Antrag stellen müssen, oder doch nicht? Welche Fristen muss ich einhalten und wie viele Monate Vorplanung verlangen diese Fristen von uns? Wie hoch wird überhaupt gefördert und wie groß sind unsere Chancen überhaupt in dieser Höhe gefördert zu werden? Was machen wir, wenn wir eine Absage bekommen?
Sicherlich gibt es für die Beantwortung dieser und aller weiteren sich noch stellenden Fragen das eine oder andere Unterstützungsangebot, z. B. in Form von sogenannten Zentralstellen bei Bundesverbänden der Jugendarbeit, bei den Obersten Landesjugendbehörden oder einzelne von Kommunen oder Bundesländern vorgehaltene Beratungsstellen. Diese sind jedoch für lokale Träger gefühlt oftmals sehr weit entfernt und die Flut der Informationen und Regelungen, die zu beachten sind, können auch Beratungsstellen nicht verringern.
Es steht zu erwarten, dass durch die Einrichtung neuer Jugendwerke und Förderinstitutionen, die nochmals neue Richtlinien und Regelungen mit sich bringen werden, diese Komplexität und damit große Hürde für Neueinsteiger*innen in die Internationale Jugendarbeit eher noch größer werden wird.
Dementsprechend ist die logische Folge aus der oben genannten Forderung aufgrund der Erkenntnisse der Zugangsstudie für Deutschland recht radikal: Wenn Formen und Formate der Internationalen Jugendarbeit zu künftig stärker von jungen Menschen und Jugendarbeiter*innen vor Ort aus ihren lokalen Gegebenheiten heraus entwickelt werden sollen, dann ist mit einer Vielzahl neuer Ideen zu rechnen, die in die aktuellen Förderschemata nicht hineinpassen werden. Aber sind sie deshalb schlechter als die wenigen aktuell anerkannten und öffentlich geförderten Formen?
Es braucht also den Mut zu mehr Offenheit und Flexibilität, um die zu erwartenden vielfältigen neuen grenzüberschreitenden Projektideen von ‚der Basis‘ aufnehmen, auch finanziell unterstützen und damit verwirklichen zu können.
Eine solche neue Herangehensweise, die für ein ernstgemeintes flächendeckendes Angebot Internationaler Jugendarbeit für alle Jugendlichen in unserem Land unabdingbar sein wird, erfordert gleichzeitig natürlich einen aufmerksamen wissenschaftlichen Blick auf die entstehenden Formate und Dynamiken, beispielsweise: Wie unterscheidet sich die Formatentwicklung, die nur durch Jugendliche geschieht von der, die von lokalen Trägern der Jugendarbeit gestaltet wird? Welche Auswirkungen haben diese Unterschiede auf die Inhalte, die Qualität und die Wirkungen internationaler Maßnahmen?
Erste Erkenntnisse können sicherlich aus dem Vorhaben „Neue Formate und Wege zur Teilnahme“ des Netzwerks Forschung und Praxis im Dialog – Internationale Jugendarbeit gewonnen werden, das in Form von Zukunftswerkstätten jungen Menschen ohne Bezug zur Internationalen Jugendarbeit das Angebot macht, ihr eigenes ‚Einstiegsformat‘ in grenzüberschreitende Erfahrungen zu entwerfen. Im Zusammenhang mit diesem Vorhaben wurde von Dr. Helle Becker auch die Expertise zu „Einstiegsformaten“ (PDF) erstellt, die im Falle der Flexibilisierung der allzu sehr dem 20. Jahrhundert verhafteten Fördermechanismen um so manche gute Idee und neuen Gedankengang erweitert werden könnte.
Wer Politik als ‚miteinander reden, damit miteinander gehandelt werden kann‘ versteht, kann sich leicht ausmalen, wie vielschichtig die politischen Dimensionen des grenzüberschreitenden Austauschs wohl sind und auch wie viel Redebedarf zukünftig noch zwischen Forschung und Praxis der Internationalen Jugendarbeit besteht, um einzelnen dieser Dimensionen auf den Grund zu gehen.
Deshalb seien an dieser Stelle exemplarisch folgende, zu klärende Fragestellungen genannt, die gemeinsam von Wissenschaft und Praxis in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten sind:
Im Bereich des Austauschs mit jungen Menschen und Partnern aus Ländern des Globalen Südens sollte die Forschung die aktuelle Diskussion aufgreifen, dass sich koloniale Settings und Machtstrukturen in der Begegnung wiederholen. Diese Ausgangslage könnte mit einer ermächtigenden Perspektive befruchtend genutzt werden: Die Feststellung, dass Praxis im Rahmen von Begegnungen Kontexte kreiert, die koloniales Denken, Handeln und Fühlen reproduzieren, eröffnet die Chance, Jugendlichen erfahrungsorientiert und reflexiv dieses Thema nahezubringen und es mit ihnen gemeinsam zu bearbeiten. Wünschenswert wäre hier durch qualitative Forschung die Herstellung solcher kritischen Konstellationen sichtbar zu machen, genauso wie die individuellen und kulturellen Verarbeitungsformen der jungen Menschen. Daran anschließend sollten dann Lernumgebungen gestaltet werden, in denen die Jugendlichen aus allen beteiligten Ländern die aktiv gestaltende Rolle einnehmen und in denen Möglichkeiten sozialen (Neu)Aushandelns nach einer Machtreflexion zugelassen und erprobt werden können.
Die Internationale Jugendarbeit ist in den Jahren 2020 und 2021 besonders betroffen von der Corona-Pandemie. Das im Wesentlichen auf dem Konzept und den Lerneffekten der Mobilität beruhende Arbeitsfeld steht angesichts der lang andauernden deutlich eingeschränkten Reise- und Begegnungsmöglichkeiten vor immensen Herausforderungen. Im Sommer 2020 und auch danach mussten zahlreiche Begegnungsmaßnahmen, sei es von Jugendlichen oder Fachkräften, abgesagt oder verschoben werden.
Als Alternative blieb häufig nur ein Ausweichen in den digitalen Raum bzw. die Nutzung digitaler Tools, um Begegnungen, Vorbereitungstreffen, Besprechungen, Seminare etc. überhaupt zu ermöglichen. Diese virtuellen Tools sind von vielen Fachkräften und auch jungen Menschen teils intensiv genutzt worden. Die Plötzlichkeit und Intensität, mit der die Pandemie mit ihren Auswirkungen im Frühling 2020 das Arbeitsfeld gewissermaßen überrollte, hat für einen deutlichen Digitalisierungsschub gesorgt. So gaben in einer ersten Umfrage des europäischen Forschungsnetzwerks RAY (PDF) zur Situation der Jugendarbeit insgesamt 58 % der Befragten an, dass mehr als ein Drittel ihrer Tätigkeiten in den digitalen Raum verlagert wurden. Nichtsdestotrotz haben 42 % weniger als ein Drittel transferieren können, davon 7 % überhaupt keine. Dieser Befund, so ist anzunehmen, würde für den engeren Bereich der Internationalen Jugendarbeit, der in der Studie nicht explizit erhoben wurde, sicher noch eindeutiger ausfallen. Ein Großteil der geplanten Maßnahmen der Internationalen Jugendarbeit sind laut einer Befragung von IJAB (PDF) im Sommer 2020 ausgefallen und nicht durch virtuelle Aktivitäten ersetzt worden. Gefragt nach guten Beispielen für internationalen virtuellen Austausch musste der Großteil der Teilnehmenden verneinen: 94 Befragte konnten keine und nur 29 konnten solche Beispiele benennen.
Es ist also davon auszugehen, dass die Verschiebung der Tätigkeiten in den virtuellen Raum größtenteils spontan und in improvisierter Form erfolgte. Dabei machten viele haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte, die neuen digitalen Instrumenten bisher zögerlich gegenüberstanden, durchaus positive Erfahrungen, und die Erkenntnis wuchs, dass digitale Formate nicht nur möglich, sondern auch bereichernd sind (vgl. dazu auch IJAB (Hg.): IJAB-Journal 2/2020. Im Fokus: Internationale Jugendarbeit im virtuellen Raum, Dezember 2020). Doch fehlt es bisher an systematischen Erfahrungserhebungen und Erkenntnissen. Für die Praxis sind folgende Prozesse und Fragestellungen im Kontext von Internationaler Jugendarbeit und Digitalisierung von besonderem Interesse, die wissenschaftlich bearbeitet werden sollten:
Es braucht also eine „Pädagogik des Digitalen“ für den Bereich der Internationalen Jugendarbeit, die die Werte, Grundsätze, Standards und Qualitätsanforderungen an Jugendarbeit beachtet und für den digitalen Raum adaptiert. Diese Pädagogik sollte von Anfang an unter wissenschaftlicher Begleitung und unter Einbeziehung junger Menschen entwickelt und umgesetzt werden, um Erkenntnisse und Antworten zu den oben skizzierten Fragestellungen zu liefern und um konzeptionell zeitgemäß sowie zukunftssicher aufgestellt zu sein.
Es gibt gute Hinweise, dass digitale Jugendarbeit Angebote unter bestimmten Umständen zugänglicher und damit passgenauer machen kann. Möglichkeiten und Räume für Erfahrungen und Reflexion zu schaffen, in denen junge Menschen eine kritische, innovative und wertebasierte Perspektive auf die digitale Transformation entwickeln und zu Mitgestaltenden einer positiven digitalen Zukunft werden können, geht mit den aktuellen Anforderungen, wie auch die Pandemie aufzeigt, einher. So lautet denn auch eine der Hauptforderungen in den Europäischen Leitlinien für digitale Jugendarbeit an Politik und Förderinstitutionen: Investieren Sie in die kontinuierliche Forschung über die Wirkungszusammenhänge digitaler Jugendarbeit.
Das europäische Forschungsnetzwerk RAY startet in 2021 ein Sonderprojekt (Titel RAY DIGI), indem die Dimensionen der Digitalisierung und der Fortschritt bei der Digitalisierung in den europäischen Förderprogrammen Erasmus+ Jugend in Aktion und Europäisches Solidaritätskorps untersucht und dokumentiert werden sollen. Vorrangiges Ziel dabei ist die Entwicklung von Empfehlungen zur Stärkung und Unterstützung der digitalen Dimension in der Jugendarbeit. Mit speziellem Fokus auf die europäischen Förderprogramme im Jugendbereich werden dabei einige der oben skizzierten Fragen aufgegriffen. Hier wäre also zu wünschen, dass sich weitere Forschungsvorhaben auch im nationalen Kontext mit der europäischen Forschung verknüpfen und mögliche Synergien genutzt werden.
Forschung im Bereich des internationalen Jugendaustauschs muss offensiver genutzt werden und Erkenntnisse müssen für die Praxis leicht zugänglich und nutzbar aufbereitet werden.
So gilt es, ein vertieftes Verständnis latenter Zuschreibungen und Funktionen der Internationalen Jugendarbeit in Deutschland zu gewinnen und besser zu erkennen, welche Aufgaben dieser Bereich für die Gesellschaft übernimmt. Sich dessen neu bewusst zu werden und zu bewerten, ob bzw. wie diese Aufgaben überhaupt erfüllt oder auch nicht erfüllt werden (wollen), ist aktuell angesagt.
Bereits vor der Pandemie hat das Feld der Internationalen Jugendarbeit damit begonnen, sich selbst unter klimapolitischen Gesichtspunkten zu reflektieren. Ein Thema, das durch den raschen Digitalisierungsschub noch an Bedeutung und Vielschichtigkeit gewonnen hat und das unbedingt ab sofort auch gemeinsam mit Forscher*innen weiter bearbeitet werden muss. Auf Seiten der Wissenschaft ist dies ohne eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit mit Forschungsrichtungen, die sich bisher nicht für das Feld der Internationalen Jugendarbeit interessiert haben, nicht denkbar.
Wichtig bei aller zukünftigen wissenschaftlichen Begleitung von Praxisentwicklung ist, dass diese nicht nur während einer Projektphase ermöglicht wird, sondern dass auch die notwendige vorgeschaltete gemeinsame Reflexion der Forschungshaltung sowie mögliche Wirkungszeiträume nach einer Projektphase mit in den Blick (und die Finanzierung) genommen werden.
In einer weltweit so besonderen Situation wie der aktuellen Pandemie kommen das Arbeitsfeld der Internationalen Jugendarbeit und die an ihr interessierten Forschungsinstitutionen auch nicht an der Sicherung der Datenevidenz zu einer ganz klaren Frage vorbei: Was wurde vor der Pandemie gefördert und was bleibt davon danach noch erhalten?
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V. und Forschung und Praxis im Dialog – Internationale Jugendarbeit (Hrsg.) (2021): Reader „Internationaler Jugendaustausch wirkt. Forschungsergebnisse und Analysen im Überblick“. Bonn/Köln