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Ein Wal in der Innenstadt
Aus der Praxis

Ein Wal in der Innenstadt

Projekt „Oederaner Umweltdetektive“, Stadtbibliothek Oederan, im Rahmen von „Total Digital! Lesen und erzählen mit digitalen Medien“ des Deutschen Bibliotheksverbandes

veröffentlicht:
Bild: Stadtbibliothek Oederan

Junge „Umweltdetektive“ rüsten sich mit Mikro, Kamera, Klebestift und viel Fachwissen aus und begeben sich auf die Spur von Müll und Umweltverschmutzung in ihrer Nachbarschaft. Über ein Projekt einer Stadtbibliothek, das den Alltag in Familien verändert hat.

Von Bianca Kahl

Copyright: Bild: Stadtbibliothek Oederan
Copyright: Bild: Stadtbibliothek Oederan
Copyright: Bild: Stadtbibliothek Oederan
Bild: Stadtbibliothek Oederan

Bonbonpapierchen und Bäckertüten verschmutzen immer wieder die Straße zur Stadtbibliothek von Oederan und Ina Kozanek bittet häufig Jugendliche, den Müll aufzuheben. Es bot sich an, auch im Ferienprogramm dem Sachverhalt auf die Spur zu gehen: „So viele Menschen werfen unachtsam ihren Müll auf die Straße. Zumindest die nächste Generation sollte wachsam sein und in die Lage versetzt werden, das drängende Müllproblem auf der Welt aktiv anzugehen“, erzählt die Bibliotheksleiterin zur Idee der „Oederaner Umweltdetektive“.

Ein Wal-Plakat in Zeiten von Wahlplakaten

Insgesamt 130 Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren wurden in den Sommerferien 2021 zu Umweltdetektiv*innen. Aber noch viel mehr Menschen hat das Projektteam erreicht: Während man überall in Deutschland Wahlplakate aufhängte, hing in Oederan ein Wal-Plakat. Eine Skulptur aus Müll. „Hilf mir“ stand darauf in englischer und deutscher Sprache, inmitten eines Netzes voller Plastikflaschen. Ein künstlerischer Schrei nach Aufmerksamkeit auf dem Marktplatz einer sächsischen Kleinstadt. Menschen ließen sich mit dem Wal fotografieren und die Presse berichtete ebenfalls über das Kunstwerk der Kinder.

„Noch heute sprechen mich Eltern an und erzählen mir, wie sich ihr Familienleben verändert hat“, erzählt Ina Kozanek. Die Kinder achten z. B. ganz genau darauf, was die Produkte enthalten, die eingekauft werden, und halten ihre Eltern dazu an, im Laden lieber das Obst ohne Verpackung auszuwählen. Auch privat organisierte Müllsammelaktionen in der Nachbarschaft fanden bereits statt. „Das Thema ist definitiv in den Familien angekommen“, freut sich die Initiatorin.

Kunst aus der Tonne

Die Werbung in den Schulen und bei der Jugendfeuerwehr hatte sich gelohnt: Etwa zwölf Kinder kamen zu den Projekttagen, doch aufgrund der Urlaubszeit waren es jede Woche andere. An den ersten beiden Projekttagen ist Ina Kozanek noch ein wenig nervös gewesen: Auf dem Plan standen ein Vortrag über Umweltschutz und die Recherche in Büchern. Sie hatte fast damit gerechnet, dass die Kinder dies in den Ferien eher langweilig finden. Das Müllsammeln und Upcycling mit gesammelten Wertstoffen, die Tonaufnahmen, Fotos und Filme waren schließlich erst für die nachfolgenden Tage und Wochen geplant. „Doch die Kinder waren von Anfang an interessiert und dann ganz stolz, als sie selbst eine Präsentation zum CO2-Fußabdruck oder zum Müllkreislauf halten konnten“, erinnert sich die Bibliotheksleiterin, die sich für das Projekt Unterstützung von zwei Medienpädagogen und zwei Kunstpädagoginnen geholt hatte.

In Workshops lernten die Kinder das Fotografieren und die Bildaufbereitung sowie das Filmen mit Smartphone und Tablet, etwas über Perspektive und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Gruppe diskutierte und argumentierte zu Fragen wie „Warum ist Umweltschutz wichtig und notwendig?“, „Ist ‚Greta‘ ein Vorbild?“ oder „Wie werden wir Schritt für Schritt zu Umweltheld*innen?“ Dabei zeigte sich, dass die Kinder selbst die besten Fragen stellen konnten und später auch Erwachsene damit in Interviews konfrontierten. Sie fragten auf Baustellen, in einem Modegeschäft und auf der Straße Menschen dazu, was sie vom Klimawandel halten, wie Plastikmüll vermieden werden kann und was sie selbst besser machen könnten. Mit Interviewtechniken und geschulter Beobachtungsgabe sowie Argumentationshilfen bekamen die Detektiv*innen das Rüstzeug, um für das Klima zu streiten. „Am Ende nahmen alle, die ‚verhört’ wurden, lachend einen Eimer“, so Ina Kozanek. Der wurde überreicht, um zur aktiven Mithilfe beim Müllsammeln anzuregen.

Das Erzgebirge im Kleinen

Oederan ist eine Kleinstadt in der Nähe von Chemnitz. Mit allen 11 Ortsteilen zählt sie 8.000 Einwohner*innen. Das Bekannteste hier ist das „Klein-Erzgebirge“ – ein Miniaturpark mit den sächsischen Kirchen und Schlössern in Buchsbaumgröße. Darüber hinaus gibt es noch ein Erlebnisbad und ein paar Museen in der Gegend. Die kleine Stadtbibliothek hat drei Mal in der Woche geöffnet. Nach dem Motto „Ausleihen statt Kaufen“ stehen in farbigen Regalen insgesamt rund 18.000 Medien auf zwei Etagen für Umweltbewusste, Sparfüchse und Entdecker*innen bereit. Zu Bilderbuchkino, Lesesommer und Bücherkisten kommen im Sommer 2021 die „Umweltdetektive“ als Angebot hinzu. In einer Kleinstadt, in der es sonst nicht viele Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche gibt, ist eine eigene Stadtbibliothek mit einem Ferienprogramm ein besonderer Ort.  

Die Leiterin der Stadtbibliothek und ihre Kollegin werden hin und wieder von Ehrenamtlichen unterstützt. Auch bei den Müllsammelaktionen der Oederaner Umweltdetektiv*innen fassten sie mit an. „Unsere Ausflüge führten uns zum Beispiel auf einen Spielplatz“, so Ina Kozanek. Mit Warnwesten und Müllzangen ausgestattet machten sie sich auf den Weg und waren ganz stolz, wenn sie von neugierigen Passant*innen angesprochen wurden.

Heiße Spur führt zu Eigenverantwortung und Courage

Auch eine ortsbekannte Jugendgruppe am beliebten Treffpunkt hinter einer alten Turnhalle wurde kurzerhand angesprochen und dazu aufgefordert, die Ärmel hochzukrempeln: „Helft mit! Dann sind wir auch schnell wieder weg“, hatte Ina Kozanek zur Tatkraft aufgefordert und tatsächlich fassten einige mit an und räumten auch ein, den Müll von allein gar nicht mehr wahrzunehmen. „Die Kinder haben also gesehen: Gemeinsam können wir etwas erreichen und auch andere überzeugen, aktiv zu werden.“ Eigenverantwortung übernehmen, Courage zeigen – das war wohl die wichtigste Erkenntnis.

Während die angesammelten Berge von leeren Trinkflaschen, Essensverpackungen, Tablettenschachteln, alten Windeln, Kondomen und Gipskarton immer größer wurde, wuchs auch das Verständnis und zugleich die Empörung der Kinder: vom Bächlein zum Flüsslein und letztlich zum Meer. „Beim Müllsammeln hat es Klick gemacht und die Kinder sagten selbst: So geht das nicht weiter. Wir müssen aktiv werden und öffentlich auf das Problem aufmerksam machen“, erzählt Ina Kozanek.

Bleibende Eindrücke

Die Kinder nahmen also nicht nur Upcycling und Umwelttipps mit nach Hause und entwarfen Tischdeko oder Roboter aus Verpackungsmüll. Gemeinsam entschieden sie sich dazu, größere Ziele zu stecken: Zum Fischschwarm aus entsorgten CDs sollte sich ein dicker Fisch gesellen, etwas Wirkungsvolles. „Die Mädchen und Jungen hielten ein Meerestier für besonders passend, um zu zeigen, wer am Ende unter der fahrlässigen Umweltverschmutzung leidet“, erklärt die Bibliothekarin. „Also haben wir aus gesammeltem Müll und einer alten Folie einen großen Wal gestaltet und ihn mithilfe einer Palette gesichert.“ Ein Wal, der in Plastikflaschen ertrinkt und die Menschen dazu auffordert, ihm zu helfen. Er wurde in der Innenstadt aufgestellt und blieb dort nicht allein.

Die Kinder haben also gesehen: Wir können etwas erreichen, auch wenn wir mit Gegenwind rechnen müssen.

Ina Kozanek

Die Umweltdetektiv*innen haben auch Plakate mit stilisierten Papiertaschentüchern und Zigaretten an den Brennpunkten aufgehängt, wo der meiste Müll in Oederan anfällt. Sie haben mit ihren Plakaten aufgezeigt, wie lange einzelne Objekte brauchen, um in der Natur zu verrotten. Zur Abschlussveranstaltung kam sogar der Bürgermeister vorbei.

„Eins ist sicher: Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende“, findet die Bibliotheksleiterin. Sie hat bereits weitere Aktionen in Schulen und mit Kita-Gruppen geplant. Und Material für die Projekte liegt sprichwörtlich auf der Straße.

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2022): Nachhaltigkeit – schaffen wir das, erschaffen wir was?, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 22-2022. Berlin. S. 46 – 49.