Skip to main content
home
chevron_right
Magazin
chevron_right
Ein Tonstudio im Klassenraum: jede*r bekommt eine Stimme
Aus der Praxis

Ein Tonstudio im Klassenraum: jede*r bekommt eine Stimme

„X-Vision Song Lab: Vom Gedanken zum fertigen Song“, Bochum

veröffentlicht:
Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou

Mit einem mobilen Musikstudio macht es das Team von X-Vision-Ruhr und den Falken Bochum möglich, dass Jugendliche ihren eigenen Rapsong schreiben, rappen und produzieren.

Copyright: Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou
MIXED UP Preisverleihung 2024 Copyright: Bild: Navina Fotografiert
MIXED UP Preisverleihung 2024 Copyright: Bild: Navina Fotografiert
MIXED UP Preisverleihung 2024 Copyright: Bild: Navina Fotografiert
MIXED UP Preisverleihung 2024 Copyright: Bild: Navina Fotografiert
DCIM100MEDIADJI_0241.JPG Copyright: Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou
Copyright: Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou
Copyright: Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou
Copyright: Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou
Bild: Burak Altinok / Amin Pouryousefi / Jona Boubaou

Nervös schleichen die Schüler*innen um den Klassenraum herum. Sie wissen nicht, was sie erwartet, nur „etwas mit Musik“ hat die Klassenlehrerin versprochen. Das hatten sie sich für ihre drei Projekttage vor den Sommerferien gewünscht. Von drinnen hören sie Stimmen und Stühle und Tische, die offenbar verschoben werden. Die Jugendlichen sind aufgeregt.

Visionen verwirklichen

Als sich endlich die Tür öffnet, stehen da zwei Personen, wie sie überall anzutreffen sind. „Das ist ein echter Gamechanger“, erzählt Amin Pouryousefi schmunzelnd. Er ist Teil der Geschäftsführung und Projektplaner bei X-Vision-Ruhr und macht Musik, seit er als 13-Jähriger mit seinem Bruder aus dem Iran geflüchtet ist. „Das ich einer von ihnen bin, macht vieles einfacher.“ Selbst diejenigen, die zu Beginn der Projekttage noch schüchtern und zurückhaltend sind, öffnen sich spätestens dann, wenn Amin von sich erzählt.

Er und sein Bruder haben sich schon früh für Musik, vor allem Rap und HipHop begeistert, nur war der Zugang für geflüchtete Kinder nicht der Einfachste. Aber in der Musikschule Bochum bekamen sie eine Chance und konnten für wenig Geld musizieren. 2008 kam dann die Idee mit X-Vision: „Jede*r kann mit einer Vision zu uns kommen und sich ausprobieren. X ist eine Unbekannte. Wir helfen dabei, die Vision in Schwung zu bringen“, sagt Amin.

Musik als Bildungsinstrument

Einige sind noch etwas zurückhaltend, andere gehen mit forschen Schritten in den neu gestalteten Klassenraum, der als solcher kaum wieder zu erkennen ist. Vielmehr eröffnet sich vor den Jugendlichen ein Tonstudio. „Wir bringen alles mit: Kopfhörer, Studioboxen, Lautsprecher und ein mobiles Mischpult.“ Aber an diesem ersten Tag soll es erst einmal nur um die Texte gehen. Es werden Grundlagen erklärt, worauf es beim Songwriting ankommt und wie eine Idee entsteht.

Burak Altinok ist nicht nur der zweite Geschäftsführer bei X-Vision, sondern auch zuständig für die Ideenfindung beim Texten: „Ich lasse die Kids immer erstmal machen“, manche seien zu Beginn oft überfordert. „Wer sprachlich noch nicht so weit ist, kann auch in seiner Muttersprache schreiben und dann helfen wir oder die Kinder sich gegenseitig.“

Gefördert wird Kreativität, Teamarbeit, Respekt und kritisches Denken. Häufig sind das die Themen der Texte. Die Kinder lernen zu reimen und aus scheinbar zusammenhanglosen Stichpunkten echte Raps zu schreiben. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt: Egal, ob Demokratie, Toleranz, Migration, Rassismus, Diskriminierung – fast alles ist möglich. „Nur Liebeskummer klammern wir aus, das ist zu persönlich“, ergänzt Amin zwinkernd.

Schon seit der Gründung von X-Vision arbeitet das Team mit Schulen zusammen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf solchen mit einem hohen Anteil an migrantischen Kindern. Außerdem achten Burak und Amin darauf, dass die Schulen, kreative Bildung und soziale Kompetenzen fördern. „Ich finde das großartig, was X-Vision-Ruhr leistet. Sie nehmen Musik als alternativen Lehransatz und nutzen es als Bildungsinstrument“, sagt Beatrice Röglin. Sie ist Projektkoordinatorin bei den Falken Bochum und arbeitet schon seit 2008 mit X-Vision zusammen.

Aber nicht nur das, als Sozialarbeiterin verfügt sie über ein großes Netzwerk und hilft dabei Kooperationen zu finden, Anträge zu schreiben, und kümmert sich um die Fördermittelakquise. „Wir sind ein multiprofessionelles Team, indem ich den kultur-pädagogischen Teil übernehme.“

Vielfalt und Gemeinschaftsgefühl

Am zweiten Tag des Projekts wird es schon ernster. Jetzt geht es ans Eingemachte. Die frisch geschriebenen Reime, Texte und Strophen werden laut vorgelesen und in der Gruppe besprochen. Ein erster Beat wird produziert und geguckt, wie sich die Texte ins Timing fügen könnten. „Am Anfang haben manche regelrechte Angst, mit denen gehe ich dann erst einmal kurz vor die Tür und wir üben unter vier Augen“, berichtet Burak. Aber die Angst bleibt nicht, denn mit dem nötigen Feingefühl ist viel möglich. „Am letzten Tag wurden wir schon öfter mal nach Hause zum Essen eingeladen.“

Das Angebot ist bewusst alters- und jahrgangsübergreifend konzipiert. Das mobile Musikstudio kommt zu Grundschulen, genau wie zu weiterführenden Schulen und Berufskollegs. Jüngere und Ältere können so zusammen lernen und gleichermaßen profitieren. Diese Vielfalt fördert den Austausch zwischen verschiedenen Altersgruppen und stärkt das Gemeinschaftsgefühl nachhaltig.

Eigene Perspektiven einbringen

Was jetzt folgt, ist das Rhythmustraining. „Hier stimmen wir die Texte und Beats aufeinander ab“, sagt Amin und schiebt die Regler an seinem Mischpult hoch und runter. Auf den verschiedenen Monitoren bilden sich Kurven und Abschnitte, die für einen Laien unwirklich scheinen. Im Anschluss werden die Aufnahmen geprobt, bevor dann der fast letzte Schritt folgt: Die Aufnahme.

„Vorher wird noch besprochen, wer welche Rolle übernimmt und welchen Songpart rappt.“ Jeder soll zu Wort kommen. Der Song ist ein Gemeinschaftsprojekt einer ganzen Klasse, nicht eines einzelnen. Durch das direkte Engagement in der Produktion können die Jugendlichen ihre Perspektiven zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen formulieren und umsetzen.

Was X-Vision-Ruhr mit den Jugendlichen macht, ist nicht nur kreativ, sondern fördert auch das Selbstbewusstsein. „Sie gehen gestärkt aus diesen drei Tagen und wissen, sie können etwas erreichen“, sagt Amin. Die Möglichkeit, eigene Perspektiven einzubringen und sichtbar zu machen, stärkt ihr Selbstvertrauen in die eigene Fähigkeit, Veränderungen herbeizuführen und die Zukunft positiv zu gestalten.

„Wenn die Jugendlichen gestärkt aus den drei Tagen rauskommen und ich das Gefühl habe, ihnen eine kreative Tür geöffnet zu haben, dann ist das für mich das Coolste“, sagt Burak. Er kam selbst als Jugendlicher zu X-Vision-Ruhr und ist mittlerweile ein festes Teammitglied.

Musik öffnet Türen

Oft stecken Schüler*innen, aber auch Lehrkräfte in ihren Strukturen fest. Das Leben ist in einen Stundenplan eingeteilt. Nach den drei Tagen im mobilen Tonstudio und einem eigenen Song im Gepäck, merken die Jugendlichen, dass es auch für sie offene Türen gibt. Sie können Themen ansprechen, die vielleicht im Alltag keinen Platz haben.

„Die Musik öffnet Räume und gibt einen Anstoß, Dinge anders zu betrachten und zu bewerten“, sagt Beatrice und Amin ergänzt: „Wir begegnen den Kindern auf Augenhöhe und nehmen sie und ihre Probleme ernst. Sie lernen, dass sie ihre Zukunft selber gestalten können.“ Bei X-Vision-Ruhr bekommt jede*r eine Stimme.

Text: Helen Arnold

Das sagt die MIXED UP Jury

„Lasst uns zurück zu mehr Vertrauen und Nächstenliebe, kein Bock mehr auf Kriege und noch mehr Intrige, unsere Ziele sind Gleichheit und Frieden. Vif la liberté, das klingt gar nicht schlecht und es ist auch unser gutes Recht.“

Dieses Zitat stammt aus dem Rap-Song „Born to be free“, entstanden auf der X-Vision-Ruhr Schultour. Das Rapmobil besuchte 2023/24 unterschiedliche Schulen und verbindete junge Menschen alters- und jahrgangsübergreifend. In nur drei Tagen erschaffen sie ihre eigene Zukunftsvision durch Songwriting, Beats und Musikvideos.

Soziale Gerechtigkeit, Respekt, Toleranz und Gleichberechtigung bilden die Grundsätze des Projekts und spiegeln gleichzeitig die Zukunftsvisionen der Jugendlichen wider. X-Vision Ruhr Schultour bietet ihnen die Möglichkeit, ihre Lebensrealitäten in Texte zu fassen und sich in der Gruppe kritisch sowie solidarisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Solche Räume sind für junge Menschen wertvoll und selten.

Ihnen Gehör zu schenken und gleichzeitig ihnen Gehör zu verschaffen – genau das zeichnet dieses Projekt aus. Es gibt ihnen ein Medium, um ihre Welt zu beschreiben, die oft von Ungerechtigkeit, Intoleranz und Ungleichheit geprägt ist. Die Jugendlichen artikulieren ihre Gedanken klar und nehmen an gesellschaftlichen Diskussionen teil, von denen sie oft ausgeschlossen werden. Dieser kreative Prozess erfordert Mut und Engagement, was von X-Vision hervorragend unterstützt wird. Diese Leistung verdient Anerkennung, denn die Stimmen dieser jungen Menschen sind wichtiger denn je.

Projektwebseite

https://xvisionruhr.de

Projektträger

Die Falken Bochum und X-Vision Ruhr

Kooperationspartner

X-Vision Ruhr / SJD Die Falken, Bochum
Cuno-Berufskolleg II, Hagen
Adolf-Kolping Berufskolleg, Kerpen-Horrem
Weiterbildungskolleg Siegen
Berufskolleg Südstadt
, Köln
Petersbergschule, Nordhausen
Gutenbergschule, Wiesbaden
BOJE Ratingen
Oberschule an der Helsinkistraße
, Bremen
Gesamtschule Gronau
Theodor-Goldschmidt-Realschule,
 Essen