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Durch dicke Bretter bohren
Fachbeitrag

Durch dicke Bretter bohren

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Damit sich die gesellschaftliche Diversität in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung widerspiegelt, arbeiten 18 Träger unter dem Dach der BKJ an der Öffnung. Welche Schritte die BKJ und die Träger in diesem inklusiven Transformationsprozess gehen, beschreibt Anja Schütze in diesem Beitrag.

von Anja Schütze

Anja Schütze arbeitet im Bereich Freiwilliges Engagement und Ehrenamt der BKJ und setzt sich dafür ein, dass die Themen Inklusion und Diversitätsbewusstsein im Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung und in der Kulturellen Bildung insgesamt berücksichtigt werden.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Diversifizierung und inklusiven Transformationsprozessen in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung, die von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) gemeinsam mit 18 Trägern ausgestaltet werden. Die Landschaft der Freiwilligendienste in Deutschland ist mit ca. 100.000 Freiwilligen pro Jahr üppig und vielfältig. Die Freiwilligendienste im Kontext Kultureller Bildung und kultureller Einrich-tungen sind mit insgesamt 3.000 Freiwilligen auffällig klein und zeichnen sich durch hohe Bewerberzahlen und begeisterte Freiwillige aus.

Ausgangspunkt ist das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) Kultur, welches 2001 als Modellprogramm in fünf Bundesländern mit 125 Freiwilligen startete. FSJ Kultur bedeutet, dass sich junge Menschen in der Regel für ein Jahr in einer Kultureinrichtung engagieren und lernen. Dabei werden sie von pädagogischen Mitarbeiter*innen begleitet und genießen 25 Bildungstage. Sie bauen sich Netzwerke auf, finden Freund*innen, sammeln Erfahrungen, machen Projekte und gehen größtenteils gestärkt und inspiriert aus diesem Jahr hervor, wie die Evaluationen bestätigen. Kurz: ein erfreuliches, erfolgreiches und elitäres Programm. Die Freiwilligen sind mehrheitlich weiß, cis, gebildet (auch in den Künsten) und damit ein Spiegelbild der Kulturlandschaft, der leitenden Personen in kulturellen Einrichtungen und einer Öffentlichkeitsarbeit, die über Jahre ausschließlich weiße Abiturient*innen abbildete.

Dass die Freiwilligen zum mehrfachprivilegierten Nachwuchs gehören, ist keine Feststellung nach Zuschreibung, sondern lässt sich in Zahlen belegen. In den kulturellen Jugendfreiwilligendiensten haben 93 Prozent der Freiwilligen ein Abitur, nur sieben Prozent sind Real- oder Hauptschüler*innen. Bei den Bewerberzahlen sind es 80 Prozent mit Abitur. Die Verschiebung zwischen Bewerber*innen und Freiwilligen belegt, dass Bewerber*innen mit Abitur bei der Auswahl durch die Einrichtungen bevorzugt werden. Das Bild verändert sich noch massiver, wenn die Schulabgängerstatistik hinzugezogen wird, die angibt, dass jährlich ca. 40 bis 45 Prozent der Schüler*innen die Schule mit einem Abitur verlassen (vgl. Statistisches Bundesamt 2017). Diese Zahlen waren und sind Ausgangspunkt für die Transformationsprozesse in den Freiwilligendiensten.

Es geht nicht darum zu sagen, dass die Menschen, die bisher erreicht werden, nicht die „Richtigen“ wären, sondern dass ein so biografisch stärkendes Programm, welches durch öffentliche Förderung möglich gemacht wird, vielfältigen Menschen zugänglich sein muss. Wir nutzen den Schulabschluss als Ausgangspunkt des Inklusionsprozesses, weil im Schulsystem verschiedene Formen von gesellschaftlicher Diskriminierung (Klassismus, Rassismus, Ableismus) verankert sind und sich am Abschluss festmachen lässt, welche Zugänge und Chancen (junge) Menschen haben. Darüber hinaus zeigen auch die Bewerberzahlen, dass der kulturelle Freiwilligendienst vermehrt in weiterführenden Schulen bekannt ist, was mit den Reichweiten Kultureller Bildung bei Heranwachsenden zusammenhängen kann. Wer kommt auf die Idee, sich für ein Jahr in der Kultur zu engagieren, anstatt Geld zu verdienen? Wer kann es sich leisten, für ein Taschengeld von durchschnittlich 350 Euro im Monat den Haushalt der erziehungsberechtigen Personen zu verlassen, um sich in einer Kultureinrichtung zu engagieren? Ein Kultureller Freiwilligendienst setzt voraus, dass es Menschen gibt, die Freiwillige finanziell unterstützen, dass die Personen durch die Nutzung von kulturellen Angeboten mit der Szene vertraut sind und sich vorstellen können, in diesem Feld vielleicht auch für eine berufliche Zukunft hineinzuschnuppern.

In 2013 wurde von interessierten pädagogischen Mitarbeiter*innen von unterschiedlichen Trägern im Verbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung die Arbeitsgruppe Inklusion (AG) gegründet, die den Transformationsprozess angestoßen hat und bis heute begleitet, reflektiert, immer wieder hinterfragt und anpasst. Die AG trifft sich zwischen zwei- bis dreimal im Jahr; es kommen immer wieder neue Personen hinzu, manche gehen, sodass die Besetzung ständig wechselt. Zuerst galt es, Inklusion aus diversitätssensibler und diskriminierungskritischer Perspektive zu durchdringen und Maßnahmen für eine Veränderung zu entwickeln. Diese Maßnahmen wurden in einer Roadmap festgeschrieben, die Ende 2014 von allen Trägern im Verbund verabschiedet wurde.

Ziel ist es, ein inklusives Programm zu werden, in dem Menschen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionierungen, Fähigkeiten und Hintergründen sichtbar sind, profitieren, mitgestalten – und das ganz selbstverständlich. In diesem inklusiven Prozess geht es um die Veränderung von Rahmenbedingungen, Strukturen und Haltungen, damit auch bisher marginalisierte Menschen in ihrer Komplexität und ihren Bedürfnissen teil werden, ohne sich verbiegen und an bestehende Normen anpassen zu müssen.

Damit sich diversere Freiwillige angesprochen fühlen, müssen die Dienste auf allen Ebenen geöffnet und Diskriminierung konsequent abgebaut werden. Konkret heißt das, das Bewerbungsverfahren zu verändern, die Öffentlichkeitsarbeit, die Methoden in der Bildungsarbeit, die Sprache, die Bilder und die Teams. Grundlage dieser umfangreichen und notwendigen Prozesse sind die Menschenrechte auf Bildung und kulturelle Teilhabe (Artikel 26 und 27), die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung (UN-BRK), die UN-Konvention gegen Rassismus (ICERD) und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.

Diese Prozesse setzen Selbstreflexion und einen kritischen Blick auf sich und die eigene Verflochtenheit in Privilegien und Macht voraus. Der inklusive Prozess betrifft in erster Linie uns als Summe der pädagogischen Mitarbeiter*innen bei den Trägerorganisationen und in den Einrichtungen und die Barrieren in unseren Organisationen. Das ist der grundlegende Unterschied zu Integrationsprozessen, in denen der Blick auf die sogenannten Anderen gerichtet ist, die dabei immer wieder zu „Anderen“ gemacht werden und paternalistisch unterstützt werden, sich in bestehende Systeme hineinzuassimilieren.

Privilegien sind unsichtbar

Privilegien sind unsichtbar für die, die sie haben. Sie sind nicht nur unsichtbar, sie scheinen auch selbstverständlich und daher fehlt oft das Bewusstsein dafür. Privilegien erleichtern das Leben und sichern Zugänge zu Ressourcen und Möglichkeiten in Bezug auf Bildung, Mitgestaltung, berufliche Positionen, den Wohnungsmarkt, die Gesundheitsversorgung etc. Sie ermöglichen Dinge, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Privilegien sind an Zugehörigkeiten geknüpft, die Menschen per Zufall erhalten: Denn wie ein Körper beschaffen ist, wen Menschen lieben und wie viel Besitz und Geld die Herkunftsfamilie hat, ist nicht wählbar. Welche Zugehörigkeiten privilegiert und welche diskriminiert sind, geht auf jahrhundertelang gewachsene Machtstrukturen zurück. Ausgangslage dafür ist das Einteilen von Menschen in Gruppen (Kategorien) und das Zuschreiben von Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen dann eine Hierarchisierung legitimiert wird: Mit der Beschreibung der Frau als das „schwache Geschlecht“ wurde und wird die Macht von Männern legitimiert. Mit der Konstruktion von nicht weißen Menschen als minderwertig wurden koloniale Ausbeutungen, Sklaverei und Genozide legitimiert. Diese konstruierte Dualität von beispielsweise Männern und Frauen, weißen und Schwarzen, gesunden und be_Hinderten Menschen, Ober- und Unterschicht hat ganz reale Auswirkungen auf die Positionierung und die Möglichkeiten von Einzelnen in der Gesellschaft und findet eine Fortführung in Organisations- und Entscheidungshierarchien.

In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die männliche Maxime „Jeder ist seines Glückes Schmied“ gilt, werden biografische Erfolge oder Misserfolge leicht dem eigenen Gelingen oder Versagen zugeschrieben. Übersehen werden Ausgangslagen, die Menschen von Anfang an unterschiedlich positionieren, wie die klassische Übung „Privilegientest“ (McIntosh 1988) eindrücklich zeigt. Neben der Reflexion von Privilegien und der eigenen Positionierung ist eine wichtige Aufgabe, detektivisch die eigenen bewussten und unbewussten Vorurteile und die persönliche Voreingenommenheit aufzuspüren und wahrzunehmen, anstatt deren Existenz abzustreiten oder sie mit Scham zu belegen.

Vorurteile und diskriminierendes Wissen sind per Sozialisation, durch Kinderbücher, Filme, Erzählungen von nahestehenden Personen in unsere Köpfe hineingekommen und wirken, wenn wir in der S-Bahn sitzen, Menschen in Supermärkten begegnen oder Einstellungsgespräche führen. Es beginnt mit der Wahrnehmung einer Person. Der Wahrnehmung folgt eine Interpretation dessen, was ich sehe. Im nächsten Schritt wird bewertet. Dabei gilt bekannt = vertraut/sympathisch, unbekannt = befremdlich/unangenehm – einschließlich des berühmten „stimmigen Bauchgefühls“. Daraus resultiert die Behandlung dieser Person. All diese Schritte passieren in Sekundenschelle und im Unterbewusstsein und greifen auf die sozialisierten Vorurteile zurück. Sich diesen Prozess bewusst zu machen und wahrzunehmen, ist der Anfang davon, diesen Kreislauf zu durchbrechen und bewusst anders zu handeln, dann z. B. Menschen kennenzulernen oder gar einzustellen, die nicht nach dem Ähnlichkeitsprinzip bestehende Besetzungen von Teams und Kultureinrichtungen reproduzieren.

Diese grundlegenden Überlegungen aus der Beschäftigung mit Diskriminierung, Diversität und Inklusion gilt es, im Transformationsprozess auf die Freiwilligendienste zu übertragen und konkret zu werden, konkret zu analysieren: Wer hat die Möglichkeit, einen Freiwilligendienst zu machen? Wie sehen die Einsatzstellen aus und welche Bewerber*in wählen sie aus? An wen richten sich die Methoden und Bildungsseminare und wer sind die Trainer*innen? Anders gefragt: Wer profitiert von nicht vorhandener Diversität? Um ein inklusives Programm zu werden, bedarf es grundlegender Veränderungen, einhergehend mit Umverteilungen von Macht und Ressourcen und verbunden mit dem Ver-Lernen von Selbstverständlichkeiten. Ein Prozess, der Ängste und Unsicherheiten bei privilegierten Menschen auslöst, bei dem Konflikte ausgetragen werden müssen und der Zeit braucht, bis er alle Ebenen und Ecken erreicht.

Die Roadmap und ihre einzelnen Schritte

Im Dezember 2014 wurde die Roadmap von den Geschäftsführer*innen der Träger der Freiwilligendienste Kultur und Bildung beschlossen. Damit konnte mit der Umsetzung von konkreten Maßnahmen begonnen werden. Der erste Meilenstein war die Entwicklung eines anonymisierten Bewerbungsverfahrens. Bisher bekamen Einsatzstellen zwischen sechs und 15 digitale Bewerbungsbögen, die neben Stärken und Motivation auch Auskunft über Alter, Geburtsort, Führerschein, Schulabschluss und Geschlecht gaben. Diese Angaben waren Grundlage für die Auswahl, welche*r Bewerber*in zum Gespräch geladen wird, und formten das erste Bild über die Person, verbunden mit Fantasien, was diese Person leisten kann.

Da die Einrichtungen, die in den Freiwilligendiensten Einsatzstellen genannt werden, am Ende selbst entscheiden, mit wem sie für ein Jahr zusammenarbeiten wollen, können die pädagogischen Mitarbeiter*innen für „affirmative action“, d. h. für Handlungen zum Ausgleich von Benachteiligungen, nur sensibilisieren und werben, jedoch nicht direkt steuern. Daher haben wir uns im ersten Schritt für die Anonymisierung entschieden, um die Möglichkeiten zu erhöhen, dass Menschen ohne Abitur im Gespräch überzeugen können. Zeitgleich haben die Koordinator*innen in allen Bundesländern ihre Einsatzstellen eingeladen, ihre Einstellungsschemata zu hinterfragen und diversitätssensibel auszuwählen.

Die Einstellungsfrage zeigt sich als Schlüsselfrage im Inklusionsprozess, da daran viele Aspekte sichtbar werden: Verstehen die Kultureinrichtungen den Freiwilligendienst als ein Bildungs- und Orientierungsjahr oder suchen sie nach einer Person, die mit möglichst viel Vorbildung und Kompetenzen als günstige Arbeitskraft eingesetzt werden kann? An welchem Pol sich eine Einsatzstelle befindet, zeigt sich daran, ob die Tätigkeitsfelder sehr klar im Vorfeld definiert sind oder ob die Tätigkeiten gemeinsam mit den Freiwilligen nach individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgewählt werden. Es bedarf einer Dekonstruktion der vorgefertigten Bilder von Leistung und damit, wer oder was als leistungsfähig angesehen wird.

Es zeigt sich, dass Einsatzstellen, die neu beginnen, sehr offen für diverse Bewerber*innen sind und dass die Ansprüche mit der Erfahrung wachsen. Wenn also ein*e Freiwillige*r die Website pflegt, den Theaterclub leitet oder Veranstaltungen selbstständig koordiniert, dann setzt diese Person Maßstäbe, an die in folgenden Jahren angeknüpft werden soll. Ein kritischer Blick in die Flyer für Einsatzstellen zeigt, dass wir mit jungen engagierten Mitarbeiter*innen werben, die innovativ sind und frischen Wind in die Einrichtungen bringen und damit auch ein Erwartungsbild verantworten, welches jenseits der Arbeitsmarktneutralität angesiedelt ist.

Der Inklusionsprozess führt zu einem gedanklichen Paradigmenwechsel, weg von einem nützlichkeitsorientierten Elitejahr hin zu einem Freiwilligendienst als Möglichkeit, sich auszuprobieren und voneinander zu lernen. Es sollte nicht mehr darum gehen, wer der Kultureinrichtung am meisten nützt, sondern wem sie eine Chance geben kann, wem sie am meisten bieten kann oder von wem sie selbst etwas lernen kann. Das klingt romantisch und wir sind noch weit davon entfernt – und doch ergibt es Sinn, wenn wir die grundlegenden Ideen von Freiwilligendiensten betrachten.

Damit sich Bewerber*innen für eine Kultureinrichtung interessieren können, haben sie im Vorfeld Zugang zu Tätigkeitsbeschreibungen und Profilen der Einsatzstellen. Welche Erwartungen teilweise an zukünftige Freiwillige gestellt werden und wer dafür infrage kommen könnte, zeigen die zwei folgenden Beispiele:

Beispiel 1:

Anforderungen der Einsatzstelle

Voraussetzungen:

  • strukturiertes und eigenständiges Arbeiten
  • Genauigkeit und Organisationstalent
  • Kreativität im Umgang mit Computer und Technik
  • Ideenreichtum und handwerkliches Geschick
  • Abitur und/oder eine abgeschlossene Berufsausbildung
  • sehr gute Deutschkenntnisse
  • sehr gute Englischkenntnisse
  • PKW-Führerschein

Beispiel 2:

Voraussetzung für den Einsatz ist ein sehr gutes Klavierspiel (auch vom Blatt), da ständig andere Stücke mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden gespielt werden müssen.

Die Analyse und Veränderung dieser Ausschreibungstexte war ein weiterer Meilenstein im Inklusionsprozess. Ziel war es, dass sich die Bewerber*innen eingeladen fühlen und sich die Tätigkeiten als Angebote und nicht wie eine Stellenbeschreibung lesen. Die Texte sind dabei nur die Spitze des Eisbergs und darunter liegen damit verbundene Haltungen und Erwartungen. Daher geht es nicht darum, einfach die Texte neu zu schreiben, sondern in den Dialog zu treten und mit Einsatzstellen über die Idee von inklusiven Freiwilligendiensten zu verhandeln. Diese Auseinandersetzung ist keine einfache und stößt auf umfangreiche Widerstände, aber auch auf Verständnis und Anerkennung. Sie führt schlussendlich auch zu der Frage, mit welchen Einsatzstellen die Träger zusammenarbeiten und von welchen sie sich trennen wollen oder können. Wie radikal diese Frage gestellt wird, hat auch damit zu tun, was sich ein Träger leisten kann und will, denn die Träger sind Strukturen mit Personal, die auch von den Beiträgen der Einsatzstellen finanziert werden und nicht in allen Bundesländern gibt es Wartschlangen von interessierten Einsatzstellen.

Die Einführung des anonymisierten Bewerbungsverfahrens fand im Januar 2016 statt. Es war ein weiter Weg, für dieses Konzept eine tragfähige Menge an Befürworter*innen im Trägerverbund zu finden, mit den Einsatzstellen darüber zu kommunizieren und eine technische Anpassung des Online-Bewerbungssystems umzusetzen. Für die statistische Erfassung werden die Angaben noch immer erhoben, jedoch nicht mehr an die Einsatzstellen weitergeleitet. Den Bewerber*innen wird das im Verfahren deutlich kommuniziert. Im Zuge der Überarbeitung des Online-Verfahrens wurde die Geschlechtsangabe um mehrere nicht binäre Möglichkeiten erweitert. Diese wurden auch genutzt und haben zu explizitem Feedback geführt, dass sich einzelne non-binäre und/oder Trans-Personen dadurch gesehen und wertgeschätzt fühlten.

Das anonymisierte Bewerbungsverfahren hat bisher zu keiner signifikanten Veränderung in Bezug auf die Schulabgänger*innen geführt, das Verhältnis von Abiturient*innen und Nicht-Abiturient*innen ist nahezu gleichgeblieben. Das kann zum einen daran liegen, dass die Einsatzstellen an ihren Auswahl-Präferenzen zu wenig geändert haben und zum anderen daran, dass die Aussagen zur eigenen Motivation und zu Stärken eindeutige Rückschlüsse auf die schreibenden Personen ermöglichen. Zeitgleich hat die Evaluation gezeigt, dass die Bewerber*innen die Anonymisierung mit deutlicher Mehrheit befürworten und dass das neue Verfahren maßgeblich dafür gesorgt hat, dass alle beteiligten Akteur*innen in die Debatten um Diversifizierung und Inklusion eingebunden wurden. Derzeit wird das Verfahren komplett überarbeitet. Das Online-Verfahren soll sich mehr an den Bedürfnissen der Bewerber*innen und nicht an den Forderungen der Einsatzstellen orientieren, einfacher zu handhaben sein und sowohl Anonymisierung als auch affirmative action möglich machen.

Ein weiteres großes Feld der Veränderung ist die Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2015 wurden alle wichtigen Informationen über die Freiwilligendienste in Leichte und in sieben internationale Sprachen übersetzt und auf der Website der Freiwilligendienste Kultur und Bildung zur Verfügung gestellt. Alle weiteren Texte, die im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden, sind in Einfacher Sprache verfasst. Es sind neue Fotos und Zeichnungen erstellt worden, die vielfältigere Identitäten illustrieren. Seit April 2018 ist die komplett überarbeite Website online. Nach dem Relaunch ist sie in Bild und Sprache deutlich diverser, klarer strukturiert, mit weniger Texten und technisch barrierefrei nutzbar. Es gibt Erklärvideos, die künftig noch erweitert werden.

Die BKJ und die Träger sind Organisationen, deren Mitarbeiter*innen fast ausschließlich weiß, finanziell gesichert und akademisch sind, sodass der Prozess von mehrfach privilegierten Menschen gesteuert und initiiert wurde und entscheidende Perspektiven fehlen. Kontinuierliche Fortbildungen zu Inklusion und unterschiedlichen Diskriminierungsformen sind absolut unverzichtbar zur Sensibilisierung, zum Erkennen von „weißen Flecken“ und Barrieren, zum Aufbau von Empathie und zur Schulung der kritischen Wahrnehmung und des Handelns. Fortbildung, Beratung und Austausch nähren den Transformationsprozess. Im September 2016 haben wir mit „Macht – Inklusion“ einen multiperspektivischen Fachtag mit Impulsvorträgen, Workshops und Exkursionen in Frankfurt am Main durchgeführt, um die Perspektiven zu erweitern und die Akteur*innen für den Prozess weiter zu motivieren. Viele aktivistische Expert*innen haben bisher ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit uns geteilt: Austen Brandt, Nenad Čupić, Judy Gummich, Christian Papadopoulos, Ely Almeida Rist, ManuEla Ritz, Claudia Schilling, Soma Said, Francis Seeck und viele mehr.

Verschiedene Träger haben sich auf den Weg gemacht, ihre Bildungsseminare zu überarbeiten und es sind zarte Pflänzchen inklusiver Bildungsarbeit gewachsen. Zum einen wurden Seminareinheiten entwickelt, die Diversität und Diskriminierung zum Thema machen und damit eine Grundlage für Selbstreflexion und sensibles Miteinander schaffen. Um für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen und die Gefahr von Wiederverletzung zu verringern, haben sich weitere Träger mit Awareness-Konzepten beschäftigt und auf den Seminaren Awareness-Teams eingerichtet. In diesem Zusammenhang wurden Rückzugsräume geöffnet, All-Gender-Toiletten eingeführt, Empowerment-Seminare für Menschen mit Rassismuserfahrungen angeboten und Kommunikationsregeln erstellt. Im Kontext von Bildungsarbeit wurden auch Methoden daraufhin befragt, für wen sie geeignet sind, wen sie möglicherweise ausschließen und welche neuen und zusätzlichen Angebote gewünscht sind. Grundlegend geht es in der Bildungsarbeit noch mehr um Bedürfnisorientierung: Was brauchen die einzelnen Teilnehmer*innen, um gut lernen zu können? Das bezieht sich auf Ernährung, Pausenbedürfnisse, Übersetzer*innen in deutsche Gebärdensprache oder internationale Lautsprachen und Zugänglichkeit von Seminargebäuden. Auch hier bleibt eine Herausforderung, diversere Teams zusammenzustellen, um unterschiedliche Ansprechpersonen anzubieten, Repräsentation in verantwortungsvollen Rollen ernst zu nehmen und Bedürfnisse wahrnehmen zu können.

Ein wertvolles Instrument für den Prozess ist die Trägerselbstevaluation, ein Fragebogen, der allen Trägern im Sommer 2016 zur Reflexion des Prozesses zur Verfügung gestellt wurde. Inspiriert wurde die Fragensammlung u. a. vom Index für Inklusion, dem AWO-Handbuch zu Inklusion sowie Checklisten von ENSA (Entwicklungspolitisches Schulaustauschprogramm der Engagement Global). Es ging darum, möglichst alle Mitarbeiter*innen mit ihren Einschätzungen zusammenzubringen und den Stand zu diskutieren, Erfolge sichtbar zu machen und weitere Baustellen zu identifizieren. Der Fragebogen ist in unterschiedliche Themengebiete aufgeteilt und stellt Fragen zur Öffentlichkeitsarbeit, zur Bildungsarbeit, zur Zugänglichkeit, zur Haltung, zum Team und zum Abbau von Diskriminierung. Beispielhafte Fragen sind: Nehmen wir alle Freiwilligen gleichermaßen als komplexe Individuen und nicht als Vertreter*innen von homogenen Gruppen wahr? Achten wir bei der Einstellungspraxis darauf, eine Vielfalt an gesellschaftlichen Positionierungen und biografischen Erfahrungen im Team zu ermöglichen? Sind unsere Seminarhäuser für alle Beteiligten zugänglich und erreichbar? Finden sich in unseren Postern, Flyern und Broschüren vielfältige Personen wieder?

Noch konkreter mit Zielvereinbarungen

Eine Öffnung für alle ist die hehre Zielbeschreibung des Inklusionsprozesses. In der realen Umsetzung verbleibt diese Prämisse sehr schwammig und führt dazu, dass viel gewollt wird und wenig passiert. Um konkreter zu werden, wurde im Dezember 2017 beschlossen, dass jeder Träger auf Grundlage der Selbstevaluation eine individuelle Zielvereinbarung erstellt. Diese wird in Abstimmung mit dem Team entwickelt und bezieht die lokalen Entwicklungs-vorhaben, Netzwerke, Rahmenbedingungen und Ausgangslagen mit ein. Inhalt einer Zielvereinbarung ist mindestens eine Orientierungszahl. Diese Zahl kann an Schulabschlüssen festgemacht werden oder sich auf die Förderung einer spezifischen Gruppe von Menschen beziehen, die in den Freiwilligendiensten bisher weniger repräsentiert und gesellschaftlich marginalisiert wird. Beispielsweise könnte das so aussehen, dass sich ein Träger vornimmt, die Zahl der Freiwilligen ohne Abitur von derzeit 9,5 Prozent auf 15 Prozent zu erhöhen oder zehn Plätze durch Menschen mit Be_Hinderung zu besetzen. Das Festlegen von konkreten Zielzahlen ist ein bewährtes und wirkungsvolles Mittel in Diversifizierungsprozessen.

Darüber hinaus werden qualitative Ziele beschrieben, wie die Schaffung inklusiver Strukturen und Rahmenbedingungen, aber auch inklusive Teamentwicklung oder Bildungsarbeit. Die Zielvereinbarungen sind auf ca. 18 Monate angelegt und es gibt eine festgelegte Zwischenreflexion. Die Zielvereinbarung ermöglicht eine Konzentration auf einzelne Gruppen und eine Vertiefung im Prozess. Vorgesehen ist ein regelmäßiger Austausch zwischen den Trägern, sodass Erfahrungen weitergegeben werden können. Die Summe der einzelnen Vorhaben erhöht die Chance, dass wir einer inklusiven Öffnung für alle näher kommen können.

Wir machen die Erfahrung, dass die Benennung von Quoten auf massive, vor allem emotionale Widerstände stößt. Denn spätestens hier wird klar, dass Veränderungen stattfinden und damit verbundene unbequeme Aushandlungen nicht mehr aufgeschoben werden können. Dass eine solche Zielvereinbarung mit großer Zustimmung beschlossen wird, ist Ergebnis vielseitiger Debatten und intensiver Auseinandersetzungen und zeigt nicht zuletzt, dass der Inklusionsprozess Haltungen verändert hat.

Fazit

Ein Prozess, der alle Facetten eines Programms und die gesamte Struktur umfasst und zu verändern sucht, braucht einen Fahrplan mit konkreten und messbaren Zielen, um dranzubleiben, den Überblick zu wahren und evaluieren zu können, ob die Maßnahmen Erfolg im Sinne der Inklusion haben oder angepasst werden müssen. An diesem Fahrplan können wir entlanglaufen sowie die Richtungen und Wege ändern. Eine Roadmap hilft dabei, konkrete und überprüfbare Maßnahmen festzuhalten und nicht nur guten Willen zu bekunden. Es wäre richtig zu sagen, dass seit 2013 wahnsinnig viel passiert ist, und es wäre auch richtig zu sagen, dass davon noch nicht viel spürbar ist, wenn wir nach überprüfbaren und sichtbaren Ergebnissen schauen. Der Prozess hat aufgewühlt und aufgerüttelt, Widerstände hervorgerufen und Anstöße gegeben. Einzelne Pflänzchen in Bezug auf Einstellungspolitik, Öffentlichkeitsarbeit, Haltung und Umsetzung der Freiwilligendienste beginnen erste Früchte zu tragen. Auf dem Weg gab und gibt es einzelne Menschen, die im Hinblick auf Diversifizierung als Freiwillige und Kolleg*innen eingestellt wurden. Einige haben sehr inspirierende und gute Erfahrungen gemacht, andere haben sich als Tokens positioniert und exotisiert gefühlt, auf deren Kosten für den Prozess gelernt wurde und die immer wieder den Spiegel vorhalten müssen und mussten, wo Privilegien und Barrieren unentdeckt bleiben oder Widerstände und Status-quo-Sicherung den Abbau von Privilegien verhindern. Wir bleiben so lange exklusiv und elitär, solange es einzelne Beispiele sind und Menschen aus marginalisierten Communitys nicht in allen Bereichen selbstverständlich sind. Wir bleiben solange exklusiv und elitär, solange privilegierte Personen maßgeblich den Prozess bestimmen und die Bremse ziehen, wenn die Komfortzone verlassen und Bestehendes geschützt wird.

Weitere Informationen

Hier erfahren Sie mehr über die Freiwilligendienste Kultur und Bildung.