„Du bist okay!“: Experimentierräume für mentale Stärke
Im Gespräch mit Daniela Kern-Stoiber, bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit (bOJA), Wien/Österreich
Im Gespräch mit Daniela Kern-Stoiber, bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit (bOJA), Wien/Österreich
Daniela Kern-Stoiber ist Klinische und Gesundheitspsychologin. Sie ist seit elf Jahren Geschäftsführerin des bundesweiten Dachverbands für Offene Jugendarbeit (bOJA) in Österreich. Zuvor war sie 15 Jahre lang im Gesundheitsbereich tätig.
Foto: bOJA
Psychische Gesundheit ist wie in Deutschland auch in Österreich ein großes Thema. Jugendzentren und die Mobile Jugendarbeit bieten Unterstützung bei psychischen Krisen, bei der Identitätsfindung, etwa während der Pubertät, bei Depressionen und Suizidgedanken an. Offene Jugendarbeit ist also per se ein Präventivraum für psychische Gesundheit. Die Jugendlichen, die unsere Einrichtungen aufsuchen, kommen oft aus schwierigeren familiären Hintergründen. Sie haben vielleicht auch Fluchterfahrung, sind von Armut Betroffene. Es ist evidenzbasiert, dass genau diese Jugendlichen viel gefährdeter sind, psychische Symptome oder Erkrankungen zu entwickeln. Denn sie sind viel vulnerabler für negative Einflüsse auf die Psyche von außen und verfügen oftmals über wenige Bewältigungsmechanismen. Jugendarbeiter*innen leisten also bereits sehr viel Gesundheitsarbeit. Das macht die Initiative Gesundheitskompetente Jugendarbeit sichtbar. Gesundheitskompetenz bedeutet übersetzt das Finden, Verstehen, Bewerten und Anwenden von Gesundheitsinformationen. In der Offenen Jugendarbeit, wo alles informell ist, bringen die Jugendlichen die Themen selbst ein, sie partizipieren. Die Jugendlichen können lernen, mit Diversität umzugehen, mit Unterschiedlichkeiten und das zählt alles im Endeffekt zur psychischen Gesundheit. Ein Jugendtreff sollte ein Safe Space sein, wo die Jugendlichen sich gut aufgehoben fühlen, wo man sie nicht bewertet, wo sie auch ein bisschen herumexperimentieren dürfen. Und es ist ein Ort der Gemeinschaft. Gesundheitsförderung in der Offenen Jugendarbeit hat daher immer eine gesundheitspolitische wie soziale Dimension.
Ich denke, im Endeffekt geht es darum, Jungsein zu ermöglichen, Experimentierräume zu schaffen. Das heißt Kreativität und Offenheit zu fördern. Wir sagen: In der Offenen Jugendarbeit ist der unverzweckte Raum das wichtigste Gut. Es muss nicht irgendwas passieren oder geleistet werden, sondern man darf einfach sein. Die Fachkräfte der Offenen Jugendarbeit sind ausgebildete Sozialarbeiter*innen und Pädagog*innen, werden aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen. Jugendliche werden zu nichts gezwungen. Und das macht die Offene Jugendarbeit so kostbar, weil sich hier Jugendliche öffnen können, vertrauensvoll sein können. Was psychische Gesundheit betrifft, ist das elementar.
Ich glaube, dass Jugendkulturarbeit ein spannender Schlüssel ist, um bestimmte Jugendliche besser zu erreichen, ohne dass es gleich nach Sozialarbeit oder Gesundheitsarbeit aussieht.
Daniela Kern-Stoiber, Geschäftsführerin bOJA, Wien
In der Offenen Jugendarbeit haben wir die Wirkung von Kultureller Bildung bislang noch nicht systematisch erfasst. Ich denke aber, Kulturelle Bildung kann da eine resilienzfördernde Umgebung bieten. In Österreich ist es so, dass eine Jugendarbeiterin selbst Musikerin oder ein Jugendarbeiter Tontechniker ist, also Jugendarbeiter*innen bringen ein bestimmtes Know-how in ihre Arbeit ein. Aber es gibt keine etablierte Jugendkulturarbeit. Ich glaube aber, dass Jugendkulturarbeit ein spannender Schlüssel ist, um bestimmte Jugendliche besser zu erreichen, ohne dass es gleich nach Sozialarbeit oder Gesundheitsarbeit aussieht.
Nicht zuletzt kann Kulturelle Bildung dazu beitragen, dass es auch positive Erzählungen von Jugendlichen in den Medien gibt und sie nicht immer nur in Verbindung mit Gewalt oder Vandalismus dargestellt werden. Die negativen Erzählungen machen was mit der Psyche der Jugendlichen. In der Jugendkulturarbeit werden Jugendliche hingegen kreativ und positiv produktiv gezeigt.
Psychische Gesundheit ist nichts anderes als Selbstwirksamkeit erleben, sich selbst spüren und sehen. Das ist für Jugendliche ganz wertvoll.
Daniela Kern-Stoiber, Geschäftsführerin bOJA, Wien
Wir Fachkräfte der Offenen Jugendarbeit sind keine Psycholog*innen oder Psychiater*innen. Das heißt, wir müssen schauen, wo die Grenzen der Kompetenzen sind. Das ist schwierig, weil die Jugendlichen etwa mit ihren Suizidgedanken an Jugendarbeiter*innen herantreten oder ein heikles Gespräch beginnen, dass sie zum Beispiel nicht nach Hause können, weil dort Gewalt droht. In solchen Fällen braucht man Erfahrung und Fortbildung, um zu lernen, wie ich Jugendliche gut unterstützen und sie in Richtung Psychotherapie und Krisenintervention begleiten kann. Das ist in der Offenen Jugendarbeit Teil des Jobs, psychische Beschwerden zu bemerken und zu handeln. Die Beziehungsarbeit steht dabei immer im Vordergrund.
Ich würde sagen ja. Es ist auch ein sehr persönliches Thema. Wir haben die Social-Media-Kampagne „Du bist okay“ im Auftrag des österreichischen Gesundheitsministeriums umgesetzt. Von Oktober 2023 bis September 2024 haben wir österreichweit Pop-up-Studios mit riesigen Leinwänden errichtet, in denen Jugendliche über ihre psychische Gesundheit sprechen konnten. Die Studios standen in Jugendzentren oder im öffentlichen Raum und wurden von Mitarbeiter*innen der Offenen Jugendarbeit kuratiert. Über bestimmte Bilder auf der Leinwand hatten die Jugendlichen die Möglichkeit ins Gespräch darüber zu kommen, wie es ihnen eigentlich gerade geht. Zum Beispiel war da eine schlafende Person auf einer Blumenwiese zu sehen. Ist sie müde? Geht es ihr nicht gut? Entspannt sie gerade? Die Jugendlichen konnten die Leinwand selbst auch mit Aufklebern oder Sprüchen aktiv mitgestalten. Zu jedem Pop-up-Studio gab es außerdem eine Kiste mit Kostümen, Perücken und Brillen. Durch das Kostümieren haben wir einen leichten und spielerischen Zugang zum Thema geschaffen. Das Ganze wurde auch über unsere Social-Media-Kanäle begleitet. Über TikTok, Instagram und Snapchat haben wir den Jugendlichen zeitgleich eine Plattform für mehr Selbstbewusstsein, Empowerment und Inspiration für das psychische Wohlbefinden geboten. Die Jugendlichen hatten zwar total Spaß an dem Projekt, wollten dann aber ihre persönlichen Themen nicht öffentlich posten. Da muss man die Privatsphäre respektieren. Die Pop-up-Studios sind noch immer im Umlauf und werden gern genutzt.
Bei Mädchen ist es erfahrungsgemäß leichter, über psychische Gesundheit zu sprechen. Burschen gehen sofort, wenn sie merken, da wird interveniert, da geht es um Pädagogik oder über das „Lass-uns-mal-darüber-Reden“. Geht es aber beispielsweise darum, kreativ mit Musik in z.B. Rapsongs um ihre Psyche oder ihre Themen, dann beschäftigen sie sich sehr wohl proaktiv mit ihren Erfahrungen. Wenn Jugendliche den öffentlichen Raum etwa mit Graffiti gestalten, wenn sie im Tonstudio an einer Produktion arbeiten, im Theater auf der Bühne stehen, in einer Band spielen oder einen Videofilm drehen, dann erleben sie Selbstwirksamkeit. Psychische Gesundheit ist ja nichts anderes als Selbstwirksamkeit erleben, sich selbst spüren und sehen. Das ist für Jugendliche ganz wertvoll.
Ich habe schon das Gefühl, dass die Stigmatisierung bei den Jugendlichen um Einiges weniger geworden ist und psychisch bedingte Diagnosen nicht mehr ganz so schambehaftet sind. Natürlich ist das auch abhängig von den jeweiligen kulturellen oder ethnischen Hintergründen der Jugendlichen. Im Extremfall gibt es auch Jugendliche, für die es ‚fame‘ ist, auf TikTok über ihre Diagnose, zum Beispiel ihre Depression, zu sprechen, um Aufmerksamkeit zu generieren und gesehen zu werden. Wir arbeiten dann daran, dass Jugendliche sich über die Reichweite und die Auswirkungen solcher Social-Media-Posts im Klaren sind.
Darüber hinaus können wir zum Beispiel bei TikTok beobachten, dass Jugendliche ihre Themen häufig zwar nicht so nennen, aber Vieles, was dort zu sehen ist, mit psychischer Gesundheit zu tun hat. Wir sehen Suchtthematik, Einsamkeit, Ängste, aber auch Gewalt oder Extremismus. Das sind Themen, die viel mit psychischer Gesundheit zu tun haben und was wir versuchen in der Offenen Jugendarbeit abzufedern.
Gesundheitskompetente Jugendarbeit des bundesweiten Netztwerks für Offene Jugendarbeit (bOJA) in Österreich.