Dokumentarfilm eignet sich bestens, um sich mit Nachhaltigkeitszielen auseinanderzusetzen
Projekt „Documenting Innovation – Dokumentarfilm-Projekt in Stuttgart und Tansania“, LKJ Baden-Württemberg und Tanzania Youth Coalition
Projekt „Documenting Innovation – Dokumentarfilm-Projekt in Stuttgart und Tansania“, LKJ Baden-Württemberg und Tanzania Youth Coalition
Von Christina Budde
Eine Fahrrad-Demo in Stuttgart: Geschickt wie ein Akrobat balanciert Rahim auf dem Rad, um den Hals ein Aufnahmegerät baumelnd, in der Hand eine lange Tonangel. „Der junge Tansanier war für den Ton zum Film über Mobilität verantwortlich. Er nahm seine Sache sehr ernst, obwohl er zu Beginn jemand war, der schon mal die Lust verlor“, erinnert sich der Dokumentarfilmer und Medienpädagoge Oliver Koll, den die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Baden-Württemberg (LKJ) als einen von mehreren deutschen und tansanischen Filmprofis für das Austauschprojekt im Rahmen von „weltwärts“ engagiert hat.
Sich mit filmischen Mitteln über Nachhaltigkeit in Deutschland und Tansania auseinanderzusetzen, fesselte nicht nur Rahim, sondern auch die anderen jungen Frauen und Männer aus Deutschland und Tansania. So entstanden innerhalb sehr kurzer Zeit drei Dokumentarkurzfilme zu den Themen Mobilität, Secondhand-Kleidung und Recycling. „Einer ist nicht ganz fertig geworden“, sagt Susanne Rehm. „Im Mittelpunkt stand bei uns jedoch ohnehin nicht das fertige Produkt, sondern der gemeinsame Prozess der Filmentwicklung und -produktion“, ergänzt sie. Die Geschäftsführerin der LKJ hat das internationale Austauschprojekt gemeinsam mit Lenin Kazoba, einem tansanischen Kollegen von der Tanzania Youth Coalition, initiiert und durchgeführt.
Wir hätten Filme über alle Nachhaltigkeitsziele machen können, denn dafür eignet sich das Medium bestens.
Susanne Rehm
Während in Stuttgart die Menschen für bessere Bedingungen für Fahrradfahrer*innen kämpfen, sehen die Fragen in Dodoma, der Hauptstadt Tansanias, anders aus. Die deutschen Teilnehmer*innen an diesem Jugendaustauschprojekt lernen hier, dass „belastbare Infrastrukturen“, wie es das UN-Nachhaltigkeitsziel 9 fordert, für die tansanische Bevölkerung oft in weiter Ferne liegen. Der Zug von Dodoma nach Daressalam etwa benötigt 28 Stunden, fährt nur zwei Mal die Woche und das fast nie pünktlich. „Wir haben die Wartezeit genutzt, um Schnittbilder von den wartenden Menschen zu machen“, sagt Oliver Koll. „Diese Bilder sind wichtig, um die Stimmung eines Ortes einzufangen sowie die Emotionen der Menschen, die sich dort aufhalten.“ Doch nach zwei Stunden des Ausharrens in der tansanischen Hitze hatten Abeta, Fatuma, Svea und Wilfred mehr als genug davon und die Kameras waren so heiß gelaufen, dass sie erst einmal abkühlen mussten, bevor der eintreffende Zug letztendlich doch noch am Horizont zu sehen war. Dabei sei gerade dieser Moment so besonders gewesen: Die Reisenden rannten freudig und erleichtert aus dem Zug, froh, die durchgeschwitzten Kleider wechseln zu können, aßen gemeinsam und tanzten sogar.
Auch die lange Wartezeit war für die jungen Filmemacher*innen eine wichtige Erfahrung: „Für einen guten Film muss man auf den richtigen Moment warten können“, sagt Oliver Koll. Was sonst noch dazu gehört, um einen guten Dokumentarfilm zu machen, hatten die 18 bis 30-jährigen Teilnehmer*innen während der ersten der beiden Begegnungen in Deutschland gelernt. Hier lernten sie gemeinsam, was gutes filmisches Storytelling ausmacht, wie man einen Plot entwickelt, ein Skript erstellt, wie Kameras und Aufnahmegeräte gehandhabt werden und wie Schnitt- und Sounddesign-Programme funktionieren.
In den Workshops wurden auch ökonomische und ökologische Aspekte von Filmproduktionen thematisiert. „Wir konnten dazu verschiedene Organisationen in Deutschland und Tansania besuchen“, so Susanne Rehm. Unter anderem war die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg dabei, die Filmproduzent*innen zum Thema „Green Shooting“ berät, um möglichst ressourcenschonende Produktionsmethoden in der Filmherstellung einzusetzen.
„Wir hätten Filme über alle Nachhaltigkeitsziele machen können, denn dafür eignet sich das Medium bestens“, sagen Susanne Rehm und Oliver Koll. Im Fokus stand jedoch das Ziel 9, auch weil die Filmindustrie als Innovationsbereich und Motor für eine nachhaltige Infrastruktur und Wirtschaft gesehen wird.
Ein sandiger Parkplatz in Dodoma. Hier werden Interviewpartner*innen für den Recycling-Film gesucht. Stolz wie eine Königin sitzt die in prächtigem Grün und Rot gekleidete Frau vor ihrem Schatz: einem Berg von Plastikflaschen und Metallschrott, der darauf wartet, recycelt zu werden. Akribisch notiert sie die Eingänge und Verkäufe auf einem Notizblock. So beschreibt Susanne Rehm die für alle berührende Begegnung mit der Frau, die sich zunächst nicht habe filmen lassen wollen. Zu groß war ihre Sorge, als arme benachteiligte Frau dargestellt zu werden, die sie de facto nicht sei. Erst das Versprechen, sie als afrikanische Unternehmerin zu zeigen, überzeugte sie. Denn der Müll, als den andere die Plastikflaschen sehen, ist für sie die Lebensgrundlage, mit der sie das Schulgeld für ihre Kinder bezahlen kann. „Wir haben gelernt, dass ein Thema aus der Nord- und der Südperspektive sehr unterschiedlich betrachtet werden kann“, sagt Susanne Rehm.
Eine weitere Erkenntnis: In Tansania wird viel mehr gesammelt, repariert und wiederverwertet als in Deutschland − um Geld damit zu verdienen und weil Neuware häufig zu teuer ist. So ist es auch mit der Kleidung, die aus westlichen Ländern nach Ostafrika verkauft wird. Auf Märkten stapeln sich die vom Norden ausrangierten Hosen und T-Shirts – meist in einwandfreiem Zustand. Viele Menschen leben vom Verkauf und vom Umschneidern der Kleidung. Während in Deutschland der Secondhand-Markt als Vintage-Mode boomt, haben die Tansanier keine andere Möglichkeit, Kleidung günstig zu erwerben, weil dort keine eigene Bekleidungsindustrie existiert.
Soll man deshalb den Import der abgelegten europäischen Kleidung verbieten? Dann hätten auch sämtliche Händler*innen und Schneider*innen kein Einkommen mehr, das ihre Familien ernährt. „Wir haben mit den Jugendlichen viel über solche globalen wirtschaftlichen Zusammenhänge diskutiert, die mit den UN-Nachhaltigkeitszielen zusammenhängen“, sagt Susanne Rehm. Sind Häuser aus Plastikflaschen oder Elektro-Autos nachhaltig? Können die Teilnehmer*innen des Austausches ruhigen Gewissens nach Tansania oder Deutschland fliegen? Diese Fragen seien selten einfach zu beantworten, so Susanne Rehm. Aber sich damit zu beschäftigen und die verschiedenen Perspektiven im Dokumentarfilm zu reflektieren, hätte den Blick auf die Welt verändert.
Unterschiedliche Perspektiven im Film zu reflektieren, verändert den Blick auf die Welt.
Susanne Rehm
Ob die deutschen und tansanischen Jugendlichen nach den internationalen Austauscherfahrungen als Multiplikator*innen für mehr Nachhaltigkeit wirken? „Wir hoffen es“, sagt Susanne Rehm. Im Film fasst Wilfred das Gefühl, etwas bewirken zu können, so zusammen: „The knowledge and skills, that I gained through this training, I will utilize them to the maximum. So I can change the world, I can change Tanzania, too“.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2022): Nachhaltigkeit – schaffen wir das, erschaffen wir was?, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 22-2022. Berlin. S. 30 – 33.
Das Projekt „Documenting Innovation – Dokumentarfilm-Projekt in Stuttgart und Tansania“ ist eine Kooperation der LKJ Baden-Württemberg, Stuttgart, und „Tanzania Youth Coalition“ aus Dar es Salaam, Tansania. Es wurde im Rahmen der „Teams up!“-Programmlinie des bei Engagement Global angesiedelten Deutsch-Afrikanischen Jugendwerks und mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.