Technologie allein macht noch keine digitale Transformation. Ob und wie Kinder und Jugendliche sich Technologie und die immer wiederkehrende Veränderung, Beschränkung und Steuerung der Nutzung durch die Tech-Konzerne aneignen, gibt der Jugendkulturarbeit wichtige Ansatzpunkte.
Auch in einer analog-digital verschränkten Lebenswelt kann sie mit ihren bewährten Prinzipien zum „Welt verstehen, Welt hinterfragen, um Welt selbst zu gestalten“ beitragen.
Dr. Niels Brüggen ist seit 2007 am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in München tätig, seit 2016 als Leiter der Abteilung Forschung.
Vielmehr erscheint eine Haltung aussichtsreich, die Kinder und Jugendliche als Akteur*innen versteht, denen Möglichkeiten gegeben werden sollen, diese Phänomene zu durchdringen und auch Gegenentwürfe zu entwickeln, wo sie es für erstrebenswert halten.
Dr. Niels Brüggen
Jugendkultur online: von YouTube bis TikTok
Im Jahr 2008 hielt der US-amerikanische Anthropologe Michael Wesch einen Vortrag in der „Library of Congress“ mit Fokus auf YouTube. Wochenlang hatte er zuvor Videos auf der damals gerade drei Jahre alten Plattform gesichtet. Mit den folgenden Sätzen beschrieb er ein Video von Gary Browsma zu dem Song „Numa Numa“ und die unzähligen auf YouTube veröffentlichen Reaktionsvideos anderer Nutzer*innen, in denen sie zu dem Lied tanzten, Lip-Syncs anfertigten und vieles mehr: „So I kind of like to think of Gary as the first guy on the dance floor of this global mixer – and there is a lot more going on than just dancing. And you know, you think about the joy that people are expressing and the fun they are having as they do this dance. And I like to think of it as more than just a dance – it’s a celebration. It’s a celebration of new forms of empowerment. You know anybody with a webcam now has a stronger voice and presence. It’s a celebration of new forms of community, and types of community that we’ve never really seen before, global connections transcending space and time. It’s a celebration of new and unimaginable possibilities.“ (Wesch 2008)
Mit einem Zeitsprung ins Jahr 2021 und die heute bei Jugendlichen beliebten Plattformen mit ihrem Angebot scheint die Einschätzung von Michael Wesch eher die Plattform TikTok zu beschreiben als YouTube, obwohl es YouTube immer noch gibt und die wesentlichen technischen Funktionen, die damals als neuartig erschienen − die einfache Möglichkeit Videos zu veröffentlichen und die Steuerung der Sichtbarkeit auf Basis von Nutzerinteraktionen −, charakteristisch für die Plattform sind. Aber warum passt es heute nicht mehr so recht, YouTube als den globalen Dancefloor der (jugend-)kulturellen Partizipation zu charakterisieren? Das ist offenkundig eine rhetorische Frage. Sie soll darauf hinweisen, dass es nicht hinreicht, technische Neuerungen als alleinige Erklärung für eine „digitale Transformation“ heranzuziehen, auch wenn das Attribut „digital“ dies nahelegt. Selbst wenn spezifische technische Funktionen der App TikTok wie die Ausrichtung auf das Smartphone, die kurze Länge der Clips als Mikro-Formate, die Duett-Videos als Form der Bezugnahme etc. herausgestellt werden können, verweisen sie neben der technischen Umsetzung immer auch auf etwas anderes. Und in der Wechselwirkung zwischen den technisch gegebenen Handlungsoptionen und diesem „Anderen“ vollzieht sich das, was als digitale Transformation analysiert, reflektiert und gestaltet werden kann.
Eine Modellierung hierfür bietet das „Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt“ (Brinda et al. 2019), aus dem gleichfalls Impulse für die Kulturelle Bildung abgeleitet werden können. Aktuelle Phänomene sollten demnach aus einer technologisch-medialen Perspektive, einer gesellschaftlich-kulturellen Perspektive und einer Interaktionsperspektive betrachtet werden, um Dimensionen einer digitalen Transformation wie auch Ansatzpunkte für die (kulturelle) Bildungsarbeit herauszuarbeiten.
TikTok und YouTube durch das Frankfurt-Dreieck betrachtet
Wenn nun nochmals in den Blick genommen werden soll, wie YouTube in den letzten Jahren verändert wurde, ist bspw. offensichtlich, dass die Plattform intensiv daran arbeitete, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, das Content-Creator*innen eine ökonomische Existenz ermöglicht. Entsprechend wurde die technologische Grundlage und insbesondere „der“ Algorithmus der Plattform mehrfach verändert. Eingeschrieben sind darin nun einerseits die Anforderung, immer wieder neue Interaktionen von Nutzer*innen zu provozieren („Gebt mir einen Like und lasst mir ein Abo da“), als andererseits auch Erkenntnisse darüber, wie viel Werbung die Nutzer*innen zu welchen Zeitpunkten zu sehen akzeptieren. An der Benutzeroberfläche werden auch Techniken eingesetzt, um die Nutzer*innen zu einer höheren Toleranz gegenüber Werbeunterbrechungen zu bringen (Count-Downs etc.).
Analysiert werden kann diese Entwicklung nun unter einer technologisch-medialen Perspektive, in der explizit nicht nur die informatische Umsetzung des Algorithmus in den Fokus rückt, sondern auch zu betrachten ist, welche medialen Formen und Ästhetiken dieser so gestaltete Rahmen begünstigt oder auch ausschließt. Hier rücken dann auch die medienästhetischen Bezüge und ökonomischen Analysekriterien und damit Verbindungspunkte zur Betrachtung gesellschaftlicher und kultureller Wechselwirkungen in den Mittelpunkt. Außerdem stellt sich die Frage, was in diesem soziotechnischen System wem nicht gezeigt wird − an der grafischen Kante zu Fragen zu den angelegten Formen der Subjektivierung. So wird mit Blick auf gesellschaftlich-kulturelle Wechselwirkungen deutlich, dass YouTube im Vergleich zu 2008 zwar einerseits die Perspektive zur Monetarisierung eingestellter Inhalte eröffnet, zugleich aber auch die Sichtbarkeit von mit kommerziellen Interessen erstellten Inhalten deutlich höher ist. Hier ist ein Ökosystem von unterschiedlichen kommerziellen Interessen entstanden, das sich nicht allein auf die Verdienstorientierung von YouTube und des dahinterstehenden Konzerns Alphabet reduzieren lässt, sondern eng verbunden ist mit einem neuen Berufsbild des Social-Media-Influencers, mit entsprechenden Agenturen und insgesamt der Werbeindustrie in einer kapitalistischen Gesellschaft. In solch einem Umfeld können jugendkulturelle Nischen zwar weiter auf YouTube existieren, aber eben als Nische. Damit stehen weiterhin vergleichbare technische Funktionen zur Verfügung, die Michael Wesch als neue Formen des Empowerments würdigte. Die Sichtbarkeit und damit verfügbare Anerkennung ist aber − zumindest stärker als noch 2008 − verknüpft mit der Anrufung, die mit der kommerziellen Orientierung verbundenen Präsentationsformen auch selbst aufzugreifen. Wer sich auf YouTube einbringt und durch sein Handeln als Subjekt sichtbar wird, muss sich mit derartigen Anrufungen zumindest auseinandersetzen.
In der App TikTok, die mit dem bezeichnenden Namen musical.ly 2014 auf den Markt kam, scheint dagegen alles auf den jugendkulturellen Selbstausdruck zu Musik ausgelegt zu sein: Aktuelle Musiktitel werden auf eine dramaturgisch interessante Cliplänge zugeschnitten bereitgestellt und verschiedene Optionen zur Postproduktion ermöglichen es, vielfältige Effekte in die Clips einzubauen. Über aktuelle Trend-Hashtags können die Nutzer*innen zudem mit ihren Clips Teil einer globalen Gemeinschaft werden. Die Oberfläche der App ist damit vornehmlich auf jugendkulturellen Ausdruck ausgerichtet und wirkt weitgehend unverfänglich. Interessant ist allerdings, wie neben der algorithmischen Auswahl moderiert wird und welche Inhalte für wen auf der Plattform sichtbar sind. So haben Journalist*innen der Plattform netzpolitik.org herausgearbeitet, wie und nach welchen Prinzipien Inhalte auf der Plattform in den Feed von anderen Nutzer*innen eingespielt werden – oder eben nicht. Sie kommen in ihrer Recherche zu dem Schluss: „Bestimmte Inhalte bekommen eine möglichst große Reichweite, während andere systematisch unterdrückt werden“ (Reuter/Köver 2019). Gerade Kritik an Politik oder solche Inhalte, die sich für eine diverse Gesellschaft stark machen, werden offenbar in mehreren Ländern nicht ausgespielt. Interessant ist dies einerseits, da junge Menschen hierzulande alltäglich mit einem Moderationssystem in Kontakt sind, das gerade bei politischen Konflikten global als Zensurinfrastruktur genutzt wird. Andererseits – und das betrifft dann nicht nur TikTok – ist dies ein Beispiel dafür, dass relevante Räume der Sozialisation junger Menschen von Unternehmen inhaltlich moderiert werden und insofern die digitale Transformation hier neue „Öffentlichkeiten“ hervorgebracht hat. Diese sehen sich offensichtlich nicht immer einer demokratischen Öffentlichkeit verpflichtet bzw. setzen als transnationale Unternehmen ggf. abweichende Werte in ihren „community standards“ um.
Interessant erscheint, mit Kindern und Jugendlichen den Zustand des permanenten Beta aufzugreifen, der ausdrückt, dass digitale Systeme kontinuierlich weiterentwickelt werden, und selbst zu versuchen, den Rahmen des mit den Systemen Machbaren in konstruktiver Weise zu erweitern.
Dr. Niels Brüggen
Kulturelle Kinder- und Jugendarbeit als konstruktiver Beitrag zur digitalen Transformation
Nur beispielhaft wurden bis hierher YouTube und TikTok als aktuell relevante Plattformen diskutiert, die zentral in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen sind und über die Phänomene des digitalen Wandels für sie erfahrbar werden. Natürlich konnte dabei eine Vielzahl an Aspekten nicht betrachtet werden, die auch mit der gestiegenen Bedeutung von digitalen Medien und Systemen in unserem Zusammenleben in Verbindung stehen. Aufgezeigt werden konnte aber, wie die digitalen Systeme in aktuellen Medienangeboten in Wechselwirkungen mit den Formen des kulturellen Ausdrucks und der politischen Teilhabe stehen.
Vor diesem Hintergrund soll der Blick auf die Kinder und Jugendlichen gerichtet werden, die durch Bildungsangebote darin unterstützt und begleitet werden sollen, sich selbstbestimmt und solidarisch, kreativ und gemeinwohlorientiert in diese Gesellschaft einbringen zu können. Und angesichts der angesprochenen globalen Ausweitung digitaler Kommunikation stellt sich sogleich die Frage, welche Gesellschaft eigentlich gemeint ist, wenn in der (digitalen) Lebenswelt offenbar Akteure aus „anderen“ Gesellschaften eine gestaltende Rolle einnehmen. Wenn sich Gesellschaft aber nun nicht nur qua politischer Strukturen etabliert, sondern in der Alltagspraxis konstituiert, löst sich die Trennung in „unsere“ und „andere“ auf. Vielmehr wird deutlich, wie im Handeln der Menschen die eigentliche Transformation der sozialen und politischen Lebensbedingungen stattfindet.
Aus dieser Erkenntnis leitet sich die Haltung ab, mit der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit an das Phänomen der digitalen Transformation konstruktiv heranzugehen. Es hilft Kindern und Jugendlichen nicht (oder nur in begrenztem Maße), wenn diese Phänomene nicht zum Thema gemacht werden. Vielmehr erscheint eine Haltung aussichtsreich, die Kinder und Jugendliche als Akteur*innen versteht, denen Möglichkeiten gegeben werden sollen, diese Phänomene zu durchdringen und auch Gegenentwürfe zu entwickeln, wo sie es für erstrebenswert halten.
Als Orte der pädagogischen Arbeit kommen grundsätzlich alle Räume in Frage, in denen Kinder und Jugendliche sich bewegen – offline wie online. Bei jenen digitalen Räumen, die mit Datenschutz oder anderen rechtlichen Fragen behaftet sind, gehört es ggf. zum pädagogischen Auftrag diese Fragen zunächst zu ergründen − ebenfalls wieder mit dem Anspruch, Kindern und Jugendlichen eine möglichst selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen und tiefergehende Einblicke in die im Zuge der digitalen Transformation sich verändernden Lebenswelten zu ermöglichen.
Zugleich stellen die „neuen und unvorstellbaren Möglichkeiten“ (Wesch 2008), die die digitalen Technologien eröffnen, auch besondere Potenziale für die Kulturelle Bildung dar. Dabei ist nur ein Aspekt, dass das Überwinden von physisch-räumlichen Grenzen neue Möglichkeiten der Verbindung mit anderen und raumübergreifende Formen der Gemeinschaft in der kulturellen Praxis erlaubt. Wenngleich dies ein Faktor ist, der Kulturelle Bildung während der Pandemie erst möglich gemacht hat.
Interessant erscheint darüber hinaus, mit Kindern und Jugendlichen den Zustand des permanenten Beta aufzugreifen, der ausdrückt, dass digitale Systeme kontinuierlich weiterentwickelt werden, und selbst zu versuchen, den Rahmen des mit den Systemen Machbaren in konstruktiver Weise zu erweitern. Wieder am Beispiel TikTok konkretisiert: Hier mag sich der Eindruck aufdrängen, dass viele Beiträge auf TikTok Variationen von Vorlagen sind, die ihre Bedeutung dadurch erlangen, dass sie eine Selbstdarstellung als Akteur*in und eine Vergemeinschaftung über die Reproduktion der Vorlage verschränken, und sie dabei eher als Ausdruck einer kombinatorischen Kreativität betrachtet werden können (vgl. Zipp und Vey 2018).
Erkenntnisreich erscheint es, wenn die bereitgestellten Handlungsoptionen der digitalen Systeme so genutzt werden, dass diese wiederum zur Exploration sowohl der Technologien also auch der eigenen transformierten Lebenswelt eingesetzt werden. Bedeutungsvoll wird das dann, wenn es jeweils gelingt in dieser Exploration die wechselseitigen Verschränkungen von den technologisch-medialen Handlungsoptionen mit dem „Anderen“ zu erkunden – seien dies gesellschaftlich-kulturelle Rahmenbedingungen oder auch Interaktionsformen respektive angelegte Formen des Subjektseins.
Literatur
Brinda, Torsten/Brüggen, Niels/Diethelm, Ira/Knaus, Thomas/Kommer, Sven/Kopf, Christine et al. (2019): Frankfurt Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt. Ein interdisziplinäres Modell. In: merz. medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik. 63 (4). S. 69–75.
Reuter, Markus/Köver, Chris (2019): TikTok – Gute Laune und Zensur. In: netzpolitik.org. Beitrag vom 23.11.2019. https://netzpolitik.org/2019/gute-laune-und-zensur [Zugriff: 11.07.2021].
Wesch, Michael (2008): An anthropological introduction to YouTube. Vortrag an der Library of Congress vom 23. Juni 2008. Washington D.C./USA. youtu.be/TPAO-lZ4_hU [Zugriff: 04.08.2021].
Zipp, Jan Sebastian/Vey, Karin (2018): Das kreative System – Überlegungen zur künstlichen Kreativität. In: Informatik Spektrum 41 (1). S. 27–37. DOI: 10.1007/s00287-018-1089-y.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 6–11.
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