Dimensionen ästhetisch-künstlerischen Lernens in der Schule
Ein Plädoyer gegen den Verlust ihres Bildungsauftrags
Ein Plädoyer gegen den Verlust ihres Bildungsauftrags
Dr. Ludwig Duncker
Dr. rer. soc. Ludwig Duncker war Gründungsprofessor und Leiter des Instituts für Grundschulpädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig und Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Pädagogik des Primar- und Sekundarbereichs an der…
Verfolgt man die aktuelle bildungspolitische Diskussion um die Weiterentwicklung des Schulwesens, so scheinen Überlegungen zur Bedeutung ästhetisch-künstlerischen Lernens unzeitgemäße Betrachtungen zu sein. Die Dimensionen des Ästhetischen und des Künstlerischen erscheinen heute eher wie Fremdkörper im Mainstream einer bildungspolitischen Diskussion, die ganz andere Schwerpunkte setzt. Es wird heute überwiegend ein solches Verständnis von Lernen favorisiert, das mehr die qualifizierende als die bildende Aufgabe der Schule betont. Dies lässt sich an den Folgen der internationalen Vergleichsstudien im Bildungswesen sowie an der Diskussion um die Qualitätsentwicklung und die Ausbreitung von Evaluationsverfahren in Schule und Unterricht festmachen. Insgesamt wird hier eine Trendwende in der Ausgestaltung des Schulwesens in dieWege geleitet.
Durch die einseitige Betonung der Qualifikationsfunktion von Schule werden bestimmte Strukturmomente schulischen Lernens gestärkt. Qualifizierendes Lernen bevorzugt geschlossene Formen, in denen definierte Leistungsanforderungen und Zielvorgaben eine effiziente Ausrichtung der Lernprozesse ermöglichen sollen. Didaktisch wird dies dadurch zu erreichen versucht, indem komplexe Themen und Inhalte in kleine Bestandteile zerlegt und die einzelnen Stücke dann auf eine lineare Weise hintereinander angeordnet werden. Es wird die Form eines treppenförmigen, methodisch systematischen Lernens intendiert, das die angestrebten Ziele ohne Umwege und möglichst geradlinig erreichbar machen will (Duncker 2006).
Was an der einseitigen Betonung des qualifizierenden Lernens zu kritisieren ist, ist die Verdrängung eines bildenden Lernens (vgl. Buschkühle/Duncker/Oswalt 2009). Bildung droht an den Rand gedrängt zu werden in einer Schule, die Lernprozesse nur an Output und Verwertbarkeit, an Effizienz und linearer Optimierung ausrichtet. Konrad Liessmann (2008) diagnostiziert deshalb in den aktuellen bildungspolitischen Trends einen Geist der „Unbildung“. „Bildung ist kein Arsenal, sondern ein Horizont“ – so sagt es der Philosoph Hans Blumenberg (1998). Bildung meint also einen Horizont, der unser Denken erweitert, der uns in die Lage versetzt, unsere Erfahrung zu reflektieren und ihren Sinn in größeren Kontexten zu klären, einen Horizont, der uns Maßstäbe beschert für die Deutung geschichtlicher und kultureller Veränderung und uns dabei hilft, das Wichtige vom Unwichtigen im Leben zu unterscheiden. Es geht um eine Bildung, die nicht nur fertige Antworten auf vorgegebene Fragen auswirft, sondern auch neue Fragen aufwirft, sogar dann, wenn wir gar keine schnellen und in kalkulierbaren Zeiträumen erreichbare Antworten erarbeiten können. Bildung ist deshalb immer angewiesen auf Verständigung und Offenheit für das Neue, sie sensibilisiert uns für das Staunenswerte und Überraschende. Das offene Suchen und Abtasten, das Ausprobieren und Erkunden, das Innehalten und Auskosten, das spielerische Sondieren von Ideen undWegen – all dies sind Momente eines bildenden Lernens, die sich nicht zweckrational verdichten und effizient auf eine gerade Linie bringen lassen.
Bildendes Lernen enthält auch diskontinuierliche Elemente und Umwege, Sackgassen und Aufenthalte, es sind oft die verschlungenen Wege, deren Verlauf sich manchmal erst im Nachhinein rekonstruieren lassen. Das produktive Aufräumen der Erfahrung, die weiträumigen Denkbewegungen, die es zunächst auch erfordern, von sich selbst absehen zu lernen, bevor sie wieder die Verknüpfung mit der eigenen Person suchen, das sich Einlassen auf das Ungewohnte und Fremde, die Ausbildung eines vielseitigen Interesses und eine Offenheit für Phänomene, denen wir begegnen, all das bringt einen Menschen hervor, der aufmerksam und wach, unvoreingenommen und vorurteilsfrei, urteilsfähig, gesprächsfähig und handlungsfähig zu werden vermag.
Diese Momente eines bildenden Lernens werden hier genannt, um auf Strukturmomente von Lernprozessen aufmerksam zu machen, die im Qualifikationsbegriff nicht abgebildet werden können, von denen aber behauptet werden kann, dass sie nicht nur für die eigene Persönlichkeitsentwicklung relevant sind, sondern auch in schulischen Lernprozessen auffindbar sein sollten. Was wir als Grundlage für schulisches Lernen reklamieren müssen, ist deshalb die dialektische Verbindung von Bildung und Qualifikation – ein Spannungsfeld, das wir aufrechterhalten und pflegen müssen, wenn der Gesamtzusammenhang des Lernens nicht Schaden erleiden soll (vgl. Duncker 2005). In Zeiten, in denen der Qualifikationsbegriff einseitig das schulische Lernen zu dominieren droht, muss deshalb die Bedeutung des Bildungsbegriffs wieder betont werden.
In einem zweiten Schritt ist kurz auf die schultheoretische Diskussion einzugehen. Diese Diskussion will klären, welche Aufgaben die Schule erfüllt und auch erfüllen soll. In der schultheoretischen Diskussion der letzten 30 Jahre sind jedoch ebenfalls einige Einseitigkeiten festzustellen, die teilweise problematische Folgen für die Lehrerausbildung und das Selbstverständnis des Lehrerberufs erzeugt haben.
Über drei Jahrzehnte wurde die Diskussion sehr stark durch sogenannte strukturfunktionalistische Konzepte dominiert wie beispielsweise durch die Theorie der Schule von Helmut Fend (1980). Er versuchte dort nachzuweisen, dass die Schule eine „Funktion der Gesellschaft“ sei. Auf Befunden einer schulischen Sozialisationsforschung beruhend suchte er die These zu erhärten, dass sich diese gesellschaftliche Funktionalität in drei Feldern aufzeigen ließe, nämlich der „Qualifikationsfunktion“, der „Selektionsfunktion“ und der „Legitimationsfunktion“. Zusammengefasst ergeben diese drei Funktionen die „Reproduktionsfunktion“, die besagt, dass die Schule insgesamt dazu da ist, die Gesellschaft so, wie sie ist, zu erhalten.
Eine Kritik soll sich hier auf drei Punkte begrenzen. Sie decken sich auch teilweise mit der Kritik an aktuellen bildungspolitischen Trends:
Nimmt man beide Diskussionen zusammen, die bildungspolitische und die schultheoretische, dann muss es nicht verwundern, wenn Fragen eines ästhetisch-künstlerischen Lernens in der Schule an den Rand gedrängt worden sind (vgl. auch Liebau 2009, Bilstein/Ecarius 2009). Im Kontext eines strukturfunktionalistischen Denkens wäre ästhetisches und künstlerisches Lernen geradezu ein Fremdkörper, vielleicht sogar ein Störfaktor. Ästhetisches und künstlerisches Lernen ist jedenfalls mit den Ansprüchen eines qualifizierenden Lernens sowohl schultheoretisch, anthropologisch als auch didaktisch nicht kompatibel.
Bevor ein Verständnis von Schule zu skizzieren ist, in dem Inhalte und Formen eines ästhetischen und künstlerischen Lernens aufgenommen und integriert werden können, soll noch ein Blick auf die Jugendforschung geworfen werden. Die Jugendforschung befasst sich u.a. mit den Erscheinungsformen von Jugendkulturen und will dabei spezifische Merkmale und Eigenschaften jugendlichen Verhaltens aufzeigen. Aus den zahlreichen Forschungsarbeiten soll hier nur ein bedeutsames Merkmal von Jugendkulturen herausgestellt werden (vgl. hierzu ausführlicher Ferchhoff/Neubauer 1997, Göppel 2005): Jugendkulturen sind primär ästhetische Kulturen. Jugendliche unterscheiden sich von Erwachsenen vor allem hinsichtlich der Nutzung unterschiedlicher symbolischer Ausdrucksformen. Jugendliche Identität präsentiert sich symbolisch-ästhetisch durch die Wahl von Kleidung und Frisuren, von Requisiten und Konsumgütern, durch eine Bevorzugung bestimmter Musikstile und Popgruppen, durch Aufenthaltsorte und Treffpunkte, also durch Inszenierungen des eigenen Auftretens. Dabei werden auch konkurrierende Stile entworfen und voneinander abgegrenzt, sodass man oft schon äußerlich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten jugendlichen Subkultur erkennen kann. Das Ausbalancieren von Anpassung und Protest, von Identität und Abgrenzung geschieht nicht diskursiv und argumentativ, sondern mit den Mitteln einer ästhetischen Praxis. Damit verknüpft ist auch eine gewisse Labilität jugendlicher Identität, weil sie angewiesen ist auf die äußere Abstützung und die Resonanz in der Szene, in der man sich bewegt (Wirth 1984, Ziehe 1991). Ohne diese Abstützung droht das eigene Selbstbewusstsein schwach zu werden, es kann dann oft nicht durchgehalten werden.
Jugendkulturen sind in ihrer ästhetischen und szenischen Stilisierung auf den gegenwärtigen Moment des Lebens hin ausgerichtet. Es geht um das Leben im Hier und Jetzt, auch um Spaß und Genuss, um Action, Fun und Thrill. Daraus folgt auch oft die Anfälligkeit für gesundheitsschädliche Genussmittel, weil sie das Erleben des gegenwärtigen Moments zu steigern versprechen. Auch die Selbstbehauptung als eines sozialen Orientierungsmusters betont die Rückbindung jugendlicher Identität an Formen erlebter Gegenwart.
Es können hier nicht die vielen Ausdifferenzierungen angesprochen werden, die im vertikalen Wandel sich ablösender Jugendgenerationen und im horizontalen Vergleich heutiger subkultureller Erscheinungsformen des Jugendalters auszumachen sind. Was sich jedoch erkennen lässt, ist der drohende Bruch zwischen Jugend und Schule. Wenn Jugend tendenziell auf Gegenwart und ästhetische Praxis, Schule dagegen einseitig auf Zukunft und ein Lernen „für später“ Wert legen, sind Konflikte vorprogrammiert. Eine Schule, die ausschließlich als Qualifikationsinstanz ausgelegt wird, wird von den Schülern nicht mehr angenommen, sie kann dann nur noch schwer ein Ort werden, mit dem sie sich identifizieren möchten. Schüler bauen dann eher eine Abwehrhaltung auf oder sie verstehen Schule als etwas, das man ertragen und erdulden muss, weil es sich in ihren Augen nicht ändern lässt (vgl. Hurrelmann 1983). Und umgekehrt leidet die Schule an den Phänomenen der Bildungsverweigerung, wenn sich die Schülerinnen und Schüler nicht den Anforderungen des Qualifizierens und Trainierens unterwerfen (Duncker 2008).
Natürlich wäre eine solche weitreichende Aussage zu differenzieren, z.B. nach Bildungsgängen. Im Gymnasium sind die Konflikte, die aus dem Auseinanderbrechen von Gegenwarts- und Zukunftsbezug resultieren, meist weitaus geringer ausgeprägt als beispielsweise in der Hauptschule. Dort kann man oft gar nicht mehr mit Notendruck drohen, weil derWertekanon schulischen Lernens von den Hauptschülern gar nicht geteilt wird. Nun kann es nicht darum gehen, die Lösung des Problems darin zu suchen, dass die Schule ihren Zukunftsbezug aufgibt und sich den Inhalten und Formen jugendkultureller ästhetischer Praxis annähert oder sich ihnen gar anbiedert. Es geht vielmehr darum, ein anderes Verständnis von Schule zu skizzieren, das zumindest auch die Chance enthält, mit Jugendlichen dialogfähig zu bleiben und ihnen kulturelle Orientierungen anzubieten.
Wir benötigen also ein Verständnis von Schule, das die Verengungen eines strukturfunktionalistischen Denkens vermeidet und die Schule nicht allein als eine Funktion der Gesellschaft betrachtet. Sehr viel aussichtsreicher erscheint es deshalb, wenn wir statt von gesellschaftlicher Funktionalität von der kulturellen Bedeutung der Schule sprechen (vgl. auch Duncker 1994, Helsper/Böhme/Kramer 2001, Liebau/Zirfas 2009). Ohne dass hier eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kultur erfolgen und der interdisziplinäre Diskurs um eine Theorie der Kultur aufgenommen werden kann, muss es hier genügen, vier Dimensionen herauszugreifen, die für eine schultheoretische Diskussion besonders fruchtbar zu sein scheinen.
Eine Schule als Ort der Kultur erlaubt es, schulisches Lernen als Entfaltung von Bildungsprozessen zu konzipieren. Dies lässt sich verdeutlichen, indem man Bildung begreift als eine dialektische Verknüpfung von Individuierung und Enkulturation. Enkulturation meint das Hineinwachsen in eine Kultur, die uns von Geburt an immer schon umgibt. Wir erwerben die Muttersprache, eine bestimmte Art sozialen Verhaltens, wir lernen Normen und Regeln usw. Diese Kultur aufzunehmen, sie zu verstehen und sich in ihr zu bewegen erfordert die Aneignung dessen, was wir vorfinden. Aber gleichzeitig ist dieser Prozess der Enkulturation auch ein Vorgang der Individuierung. Die Entfaltung eigener kultureller Identität hat mit der „Formung des Subjekts“ (Fuchs 2011) zu tun. Eine Habitualisierung von Bildung kann nur im Kontext des Hineinwachsens in eine Kultur erfolgen. Kultur ist immer darauf angewiesen, dass sie gelebt wird und dass die Menschen in der Lage sind, Kultur nicht nur anzueignen, sondern immer auch als Möglichkeit für die Entfaltung der eigenen Person zu begreifen. Hier kann auch die Schule produktiv ansetzen: Der anthropologische Sinn von Schule besteht darin, den Wechselprozess von Individuierung und Enkulturation zur Entfaltung zu bringen, anzuregen und zu unterstützen.
Kultur ist nichts Statisches, Unveränderliches, kein Arsenal abzählbarer Kulturgüter, sondern ein Prozess, in dem Tradierung und Erneuerung untrennbar zusammengehören. Deshalb kann die Tradierung von Kultur nicht wie eine Vermittlung von Wissen verstanden werden. Es geht bei Prozessen der Kulturaneignung um Vorgänge der Rekonstruktion, die immer auch Konstruktionen einschließen. Vor allem setzt die Auseinandersetzung mit den Beständen der Kultur eine Distanzierung und Bewertung, eine Auswahl des Bedeutsamen und ein Weglassen des weniger Wichtigen mit ein. Und Erneuerung, Innovation, eigenes kreatives Hervorbringen von Kultur machen die schöpferische Dimension des kulturellen Prozesses deutlich. Die aktive und passive Dimension von Kultur sind unauflöslich miteinander verbunden. Kulturaneignung ist deshalb nicht die Herstellung einer Kopie, Erziehung kein Vorgang, um aus der jüngeren Generation ein Duplikat der älteren zu machen. Kulturvermittlung kann nur gelingen, wenn die nächste Generation in die Lage versetzt wird, Kultur eigenständig hervorzubringen, das Neue und Andere zu denken. Damit soll das Bewahren von Kultur nicht klein geredet werden: Die Schule und der Lehrplan entscheiden immer darüber mit, was als erhaltenswert gelten soll. Aber kein Lehrplan und keine Didaktik können den letzten Schlussstein herbeizwingen, dass nämlich das Angebot des Unterrichts von den Schülern auch angenommen und zu eigen gemacht wird. Die Konsequenz daraus lautet, dass Schule dialogfähig sein muss. Sie muss als Ort der Kultur die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Tradition so ausgestalten, dass dabei auch Neues und Eigenständiges entstehen kann.
Damit wird drittens die Schule zu einer Drehscheibe des kulturellen Wandels. Jede Generation entscheidet auf ihre Weise darüber mit, welche Aspekte kultureller Tradition sie übernehmen und bewahren will, aber auch darüber, was sie ablehnt, wovon sie sich abgrenzt und wo sie Neues und Alternatives sucht. Wo jugendlicher Protest sichtbar und die Übernahme traditioneller kultureller Orientierungen verweigert wird, wird besonders deutlich, dass kulturelle Entwicklung nicht einfach als lineare Fortschreibung und kontinuierliche Weitergabe dessen begriffen werden kann, was schon da ist und was der älteren Generation wertvoll ist. Kulturelle Entwicklung ist immer eine Mixtur von Kontinuität und Diskontinuität, von harmonischen und widersprüchlichen Elementen, von retardierenden und beschleunigenden Verläufen, von linear aufeinander folgenden, ungleichzeitigen und sich überlagernden Prozessen. Im kulturellen Lernen wird durch Sozialisationsprozesse sehr vieles am Bewusstsein der Beteiligten vorbei weitergegeben, aber andere Dinge sind der Reflexion zugänglich und der eigenständigen Entscheidung der Beteiligten überantwortet.
In einer demokratischen Kultur gilt es,Teilhabe auch in Formen der Mitwirkung auszugestalten, so dass die Erziehung zur Selbständigkeit sich darin ausweist, die jüngere Generation in die Lage zu versetzen, Maßstäbe zu erwerben, um das Bedeutsame und Erhaltenswerte auszuwählen und eigene Formen einer kulturellen Praxis zu entfalten.
Die Schule kann so zu einem Ort werden, um diese Formen der Auseinandersetzung mit Kultur anzustoßen und auszugestalten. Mit dem Angebot, das die ältere Generation macht, wird deutlich, was ihr selbst wichtig ist. Sie versucht dabei auch, sich verständlich zu machen. Deshalb muss die Einführung in und Auseinandersetzung mit Kultur als Gesprächsangebot immer offen sein für Verständigung. In der Art undWeise, wie die Schule Kultur vermittelt, kann sie Tradition und Überlieferung attraktiv machen, aber sie kann Zugänge auch versperren und Ablehnung hervorrufen. Erzwingen lässt sich die Akzeptanz jedoch nicht. Schon immer hat die nachwachsende Generation darüber mitentschieden, welche Aspekte kultureller Überlieferung sie annimmt und welche nicht. Damit öffnen sich Chancen für die Ausgestaltung von Bildungsprozessen.
Ein vierter Punkt führt nun näher hin zu ästhetischen und künstlerischen Dimensionen des kulturellen Prozesses: Kultur ist als ein komplexer Zusammenhang symbolischer Ausdrucksformen zu begreifen. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der Kultur den Menschen als ein „animal symbolicum“ beschrieben, als ein Wesen, das symbolfähig ist. Und mit dieser Fähigkeit gelingt es ihm, seine eigene Kultur hervorzubringen. Cassirer erklärt die Einheit des schöpferischen Prozesses aus einem anthropologischen Grund heraus. Mit Hilfe der menschlichen Fähigkeit zu Spontaneität, Produktivität und Ausdrucksfähigkeit kann sich der Mensch ein eigenes Universum errichten, „ein symbolisches Universum, das ihn befähigt, seine Erfahrungen zu verstehen und zu deuten, zu gliedern und zu ordnen, zu synthetisieren und zu verallgemeinern“ (1944/1990, S. 335). Der spezifische Charakter der Kultur geht also nicht auf ein „Material“ zurück, sondern auf ihre Form, ihre „architektonische Struktur“. Die Fähigkeit, Symbolsysteme hervorzubringen, ist deshalb eine Methode, mit der sich der Mensch nicht nur an seine Umgebung anpassen, sondern mit der er gleichzeitig eine neue Wirklichkeit erschaffen kann. Cassirer entdeckt deshalb in den symbolischen Formen der menschlichen Kultur eine neue „Zwischenwelt“, die sich zwischen Mensch und Wirklichkeit entfaltet. Sie ist keine Welt harter Fakten. Sie enthält vielmehr den Entwurf von Bildern und Projektionen, von Hoffnungen und Ängsten, von Phantasien und Träumen, die eine ebenso wirksame Realität bedeuten wie die sogenannten Tatsachen. „Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.“(1921f./1956, S. 175f.)
Cassirers Aussagen können schulpädagogisch interpretiert werden: Wenn sich die Schule nur auf die Vermittlung überprüfbarer Tatsachen beschränkt, klammert sie die symbolische Zwischenwelt und damit auch Kultur aus. Wenn umgekehrt Schule als Ort der Kultur begriffen werden soll, dann muss sie sich auch der symbolischen Zwischenwelt annehmen und der Entfaltung von Spontaneität, Produktivität und Ausdrucksfähigkeit Raum geben. Gut anschließen lässt sich hier auch die Symboltheorie von Nelson Goodman (1973), der in metaphorischem Sinne von den „Sprachen der Kunst“ spricht, also einer Vielzahl symbolischer Ausdrucksformen, die ähnlich wie eine Grammatik Möglichkeiten generieren, um Sinnzusammenhänge herzustellen und zu kommunizieren. Hier erschließt sich der Formenreichtum von Kultur als Ressource an Möglichkeiten, die den Menschen in die Lage versetzt, den schöpferischen Vorgang kultureller Prozesse gleichsam als Vorgang des „Lesens“ und „Schreibens“ zu begreifen. Dies gilt aber nicht allein für den Bereich der Literalität, sondern auch in den jeweils verschiedenen „Sprachen“ der Kunst, also der bildhaften Kunst, der Musik, des Tanzes oder der Architektur. Kultur ist nicht denkbar ohne die ästhetischen und szenischen Formen menschlichen Ausdrucks, die in den Künsten kultiviert werden, die aber auch vielfältig die Kultur des Alltags bestimmen und prägen. Wenn die Schule ein Ort der Kultur sein will, muss sie deshalb die Sprachen der Kunst lehren und damit den Schülerinnen und Schülern auch die Instrumente in die Hand geben, die es ihnen ermöglicht, kulturell produktiv zu werden und, wie Cassirer es formuliert hat, eine eigene Kultur zu schaffen. Dies kann jedoch immer nur in der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem geschehen, was die Schülerinnen und Schüler als Kultur bereits umgibt. In diesem Sinne muss die Schule ein Ort sein, an dem sich eine Kultivierung symbolischer Formen des Ausdrucks in den Sprachen der Kunst entfalten kann.
Das Postulat von der Schule als einer kulturellen Einrichtung gilt es näher zu konkretisieren. Dies soll hier exemplarisch an zwei Feldern geschehen, dem Kompetenzerwerb im Musizieren und am bildhaften Denken. Es handelt sich dabei unbestreitbar um Felder, die in der Tradition der Schule sogar Schulfächer generiert haben, auch wenn sie heute über den Status von Nebenfächern kaum hinausgewachsen und aufgrund der bildungspolitisch gewollten Stärkung der Qualifikationsfunktion von Schule eher geschwächt und zur fast bedeutungslosen Randerscheinung geworden sind. Worauf es ankommt ist, einen übertragbaren Bildungswert anzusprechen, der erkennen lässt, dass ästhetisch-künstlerische Aktivitäten in der Schule nicht nur illustres Beiwerk zu den „eigentlich wichtigen“ Fächern sind, dass sie nicht Ventil, Kompensation und Ausgleich sind, um die Schüler bei Laune zu halten, dass diese ästhetisch-künstlerischen Aktivitäten vielmehr Qualitäten zur Entfaltung bringen können, die sich in keiner Weise hinter den mathematisch-naturwissenschaftlichen und philologischen Fächerlandschaften verbergen müssen. Wenn im Folgenden ein besonderer Wert auf die übertragbaren Fähigkeiten gelegt wird, die in den verschiedenen Formen künstlerischer Praxis geborgen liegen, geht es dennoch nicht vorrangig um Überlegungen, wie sie in den fachdidaktischen Diskursen erfolgen. Die Perspektive ist vielmehr eine fächerübergreifende und fächerverbindende, mehr noch, eine grundlegend schulpädagogische und pädagogisch-anthropologische, weil es darum geht, die übergeordnete Balance von Bildung und Qualifikation als eines grundlegenden dialektischen Spannungsfeldes für das Verständnis von Schule wiederzugewinnen.
Wer ein Musikinstrument erlernt, lernt sehr viel mehr als das Spielen eines Musikstücks und die klangliche Umsetzung eines Notenblattes in hörbare Musik. Zunächst einmal ist es die Ausbildung einer Feinmotorik, die Beherrschung dessen, was der Körper mit dem Musikinstrument macht, vorrangig also die Kontrolle über die Finger oder bei Blasinstrumenten auch des Atems, beim Orgelspiel der Beine und Füße. Allein die Koordinationsleistungen von motorischen Abläufen haben Rückwirkungen auf die Synapsenbildung im Gehirn. Die Neurowissenschaften haben nachgewiesen, dass die Ausbildung der Feinmotorik einen bedeutsamen und irreversibel positiven Einfluss auf die Ausbildung neuronaler Netze und ihrer fördernden Wirkung auf die kognitiven Fähigkeiten junger Menschen hat (vgl. Spitzer 2007). Wer statt des Spielens eines Musikinstruments immer nur mit dem rechten Zeigefinger die Maustaste seines Computers bedient, hat deshalb weitaus geringere Chancen, stimulierend auf die Synapsenbildung seines Gehirns einzuwirken als derjenige, der alle zehn Finger differenziert und in feinen Nuancierungen zu nutzen weiß. Pointiert ausgedrückt könnte man deshalb behaupten, dass ein musizierendes Kind mehr Impulse für seine kognitive Entwicklung erhält und damit klüger werden kann als eines, das kein Instrument spielen lernt.
Die ständige und sofort hörbare Rückmeldung über die selbst erzeugten Töne und Tonfolgen erlaubt eine direkte Selbstkontrolle über das, was man tut. Man hört sofort, ob der Ton richtig ist, ob die Intonation stimmt, ob das, was ich dem Instrument antue, geeignet ist, den gewünschten Klang hervorzubringen. Dies befördert einen ehrlichen Umgang mit der eigenen Leistung. Nur schwer kann man sich anlügen oder sich einbilden, dass man doch ein großer Virtuose ist, wenn man ständig über die einfachsten Stellen eines Musikstücks stolpert.
Gewiss, eine Einstellung zum Üben muss ein Stück weit vorausgesetzt werden, aber Üben ist mehr als nur ein stumpfsinniges Einpauken und Wiederholen des immer Gleichen. Üben ist auch ein Sich üben, eine selbstreflexive Form des Erwerbs von Meisterschaft, die steigerungsfähig ist, die aber auch auf einfachen Stufen schon die Erfahrung des Könnens und damit Erfolgserlebnisse vermittelt (vgl. Bollnow 1991). Aber diese Erfolgserlebnisse beruhen auf einem erarbeiteten Genuss, nicht auf einem oberflächlich durch Konsum bereiteten Spaß. Es ist mehr die beglückende Erfahrung, dass man aufgrund eigener Anstrengung in der Lage ist, etwas hervorzubringen und dabei vielleicht auch andere Menschen zu beglücken. Es ist der Spannungsbogen, der sich aufbaut von den einfachen Gehversuchen und ersten Schritten über die vielen kleinen methodischsystematisch erarbeiteten Stufen hin zur Aufführung, auf die man zuarbeitet, nicht nur um sich selbst, sondern auch möglichen Zuhörern einen ästhetischen Genuss zu bereiten. In diesem Spannungsbogen bildet sich eine Haltung aus, in der das Üben als ein grundlegender methodischer Weg des Erarbeitens von Zielen habitualisiert wird. Die ästhetische Erfahrung des Genusses gibt es zweifellos auch in unerwarteten Situationen und gleichsam als passiv erlebbares Geschenk, aber ästhetische Erfahrung kann auch der Ertrag einer Arbeit sein, die sich wie beim Musizieren als langfristig angelegte und das Leben begleitende Übung entfaltet.
Auch eine soziale Komponente ist bedeutsam: Wer mit anderen zusammen musiziert, muss vielerlei Absprachen treffen und einhalten. Dies beginnt bei der verbindlichen Terminregelung für das gemeinsame Proben, das pünktliche Erscheinen, die musikalische Vorbereitung, das Durchhalten bis zum Ende der Probe und der Aufführung. Hier zeigt sich exemplarisch der Projektgedanke in vielfältiger Schattierung. Mit verteilten Rollen, die jedem Instrument eines Orchesters oder einer Band zugeordnet sind, auf ein erstrebenswertes Ziel hinzuarbeiten und sich mit dem eigenen Beitrag in eine nur gemeinsam zu erreichende Gesamtleistung einzufügen, erfordert Engagement und Einsatz im Dienste einer Sache. Man muss aufeinander hören, sich präzise abstimmen, auch dann, wenn es je nach Musikgattung interpretatorische und improvisatorische Freiheiten gibt.
Auch ein Solist muss sich immer wieder einfügen in den Gesamtzusammenhang des Werkes, dem man dient und dem man gerecht werden muss. Überzeugen kann nur eine solche Musik, bei der sich der Einzelne in den Dienst der Sache stellt, nicht nur der Selbstinszenierung oder der Selbstdarstellung dient. Die Erfahrung der Anerkennung gelungenen gemeinsamen Musizierens durch die Beglückung anderer Menschen schafft einen Nährboden, auf dem sich auch weit über die musikalische Erfahrung hinaus Leistungsfreude und Leistungsbereitschaft entfalten können. Schulen, die einen Schwerpunkt auf Instrumentalausbildung und gemeinsames Musizieren im Schulorchester und Chor, in Ensemblespiel und Bigband pflegen, können einen Leistungszuwachs ihrer Schüler auch in anderen Fächern und Lernbereichen verbuchen. Dies zeigt z.B. eine Untersuchung von Hans Günther Bastian (2002), der in Berlin eine Langzeitstudie mit erweitertem Musikunterricht in Grundschulen durchgeführt hat.
Anderenorts zeigen die erfolgreiche Einführung von Bläserklassen oder auch gymnasialer Schulprofile mit Musik als eines verpflichtenden Hauptfaches, dass die Pflege des Musizierens eine pädagogischeWirkung entfaltet, die sich positiv auf Sozialität, auf Lern- und Konzentrationsfähigkeit und auf die Entfaltung von Kreativität auswirkt. Die gesellschaftlich bedingten Veränderungen in Kindheit und Jugend legen es heute nahe, solch elementare Formen der Pflege einer ästhetisch-künstlerischen Praxis zu rekultivieren. Die Auswüchse der Konsumgesellschaft und die, wie Hans-Günter Rolff und Peter Zimmermann (2008) es formulieren, vermehrt konsumptive Formen von Kulturaneignung, die mit einem Rückgang an Eigentätigkeit verbunden sind, bedürfen der Ermöglichung und der Organisation von Gegenerfahrungen, wie sie besonders wirksam im Erlernen eines Musikinstruments und im gemeinsamen Musizieren möglich sind.
Ein weiteres Feld ästhetisch-künstlerischer Praxis ist ebenfalls von fächerübergreifender Bedeutung und geht weit über die Belange des Schulfaches Kunst hinaus: Es geht um den Erwerb eines kritisch-konstruktiven Umgangs mit Bildern, um den Aufbau einer Bildkompetenz, die sowohl das Verstehen, das Herstellen wie auch die Verwendung von Bildern in kommunikativen Kontexten einschließt.
Die Schule tut sich bislang schwer, diesen kritisch-konstruktiven Umgang mit Bildern angemessen in ihr didaktisches Portfolio aufzunehmen. Vielleicht ist die Tradition der Schule als eines Ortes der Schrift- und Sprachkultur sowie die philologische Schlagseite gymnasialer Bildung, die auf die anderen Schularten ausstrahlt, der Grund dafür, warum Bilder in der Regel nur als illustratives Beiwerk dienen. Als das vorrangig Wichtige gilt immer noch die Textarbeit, Bilder sollen lediglich Texte auflockern, veranschaulichen, illustrieren. Sie erhalten damit eine dienende, nachgeordnete Bedeutung, um die Übermacht der Texte erträglich zu machen. Als Beleg kann man die Ausgestaltung von Schulbüchern mit Bildmaterial anführen, das in Art und Auswahl, in Anspruchsniveau und didaktischer Intention zumeist hinter der Qualität von Texten zurückbleibt. Die Bilder in Schulbüchern und in Unterrichtsmaterialien zeigen auch eine große Differenz auf zu den Produkten, wie sie in Journalismus und Werbung entstehen. Sie wirken deshalb antiquiert und wie vergangenen Zeiten entnommen. Oft wollen sie die Aussagen von Texten noch einmal bestätigen: Seht her, so ist dieWelt (vgl. Duncker/Hahn 2013).
Kinder und Jugendliche wachsen jedoch in einer Mediengesellschaft auf, die weitaus vielschichtiger, aufdringlicher, schriller ist und deshalb oft auch als interessanter wahrgenommen wird. Sie sind täglich umgeben von raffiniert gestalteten und attraktiv gemachten Bilderwelten, sie werden geradezu überschüttet mit Bildern, die die Welt gar nicht darstellen wollen, wie sie ist, sondern die mit Anspielungen, Hoffnungen, Erwartungen, Ängsten, Träumen usw. arbeiten. Es sind Bilder, die die Welt deuten und interpretieren, verfälschen und verfremden, die emotionalisieren und karikieren, distanzieren und vereinnahmen. Wer die Machart solcher Bilder nicht versteht und durchschaut, kann leicht zum Opfer von Werbestrategien und massenmedialer Beeinflussung werden. Bilder besetzen unser Denken oft so stark, dass wir versuchen, unser Leben den Botschaften, die in Bildern transportiert werden, ähnlich zu machen. Wir verfallen ihnen, wenn es uns nicht gelingt, reflektierte Entwürfe dagegen zu halten und im bildhaften Diskurs eine aktive, gestaltende Rolle einzunehmen.
Hinzu kommt, dass Bilder auch Erkenntnisprozesse anstoßen können. Bilder können neue Perspektiven sichtbar machen, die unser Denken anregen. Sie können Wahrheiten enthalten, die wir mit Texten nur umständlich zum Ausdruck bringen können. Natürlich können Bilder auch lügen, sie können uns etwas vormachen, die Welt beschönigen, sie können etwas dramatisieren, übertreiben und vortäuschen. Schüler benötigen deshalb parallel zur schriftsprachlichen Alphabetisierung auch eine „ästhetische Alphabetisierung“ (Duncker/Lieber 2013), um im „Lesen“ und „Schreiben“ von Bildern kompetent zu werden. Mit Bildern lassen sich auf ähnliche Weise Aussagen bilden wie mit schriftsprachlich verfassten Texten. Bilder enthalten ebenfalls eine Art Grammatik, mit der sie gemacht sind und die es uns erlaubt, mit Bedeutungen zu spielen, Aussagen zu verändern, Dinge in ein neues Licht zu rücken und so eine Art Diskurs in Bildern anzustoßen.
Ein solchermaßen didaktisch gestalteter Diskurs in und mit Bildern will kreative Potentiale freisetzen und Schüler in die Lage versetzen, etwas auszudrücken, ohne dass dabei Worte verwendet werden müssen. Ideengeber kommen überall her: Es sind Bilder aus der Werbung, deren Konstruktionsprinzipien auch didaktischen Zwecken dienen können, wobei es allerdings nicht darum geht, Produkte zu bewerben, sondern darum, die bildsprachlichen Mittel der Werbegrafiker zu übernehmen, um sie für Erkenntnisprozesse zu verwenden. Auch im Journalismus finden wir viele attraktive Ideen, beispielsweise bei der Gestaltung von Titelseiten in Zeitschriften. Einrahmen, Collagieren, bildhaftes Zitieren und Verfremden sind Kategorien, die wir vielfach in solchen Bildern, nur selten jedoch in Schulbüchern finden. Gerade das Mittel der Verfremdung zeigt eine breite interdisziplinäre Anschlussfähigkeit. Verfremdung gibt es in der Literatur und Musik, in Kunst und Theater. Bertolt Brecht hat dem Prinzip des Verfremdens in seinen Schriften zum Theater (2000) einen besonderen Stellenwert eingeräumt. Verfremdung ist jedoch auch ein wichtiges didaktisches Prinzip (Rauschenberger 2004). Früher wollte die Schule oft nur das Unbekannte und Fremde nahebringen, eine moderne Didaktik muss jedoch auch den umgekehrtenWeg gehen, nämlich das Vertraute und Alltägliche, das Gewohnte und selbstverständlich Gewordene wieder fremd machen, also verfremden. So lässt sich Distanz gewinnen, man kann neue Zusammenhänge erkennen, einen Perspektivenwechsel vornehmen – Vorgänge also, die Bildungsprozesse eröffnen.
Eine ästhetisch-künstlerische Praxis hat deshalb vielfältige Möglichkeiten, sich der Sprachen der Kunst zu bedienen. Außer den bildhaften Möglichkeiten der Erkenntnistätigkeit können wir auch Mode und Literatur, Museumsarbeit und Architektur, Tanz und Theater einbeziehen. Diese Felder einer ästhetisch-künstlerischen Praxis können hier nicht näher ausgeführt werden. Es sind jedoch auch dort zahlreiche Möglichkeiten geborgen, kulturelle Stile zu rekonstruieren und neu zu schaffen, Sinnzusammenhänge zu entdecken und neu zu stiften und Innovationen, Grenzüberschreitungen, Selbstreflexionen anzustellen. Auch wäre es interessant, über Mischformen zu sprechen, die entstehen, wenn sich beispielsweise Kunst und Musik,Tanz und Theater, Bild und Literatur verbinden und sich wechselseitig ergänzen und kommentieren. Solchermaßen erzeugte multiästhetische Ausdrucksformen werden auch in den Schulen immer wieder aufgegriffen, etwa in den Performancekünsten oder im Musical. Sie enthalten die Chance, Schule zu einem interessanten und lehrreichen Ort zu machen, der sich in den Sprachen der Kunst mit der Wirklichkeit auseinandersetzt und doch auch in ästhetischem Sinne Brücken zum Jugendalter öffnet. Schule wird dann zu einem „vielsprachigen“ Ort, der in der Begegnung und in Auseinandersetzung mit den Künsten eine eigene Kultur hervorbringt. So können auch Kinder und Jugendliche die ihnen bedeutsamen Fragen aufgreifen und bearbeiten.
Das weite Gebiet eines ästhetisch-künstlerischen Lernens konnte hier nur in wenigen Dimensionen begründet und exemplarisch an zwei ausgewählten Feldern verdeutlicht werden. Es sollte aufgezeigt werden, dass der Bildungsauftrag der Schule notwendig auch die ästhetische Dimension des Lernens einschließen und die Künste aufnehmen muss. Umgekehrt gilt es, die bildenden Potentiale, die in den Künsten geborgen liegen, für das Lernen in der Schule produktiv zu erschließen. Auf diese Weise kann auch an das fast in Vergessenheit geratene Verständnis von Schulfächern als von Schulkünsten angeknüpft werden, wie es im lateinischen Begriff der artes anklingt.
Andererseits bleiben auch die Künste nicht allein auf einen Dienst an der Bildung beschränkt. Wie am Beispiel des Musizierens aufgezeigt werden konnte, sind hier zahlreiche Aspekte eines Lernens integriert, die als Bestandteile eines formal qualifizierenden Lernens in Erscheinung treten. Denn ziel- und ergebnisorientiertes Arbeiten ist auch im Rahmen künstlerischer Tätigkeiten relevant, die Fähigkeit eines Lernens im Team und eine leistungsorientierte Einstellung müssen auch im Musizieren, in der Arbeit mir Bildern und in den anderen Feldern einer ästhetischen Praxis zugrunde gelegt werden, wenn befriedigende und beglückende Ergebnisse entstehen sollen. Der Ausgangspunkt – und dies ist ein entscheidender Unterschied – kommt jedoch nicht von außen, von einem gesellschaftlich nachgefragten Bedarf her, sondern geht von den Implikationen eines kulturellen Prozesses aus, der die Dialektik des Aneignens und Hervorbringens von Kultur aufnimmt und zur Entfaltung bringt.
In diesem Sinn bleibt als Anforderung für den Lehrerberuf auch in den Feldern eines ästhetisch-künstlerischen Lernens die Aussteuerung des Spannungsfeldes von Bildung und Qualifikation eine Frage, deren Lösung einer professionellen Antwort bedarf. Sie kann nur dann gelingen, wenn Lehrkräfte auch selbst in den ästhetischkünstlerischen Prozess eintauchen und darin Erfahrungen und Kompetenzen erwerben (vgl. Buschkühle 2004). Das, was Künste bieten, auf pädagogische Potentiale hin abzutasten und für schulisches Lernen zu erschließen, kann den Blick freisetzen für jene didaktischen Vorhaben, an denen Kinder und Jugendliche partizipieren können. Man könnte auch die Metapher der Brücke bemühen, die gebaut werden muss zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen und den Künsten auf der anderen Seite. Diese Brücke muss in beide Richtungen begehbar sein: Kinder und Jugendliche sollen mit Hilfe didaktischer Anregungen zu künstlerischen Aktivitäten ermutigt und befähigt werden, umgekehrt gilt es aus der Vielfalt der Künste jene Ausschnitte auszuwählen, die den Prozess der Kulturaneignung als Bildungsprozess zur Entfaltung bringen. Der Lehrerberuf ist deshalb eine Art Vermittlerberuf, der nach beiden Seiten hin anschlussfähig und offen sein muss.
Die zahlreichen organisatorischen, fiskalischen und institutionellen Fragen, die auch im ästhetisch-künstlerischen Lernen bedeutsam sind und die sich im Schulalltag in der Perspektive der Betroffenen oft als die dringlichsten und schmerzhaftesten aufdrängen, können hier nicht mehr angesprochen werden. Ihre Bearbeitung und Lösung führen hinein in die Konzepte einer Schulentwicklung, die auch die lokalen und regionalen Bedingungen hinsichtlich ihrer förderlichen wie hinderlichen Aspekte zu klären hat(Braun/Fuchs/Kelb 2010). Dass Schulentwicklung auch die Belange des ästhetisch-künstlerischen Lernens zu beachten hat, sollte neben den in den PISA- Studien erfassten Lernbereichen der Schule zur allseits respektierten Selbstverständlichkeit werden und in den Kanon bildungspolitischer Förderung und Finanzierung aufgenommen werden.
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Der Fachbeitrag „Dimensionen ästhetisch-künstlerischen Lernens in der Schule – Ein Plädoyer gegen den Verlust ihres Bildungsauftrags“ von Ludwig Duncker ist erschienen in: Braun, Tom/Burow, Olaf Axel/Duncker, Ludwig/Fuchs, Max/Kelb,Viola (Hrsg.) (2017): Kulturelle Schulentwicklung: Schlüsseltexte zu Theorie und Praxis. Aufsatzsammlung. Remscheid; S. 50–62.
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