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Digitalisierung und die Kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendbereich
Fachbeitrag

Digitalisierung und die Kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendbereich

veröffentlicht:

Die neuen kulturellen Ausdrucksformen und Erzählweisen, die im digitalen Raum entstehen, erschließen sich Kinder und Jugendliche sehr selbstbestimmt. Ohne dass sie auf die Unterstützung von Lehrer*innen oder Kulturpädagog*innen angewiesen sind, werden junge Menschen selbst zu Produzent*innen.

von Kirsten Witt

Julia Dina Heße ist Stellvertretende Vorsitzende im Vorstand der deutschen ASSITEJ – dem Netzwerk der Kinder- und Jugendtheater in Deutschland und Mitglied im Vorstand der Assitej International. Zuvor arbeitete sie u. a. als Leiterin des Jungen Theaters Münster.

Was bedeutet dies für die Praxis der Kulturellen Bildung? Für die Angebote, die wir Kindern und Jugendlichen machen – im Amateurtheater, im Musikverein, in kulturpädagogischen Projekten und Einrichtungen allgemein? Aus ihrem gewohnten, vernetzten Alltag heraus treten Kinder und vor allem Jugendliche dieser Praxis mit einer Erwartungshaltung gegenüber, die mit zentralen Prinzipien der sozialen Medien korrespondiert: Sie erwarten zunehmend hierarchiearme Vernetzung, Kooperation, Offenheit, Flexibilität und Partizipation.
Als diejenigen, die wir Angebote gestalten und verantworten, müssen wir entsprechende weiterentwickelte Methoden und Strategien erarbeiten und ausprobieren. Permanente Erneuerung ist wesentlicher Bestandteil der Netzkultur. Experimentierfreude und Offenheit für Neues sind zentrale Ansprüche an eine zeitgemäße Kulturelle Bildung und ihre Vermittlungspraxen.

Das bundesweite Netzwerk der Träger und Einrichtungen kultureller Bildung hat während der Corona-Pandemie quasi über Nacht zahlreiche neue digitale Angebotsformate entwickelt und in der Praxis mit Kindern und Jugendlichen erprobt. Digitale und digital-analoge Formate sind nicht Ersatz für die ‚traditionellen‘ Sparten und Methoden der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Sie treten als zusätzliche Aufgaben, Möglichkeiten und Dimensionen der kulturellen Bildung hinzu und bilden eigene ästhetische und didaktische Konzepte aus. Es kommt jetzt darauf an, an die Erfahrungen der „Corona-Zeit“ mit innovativen Strukturen der systematischen Weiterentwicklung und digitalen Professionalisierung anzuknüpfen.

Neue künstlerische Formen – digitalisierte Ästhetik und Erzählformen

Digitalität beeinflusst die „tradierten“ künstlerischen Sparten und ermöglicht neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten. Immersive Kunstproduktionen, in die man völlig eintauchen kann, bieten Gelegenheiten für ungewohnte ästhetische Erfahrungen. Künstlerische Innovationen reichen etwa vom Einsatz von Video, über Augmented Reality- und Virtual Reality-Systemen bis hin zur Integration von Softwareprogrammen und künstlicher Intelligenz in Produktionen oder der Nutzung künstlicher neuronaler Netze als „Partner“ im künstlerischen Prozess. Die partizipativ-kreative Netzkultur ist geprägt von einer produktiven Kultur des Sampelns und des Remixens. Es werden Beiträge aus unterschiedlichen Kunstsparten gemischt und so Genregrenzen überschritten.

Die Wahrnehmung von Formen und Symbolen wird wichtiger

Vor dem Hintergrund einer neuen Ästhetik des Digitalen, mit veränderten Rezeptions- und Ausdrucksweisen, werden die Wahrnehmung und Gestaltung von Formen und Symbolen wichtiger. Genauso entscheidend ist es, medial vermittelte Botschaften in ihren Kontext einbetten zu können. Qualitätsmerkmale wie Transparenz und Authentizität medialer Inhalte gewinnen daher an Bedeutung. Hier Sensibilität und Kompetenz zu vermitteln kann eine neue und wichtiger werdende Aufgabe von kultureller Bildung sein.

Kulturelle Bildungsangebote können pädagogisch begleitete flexible Lernräume zum Experimentieren und Erfahren schaffen, die die Expertise der Lernenden berücksichtigt. In diesen „Räumen“ können junge Menschen über ihre autodidaktisch erworbenen Nutzer- und Anwendungskompetenzen hinaus Medienkompetenz erwerben. Für die Gestaltung unserer Angebote im Bereich der Kulturellem Bildung bedeutet das: Sie müssen individuell passend und relevant, partizipativ, motivierend, vernetzt und performativ gestaltet werden.

Kinder und Jugendliche stärken

Digitale Lebenswelten werden vielfach von kommerziellen Interessen, Konzernen und Plattformen dominiert und folgen den Gesetzmäßigkeiten der Datenökonomie. Automatisierte statistische Modelle (Algorithmen) „entscheiden“ z. B. darüber, wer welche Informationen findet oder eben nicht findet. Das Private birgt zudem das Potenzial, die Chance und das Risiko, öffentlich zu werden. Themenkomplexe wie Datenschutz, Persönlichkeits- und Urheberrecht, aber auch Gewalt und Suchtprävention gewinnen an Bedeutung. Echte von unechten Informationen, echte von unechten Formen der Beteiligung, echte von unechten Interessen zu unterscheiden, wird schwieriger. Originär künstlerische Fähigkeiten wie z.B. das Inszenieren, Interpretieren, Erzählen und Hinterfragen von Geschichten, Deuten von Bilder und Entwerfen schlüssiger Dramaturgien werden alltagsrelevante Kompetenzen für ein gelingendes Aufwachsen in der digitalen Gesellschaft. Hier zeigt sich eine gestiegene Relevanz von Angeboten Kultureller Bildung.

Chancen der Partizipation

Durch das Internet haben Kinder und Jugendliche heutzutage zahlreiche Möglichkeiten sich politisch einzubringen und an Entscheidungsprozessen teilzuhaben. Im Netz erhalten sie Zugang zu relevanten Informationen, können sich selbstständig orientieren und sich eine eigene Meinung bilden. Sie können ihre Haltung öffentlich kundtun, sich an politischen Aktionen beteiligen oder selbst dazu mobilisieren. Heute können sich Kinder und Jugendliche ortsunabhängig mit gleichgesinnten Gleichaltrigen auf der ganzen Welt zusammenschließen und für eine gemeinsame Sache eintreten, wie dies aktuell die „Fridays for Future“-Bewegung eindrucksvoll belegt. Hier mischen sich Kinder und Jugendliche aktiv in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse ein, indem sie eine weltweite Öffentlichkeit geschaffen und damit die politische Agenda nachhaltig verändert haben.

Gleichzeitig gilt es, den partizipativen Charakter der Netzkultur des Likens, Teilens und Postens und seine politische Wirksamkeit nicht überzubewerten und kritisch zu hinterfragen, welchen Grad von Beteiligung Online-Angebote de facto schaffen und inwieweit Partizipation in vielen Fällen nur simuliert wird.

Von besonderer Bedeutung ist diese Vernetzungsmöglichkeit für Kinder und Jugendliche, die einer Minderheit oder einer marginalisierten Gruppe angehören und sich so als Teil einer größeren Gemeinschaft erfahren können – unabhängig von ihrem persönlichen Umfeld vor Ort. Das Netz ermöglicht unterschiedlich intensive Beteiligungsformen, was vielen Kindern und Jugendlichen den Einstieg in politisches Engagement erleichtert: von Ad-hoc-Aktionen mit geringem Aufwand wie dem Unterzeichnen einer E-Petition bis hin zu beständigen und differenzierten Beteiligungsformen und der Mitarbeit in Gruppen, Gremien oder Initiativen.

Auch wenn die politische Beteiligung von Kindern und Jugendlich durch das Internet leichter möglich ist als in analogen Zeiten, so groß sind dennoch mögliche Hindernisse: Die Tatsache, dass das Internet als Informationsquelle und Kommunikationsplattform vermeintlich allen offensteht, bedeutet noch lange nicht, dass es allen zugänglich ist. Echte Mitwirkung und Beteiligung ist online mindestens so voraussetzungsreich wie offline: Kinder und Jugendliche brauchen Zugang zu Endgeräten und Internetanschlüssen, sie müssen in der Lage sein, relevante und verlässliche Informationsquellen zu finden, zu bewerten und zu verstehen sowie die entscheidenden Kommunikationskanäle zu kennen und bespielen zu können, um Öffentlichkeit herzustellen und für die eigenen Interessen und Ziele zu mobilisieren.

Medienkompetenz im digitalen Zeitalter ist komplex

Das Verstehen und Beherrschen der relevanten Technik und ihrer Wirkweisen – sowohl der Hard- als auch der Software – ist eine Voraussetzung für echte Teilhabe und Partizipation. Medienkompetenz umfasst sowohl Symbol- und Bildsprachenkompetenz, Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, Text- und Sprachkompetenz, Medienwissen und Medienkritikfähigkeit als auch ein Grundverständnis von Coding und den Wirkweisen von Algorithmen. Die hohe Anwendungskompetenz, die viele Kinder und Jugendliche besitzen, bedeutet noch lange nicht, dass sie in der Lage sind, sich jenseits der meist kommerziell vorgegebenen Settings aktiv-gestaltend bzw. kritisch-kreativ einzubringen.
Im Verlauf einer Generation hat sich die Art und Weise wie Menschen, Gruppen und Gesellschaften kommunizieren, Interessen aushandeln und ihr Zusammenleben gestalten, stark verändert. Die Digitalisierung ist dabei ein zentraler Faktor und Verstärker. Digitalisierung ist also auch ein kultureller Prozess: Gesellschaftliche Veränderungsprozesse haben zur Digitalisierung geführt und die Digitalisierung wiederum verändert die Gesellschaft. Heute lässt sich nicht vorhersagen, was Digitalität für eine Gesellschaft in zehn, zwanzig, dreißig Jahren bedeuten wird.

Dieser Beitrag ist erstveröffentlicht in der Fachzeitschrift „Spiel und Bühne“ (2020) des Bundes Deutscher Amateurtheater:

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