Digitale Medien erweitern die körperliche Lernerfahrung
Im Gespräch mit Martina Ide, Kunsthistorisches Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel
Im Gespräch mit Martina Ide, Kunsthistorisches Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel
Martina Ide, ist Dozentin für Kunstpädagogik am Kunsthistorischen Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind körperbezogene Gegenwartskunst, die Pädagogik des Performativen und das Lernen mit digitalen Medien.
Ich bin damit als Lehrkraft an einem Lübecker Gymnasium in Kontakt geraten. Das Institut für Multimediale und Interaktive Systeme der Universität Lübeck war 2001 auf der Suche nach Kunstpädagog*innen, um den Nutzen des Einsatzes von digitaler Technologie im Kunstunterricht zu erforschen. Auf der Grundlage unserer Forschungsergebnisse entwickeln wir gemeinsam Tools für die Ausbildung von Lehrer*innen.
Wir haben schon 2001 vorausgesagt, dass die Bedeutung von Medien im Alltag unserer Lebensrealität zunehmen wird. Damals haben Jugendliche Computer meist als reine Rezipienten genutzt, heute können sie selber Inhalte produzieren. Wir wollten erforschen und verstehen, wie Kinder und Jugendliche in ihrer Alltagsrealität mit digitalen Medien umgehen, wie sie sich Technologie auch ästhetisch-gestaltend erschließen und welche Rückschlüsse ihr Handeln für das schulische Lernen und insbesondere den Kunstunterricht zulässt. Der Mehrwert digitaler Technologie für schulische Lernprozesse mit Lebensweltbezug ist angebunden an das ästhetisch-gestaltende Handeln in Verschränkung mit digitalen Medien als Erweiterung des Leiblichen. Marshall McLuhan hat sehr früh festgestellt, dass Medien keine neutralen Behälter sind, sondern unser Wahrnehmen und Tun formen und strukturieren. Die fortwährend neu entstehenden medialen Verarbeitungsmodi von Wirklichkeit bedingen gleichzeitig auch neue Formen der Konstruktion von Wissen. In Bildungsprozessen dienen Medien insofern als formgebende Erweiterungen unseres Leibes.
Ich würde sagen, dass Kinder und Jugendliche mit der Technologie eine Symbiose eingegangen sind. Sie leben und wachsen mit interaktiven, webbasierten, körper- und raumbezogenen Computersystemen auf.
Martina Ide
Anfang der 2000er Jahre gab es ein Projekt namens „Man ist, was man isst. Eine Tangible Media Video Installation“. Eine fünfte Klasse sollte im fächerübergreifenden Projekt (Kunst-Biologie) herausfinden, welche Rolle Ernährung und Verdauung für die Gesundheitserziehung spielen. Gemeinsam mit einer Kollegin habe ich in diesem Projekt erforscht, wie der Einbezug von Technologie (Tangible Media und Video) im Kontext der mehrperspektivischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu einem vertieften Verständnis beitragen kann. Gerade in der Verschränkung von Technologie und sinnlicher Erfahrung gelingt es, die komplexen Inhalte angebunden an das direkte Erleben zu erschließen und zu verstehen. Die Lernerfahrung vollzog sich also primär im eigenen Tun.
Die vier Perspektiven (sinnich-leibliche Erfahrung der Nahrungsaufnahme, biologische und chemische Prozesse, Folgen der Ernährung: körperliches Training im Fitnessstudio, Interview mit Expertin) wurden durch Video- und Tonclips dokumentiert. Entscheidend war, dass den jeweiligen Perspektiven physische Objekte zugewiesen wurden (z. B. Apfel oder Turnschuh als ikonische Metapher). Sie wurden mit Barcodes versehen und mittels der Applikation Barcode-Player wurde ihnen eine Referenz zu den Videos zugewiesen, die schließlich von außen auf vier transparente Seiten eines begehbaren Zeltes projiziert wurden. Indem ein Objekt ausgewählt und über den Barcode-Scanner gehalten wurde, liefen vier Videos mit Tonspur ab und gaben neue Einsichten in die Wechselbeziehung zwischen Körper, Ernährung und Wohlbefinden.
Wenn, wie in diesem Projekt, Lernprozesse performativ und interaktiv gestaltet sind, werden vor allem Denkprozesse in nichtlinearen Strukturen angeregt. Nach einem Jahr befragten wir die aktiv-performative Gruppe und eine Vergleichsgruppe, die nach Lehrbuch unterrichtet worden war. Es zeigte sich, dass durch das sinnliche, interaktive Lernen die Lerninhalte sehr viel präsenter geblieben waren.
Ich würde sagen, dass sie mit der Technologie eine Symbiose eingegangen sind. Sie leben und wachsen mit interaktiven, webbasierten, körper- und raumbezogenen Computersystemen auf. Dadurch, dass sie das Smartphone z. B. dazu nutzen, Selbstbilder zu erzeugen und sie in den sozialen Medien in einem kulturellen Raum präsentieren, ist der Bezug zur eigenen Körperlichkeit besonders ausgeprägt. Aber sie haben auch ein Interesse zu erfahren, wie andere sie sehen und bewerten. Das entscheidet im positiven wie im negativen Sinne über ihr Selbstwertgefühl. Deswegen müssen solche Phänomene pädagogisch begleitet werden, damit wir Kinder und Jugendliche zu einer reflexiven, kritischen Teilhabe an Kultur befähigen. Technologie an sich ist ja noch kein innovatives Instrument für den Unterricht.
2018 habe ich in Lübeck ein Projekt namens Mapping Places erarbeitet. Darin ging es darum, mit Hilfe von Augmented Reality indirekt Wahrnehmbares spezifischer Orte, Menschen und Erzählungen zu verbinden. Die Technologie als Schnittstelle macht sichtbar, wie kulturelle Orte dieser Stadt in einer biografischen Form von den Menschen geprägt sind. Die Schüler*innen haben Interviews mit den Menschen geführt, die an den Orten tätig sind. Um die Gespräche produktiv-gestaltend aufzuarbeiten, mussten sie zunächst einen ästhetischen Wahrnehmungsfilter für die Erzählungen finden. Mit dem erarbeiteten Material haben sie kurze Videos erstellt, um das im Alltag nicht Offensichtliche zu veranschaulichen. Diese sind innerhalb der Stadt an den ausgewählten Orten abrufbar und zwar, indem man am Ort mit der Kamera des Mobiltelefons die Umgebung mit einer AR-App scannt. So trägt das Video vor Ort zu einer Erweiterung des real physischen Raums bei und eröffnet weitere Wahrnehmungsebenen.
Ein adäquater Schulunterricht muss alle Aspekte unserer Gesellschaft aufgreifen. Deshalb müssen Politik und Gesellschaft dafür sorgen, dass Kulturelle Bildung an den Schulen ihrer sozialen Bedeutung gemäß repräsentiert wird.
Martina Ide
Ich vermittle in erster Linie die Kernerkenntnis, dass digitale Technologien den durch sie transportierten Inhalt mitstrukturieren. Die Arbeit mit den digitalen Technologien ist eine Querschnittsaufgabe, der sich alle Fächer stellen müssen. Sie muss ein wesentlicher Teil aller Phasen der Lehrerbildung werden, ebenso wie ein Teil der Unterrichts- und Schulentwicklung sowie der Lehrplangestaltung. Ich setze mich auch dafür ein, dass das Fach Kunst an den Schulen gestärkt wird. Ich höre immer wieder, dass die MINT-Fächer und die Sprachen die wichtigsten Fächer sind, um Schüler*innen für das spätere Leben vorzubereiten. Aber wir sind nun einmal Kulturwesen. Ein adäquater Schulunterricht muss alle Aspekte unserer Gesellschaft aufgreifen. Deshalb müssen Politik und Gesellschaft dafür sorgen, dass Kulturelle Bildung an den Schulen ihrer sozialen Bedeutung gemäß repräsentiert wird.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 62-65.
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