Der Löwenmensch im Wohnzimmer
Kulturabteilung der Stadt Ulm
Kulturabteilung der Stadt Ulm
von Kathrin Köller
Schon seit einigen Jahren begreift sich die Ulmer Kulturabteilung als Dreh- und Angelpunkt zwischen Kultureinrichtungen, Kindern und Kreativschaffenden. Anfragen kommen von allen Seiten. Die 15-köpfige Abteilung unter der Leitung von Sabine Schwarzenböck setzt sich mit Schulen und Kitas zusammen, erfragt Bedarfe, entwickelt Konzepte und schreibt Programme aus. „Teilhabe und Chancengerechtigkeit sind Themen, die die Stadt Ulm schon seit langem umtreiben“, berichtet Lena Palesch, Referentin für Kulturvermittlung und Kulturelle Bildung. „Uns ist wichtig, dass wir über unsere Projekte auch für diejenigen Angebote machen, die nicht von ganz allein über ihre Elternhäuser mit Kunst und Kultur in Kontakt kommen.“
Mit Beginn der Corona-Krise 2020 brechen allerdings auch in Ulm die gut eingespielten Verbindungskanäle zwischen Kind und Kunst erst mal ein. Die Schulen wissen nicht, wie sie überhaupt das Nötigste an Bildung vermitteln sollen. Die Kreativschaffenden können fest eingeplante Projekte nicht durchführen, sodass auch der ebenso fest eingeplante Lebensunterhalt wegfällt. Eine prekäre Lage, die die Kulturabteilung in Ulm vor neue Herausforderungen stellt.
Ein paar Wochen später flackern die ersten Projekte über den digitalen Kanal „Kultur in Ulm“. Nicht perfekt, erinnert sich Sabine Schwarzenböck, aber es entsteht eine neue Offenheit, Sachen doch einfach mal digital auszuprobieren. „In der Kulturellen Bildung kommt es nicht auf HD oder Hochglanz an, sondern auf den Funken, der überspringt“, merkt die Leiterin der Kulturabteilung schnell. Und spätestens im Sommer 2020 springt auch bei ihr selbst der Funke über, welches Potenzial das Digitale gerade in punkto Teilhabe entfalten kann.
Post-pandemisch heißt, dass wir hybrid gehen. Weil das im Sinne der Teilhabe ein Riesenfeld aufmacht, über das wir ohne Corona sicherlich nicht nachgedacht hätten.
Sabine Schwarzenböck
Und das kam so: Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert wird in der Stadt an der Donau geschworen. 1397 wurde ein Schwörbrief aufgesetzt und der Stadtoberste musste offenbaren, was er mit dem Geld der Stadt angefangen hatte und welche politischen Ziele damit umgesetzt wurden. Der Schwörbrief ist ein Heiligtum der Stadt und die historisch frühe Einsicht, dass Transparenz in der Politik eine coole Sache ist, wurde bis 2019 jedes Jahr groß mit einem Schwörmontag in der Stadt gefeiert. Im Corona-Jahr 2020 aber ist an einen Riesenauflauf in der Stadt nicht zu denken. Also überlegt sich das Team der Kulturabteilung, den wertvollen Schwörbrief zu filmen. Kinder aus drei Grundschulklassen aus einem strukturschwachen Dorf um Ulm herum schauen per iPad auf das historische Dokument und können digital an der Schwörfeier teilnehmen. Es ist ein Versuch. Ein überaus erfolgreicher Versuch. „Die Kinder haben unglaublich viele Fragen gestellt und eigene Querverweise gezogen. Und plötzlich wollten sie alle ins Museum“, erinnert sich Sabine Schwarzenböck an diesen Moment, als ihr selbst klar wurde, dass Digitalität eine Chance darstellt, die Kinder für das Analoge zu interessieren. Für Kinder – gerade aus Haushalten ohne viel Zugang zu Kultur – baut das Digitale Barrieren ab und schafft unmittelbar Neugier. Diese wichtige Erkenntnis motiviert die Ulmer Kulturverwaltung, Teilhabe und Digitalität verstärkt zusammen zu denken.
Dabei ist der Kulturabteilung enorm wichtig, dass die Kinder nicht in erster Linie Konsument*innen sind, denn das wäre auf Dauer für sie langweilig. Sie können vielmehr, auf unterschiedliche Weise, selbst aktiv werden. Also stricken die Ulmer Kreativschaffenden in ihren digitalen Projekten von Vornherein interaktive Elemente mit ein. Da schaltet sich dann z. B. das Museum per Videokonferenz in Schulklassen, vergibt Arbeitsaufträge an Kleingruppen, gibt ihnen Zeit an ihren Projekten zu arbeiten. Und wenn die Zeit um ist, trifft man sich wieder online. Andere Künstler*innen veranstalten digitale Schnitzeljagden und die Theater setzen sich zusammen mit den Schüler*innen auf digitalen Wegen mit der Aufführung auseinander.
So weit der Weg über die Schule. Daneben fährt die Kulturabteilung auch direkt und ganz analog per E-Ape in die Quartiere und sorgt dort für Aufsehen. Nicht nur, weil das Ding ein echter Hingucker ist. Immer mit dabei ist der digitale Koffer, mit dem man mit der ganzen Welt kommunizieren oder sich Leute aus der Vergangenheit ins Haus holen kann. Was wie „James Bond“ oder „Zurück in die Zukunft“ klingt, ist eine weitere digitale Aktion der aktiven Ulmer Kulturverwaltung, die sich nicht davor scheut, auch internationale Künstler*innen zur Videokonferenz ins umliegende Dörfchen Einsingen einzuladen. Und der Trip in die Vergangenheit: Augmented Reality. Lena Palesch nennt es einen Möglichkeitsraum. „Wir loten gerade aus, wie wir über Augmented Reality Sachen mit ins Quartier bringen können. Die Leute könnten sich dann an der Ape ihren Code abholen und z. B. den Löwenmenschen, den wir in Ulm noch aus der Eiszeit haben, mit in ihr Wohnzimmer tragen und ihn sich von allen Seiten anschauen“, erzählt die Bildungsreferentin begeistert. Und Sabine Schwarzenböck ergänzt: „Wir glauben eben, dass, wenn man diesen Löwenmenschen mal virtuell gesehen hat und sich vielleicht sogar einen Hauch in ihn verliebt, dann hat man große Lust, wenn man hier in Ulm ist, ins Museum zu gehen und sich diesen Löwenmenschen mal in echt anzuschauen.“
Und wenn sich die Lage jetzt konsolidiert? Werden dann nicht die ganzen schönen Projekte obsolet? Auf gar keinen Fall, sagen Lena Palesch und Sabine Schwarzenböck. Denn das Thema Teilhabe und Chancengleichheit bleibt ja. Und die Möglichkeit, mittels des Digitalen Neugier auf Kultur zu wecken, ebenso. „Post-pandemisch heißt, dass wir hybrid gehen. Weil das im Sinne der Teilhabe ein riesiges Feld aufmacht, über das wir ohne Corona sicherlich nicht nachgedacht hätten“, erläutert die Leiterin der Ulmer Kulturabteilung. Seit September 2021 ist die Website ulmutopia.de online, auf der digitale Vermittlungsangebote eingestellt werden, auf die Kitas und Schulen zugreifen können. „Und die Website darf gerne wachsen. Es gibt ja dann doch auch nicht nur Kultur, sondern z. B. auch Naturwissenschaft und Geschichte. Da dürfen zukünftig ebenfalls digitale Vermittlungsangebote reinkommen.“
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 58 – 61.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie Interesse an einer Nutzung haben, melden Sie sich gerne unter redaktion@bkj.de.