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Der Entfremdung und Abspaltung entgegen – Transformative Bildung als Schlüssel in der kulturellen Krise
Interview

Der Entfremdung und Abspaltung entgegen – Transformative Bildung als Schlüssel in der kulturellen Krise

Im Gespräch mit Timo Holthoff, Leibniz School of Education / Welt. Beziehung. Bilden

veröffentlicht:

Gelerntes Wissen verändert nicht zwangsläufig unser Handeln. Transformative Bildung hingegen kann im Sinne nachhaltigen Lernens Muster durchbrechen. Kulturelle Bildung mit ihren sinnlich-kreativen Lernzugängen bringt dazu das entsprechende Potenzial mit, meint Timo Holthoff.

Timo Holthoff koordiniert das Projekt „Teaching Change“ an der Leibniz School of Education in Hannover. Freiberuflich ist er als Referent, Autor und Organisationsberater zu systemischem Wandel und transformativer Bildung tätig.

Wofür steht der Begriff „transformative Bildung“?

Mein Arbeitsmotto „Welt.Beziehung.Bilden – radikaler Bildungswandel für eine Kultur der Verbundenheit“ beschreibt mein Verständnis transformativer Bildung ganz gut. . Das fußt auf einem bestimmten Weltbild bzw. einer bestimmten Überzeugung, welcher Natur die Krisen sind, mit denen wir es zu tun haben. Ich gehe davon aus, dass die multiplen Systemkrisen – also Umweltkrise, Demokratiekrise, Gerechtigkeitskrise und vieles mehr Teil einer gesamtsystemischen Krise sind, die tiefer liegend als kulturelle Krise oder als Sinnkrise betrachtet werden kann. Diese Krise ist für mich vor allem gekennzeichnet von Aspekten der Entfremdung und Trennung – des Menschen von der Natur, der Menschen voneinander. Aber auch innerhalb des Menschen selbst haben wir es mit bestimmten Entfremdungen und Abspaltungen von bestimmten Aspekten des Menschseins zu tun: von unserer Emotionalität, unserer Körperlichkeit,  unserer Spiritualität oder auch unserer Verstrickung mit dem größeren Metabolismus Erde und der Gewalt des von uns geschaffenen Systems.

Die Schnittmenge zwischen Kultureller und transformativer Bildung liegt in einem Bruch mit einem allzu rationalistischen und mechanischen Weltbild, das annimmt, dass wir uns die Welt irgendwie zurechtdenken und planen können.

Timo Holthoff

Das Streben nach Verbundenheit ist daher der ethische Kompass meiner Arbeit. Da geht es um eine Wiederherstellung, manche mögen sagen: Heilung von verloren gegangenen Beziehungen mit unserer Mitwelt. Das sehe ich als eine ganz wichtige Ressource für Wandel an, und zwar für radikalen Wandel. Was im Wortsinne auch nur bedeutet: Wandel an den Wurzeln.

Wie kann transformative Bildungsarbeit bzw. transformatives Lernen einen systemischen Wandel bewirken?

Auf diese Frage gibt es sehr viele Antworten. Zunächst: Transformative Bildung formuliert erstmal nur einen Anspruch an Bildung, nämlich mit Bildung, gesellschaftliche Verhältnisse zu beeinflussen, und zwar im ethischen und politischen Rahmen der sozial-ökologischen Transformation, die wir brauchen, um die multiplen Systemkrisen und Ungerechtigkeiten unserer Zeit zu überwinden. Ich würde sagen, dass transformative Bildung allerdings mitnichten ein eigenes, abgeschlossenes und ausdifferenziertes Bildungskonzept ist, sondern vielmehr ein (selbst-)kritischer Diskurs über die Art und Wirksamkeit von Bildung im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist ein pädagogisches Experimentierfeld, in dem wir Ansätze ausprobieren, um Menschen bei tiefgreifenden persönlichen Veränderungen zu begleiten und zu unterstützen, im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Allerdings lässt sich beobachten, dass ein Mehr an Wissen und ein größeres Problembewusstsein häufig nicht zu einer veränderten Handlungsweise führen. Darin liegt für mich eine wichtige Frage transformativer Bildungsarbeit: Wie können wir an unserem inneren System arbeiten, um Veränderung im Äußeren möglich zu machen? Da geht es für mich auch um Fragen innerer Dekolonisierung.

Wie lösen Sie das Problem, dass alle von den Knackpunkten wissen, aber nichts ändern?

 Transformative Bildungsansätze sind da manchmal zu linear gedacht. Ich würde transformatives Lernen in diesem Sinne verstehen als eine Veränderung tief verkörperter Wahrnehmungs-, Denk-, Gefühls-, Beziehungs- und Handlungsmuster, die uns vielfach von nachhaltigen Lebensweisen und von einem Wandel abhalten – individuell und kollektiv. Ich spreche in diesem Verständnis auch gern von „transformativem Verlernen“, weil es ebenfalls um disruptive Lernprozesse geht, um Musterbrüche, darum, bestimmte Dinge loszulassen und Raum für Neues zu schaffen. Also auch um eine Emanzipation aus begrenzten Vorstellungswelten oder den Käfigen unseres Seins, wenn man prosaisch sprechen will. Da braucht es Bildungsansätze, die den Menschen ganzheitlich als Wesen ansprechen, nicht nur mit einem rational-kognitiven Wissens- und Lernverständnis, sondern auch mit körperlichen, mit emotionalen, mit beziehungsorientierten Ansätzen. Mir gefällt da sehr gut der Begriff der „radikalen Zärtlichkeit“ – für mich ein Ansatz, um radikale Gesellschaftskritik mit liebevoller und ganzheitlicher Pädagogik zu verbinden.

Welche Schnittmengen haben Kulturelle und transformative Bildung, vor allem in Bezug auf die Ganzheitlichkeit?

Die Schnittmenge zwischen Kultureller und transformativer Bildung liegt in einem Bruch mit einem allzu rationalistischen und mechanischen Weltbild, das annimmt, dass wir uns die Welt irgendwie zurechtdenken und planen können. So wie es in vielen Diskursen zu transformativem Lernen in Abgrenzung zum vorherrschenden Bildungsbegriff gefordert wird, schafft Kulturelle Bildung ganzheitliche, also emotionale, körperliche, künstlerische, ästhetische und andere sinnlich-kreative Lernzugänge. Ich würde also sagen, dass die Kulturelle Bildung vielfach schon über das Handwerkszeug einer transformativen Bildung verfügt – zumindest, wenn sie keinen exklusiven Kunst- und Kulturbegriff verfolgt.

Welche besonderen Potenziale hat die Kulturelle Bildung also in der Bearbeitung der Themen unserer Zeit?

 In der Kulturellen Bildung kann es im Kontext von gesellschaftlichen Diskursen etwa zur Klimakrise oder Demokratiekrise auch um eine bewusstere und (selbst-)kritische Positionierung und Politisierung der eigenen Arbeit und Rolle gehen. Das stellt uns dann vor die Frage: Soll man sich vereinnahmen lassen für eine bestimmte politische Agenda? Ich würde behaupten, Kulturarbeit ist so oder so politisch, sie ist immer ein Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse und fordert diese aber auch heraus. Die Frage, welchen Beitrag die Kulturelle Bildung im tieferen Bewusstsein zu den drängenden gesellschaftlichen Themen unserer Zeit leisten kann und will, ist unter Umständen eine ganz entscheidende. Dennoch würde ich weiterhin jede kulturelle und künstlerisch-ästhetische Ausdrucksweise in ihrer eigenen Berechtigung ansehen wollen und diesen Eigenwert und diese Freiheit politisch verteidigen.

Ich glaube, dass alle Ansätze, die künstlerisch, ästhetisch, die körperlich, die emotional, die spielerisch sind, ein ganz großes Potenzial haben, dass wir weich, flüssig werden, dass wir mit Identitäten, mit Perspektiven und mit Realitäten spielen können. Dass wir innere Grenzen herausfordern und verschieben und dann vielleicht auch äußere Grenzen verschieben können. Dass wir lernen, ganz liebevoll mit den Ambivalenzen und Widersprüchen umzugehen, die sich in unserer Gesellschaft zeigen, aber auch in uns selbst. Dass wir Verbindung schaffen, dass wir Gemeinschaft bilden und dass wir in einem geschützten Möglichkeitsraum einfach Zukünfte entwerfen und unsere Vorstellungswelten erweitern und darüber in die Gesellschaft hineinwirken.

 

„Ich glaube, dass alle Ansätze, die künstlerisch, ästhetisch, die körperlich, die emotional, die spielerisch sind, ein ganz großes Potenzial haben, dass wir weich, flüssig werden, dass wir mit Identitäten, mit Perspektiven und mit Realitäten spielen können.“

Timo Holthoff

Text: Helga Bergers

Qualifzierung Kreativ_transformativ: Kulturelle Bildung mit globaler und nachhaltiger Perspektive

Kulturelle Bildung unter Nutzung des Bildungsansatzes des Globalen Lernens kann einen wichtigen Beitrag zu einem klima- und ressourcenbewussten Umdenken sowie zu einem Diskurs über globale Gerechtigkeit leisten. In sechs Modulen erfahren Akteur*innen aus Kultur und Bildung praxisnah, wie das funktionieren kann, eignen sich relevantes Wissen an und erproben Möglichkeiten, dieses in ihrer kulturellen Bildungsarbeit anzuwenden. Die nächste einjährige Qualifizierung beginnt im September 2025.