Bildungslandschaften zwischen pädagogischem Anspruch und politisch-ökonomischer Wirklichkeit
Interview mit Dr.in Stefanie Schmachtel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Interview mit Dr.in Stefanie Schmachtel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Dr. Stefanie Schmachtel ist Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Sozialpädagogik/Soziale Arbeit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In ihrer Forschung geht es ihr darum, das Soziale der Bildung bzw. Bildungssteuerung besser zu verstehen und als Ressource zu entwickeln.
Der weite Bildungsbegriff versteht Bildung als auf die ganze Person bezogen – mit „Kopf, Herz und Hand“. Bildungsprozesse finden über den ganzen Tag verteilt und sozialräumlich, über institutionelle Grenzen hinaus statt. Sie vollziehen sich in der aktiven Aneignung mit Welt. Kinder und Jugendliche sollten deswegen als Ko-Produzent*innen ihrer Bildungsprozesse ernst genommen werden und diese partizipativ mitgestalten können. Der weite Bildungsbegriff wird häufig mit Thomas Coelens Konzept der Ganztagsbildung in Verbindung gebracht. Dieser thematisiert jedoch zusätzlich die Dimension der kommunalen Vernetzung und Kooperationen von Organisationen zur institutions- bzw. lernortübergreifenden Gestaltung formaler und non-formaler Bildungsprozesse, verbindet also die Subjekt- mit der Institutionenperspektive. Leider führte diese Verbindung in der Implementationspraxis häufig zu einer Verkürzung auf die Formel Vernetzung = Verbesserung von Bildungsangeboten.
Der weite Bildungsbegriff hat das Potenzial, Bildung jugendgerechter zu denken. Er zeigt, wie wichtig es ist, die Sichtweisen und Bedarfe von Jugendlichen stärker mit einzubeziehen, an ihre Lebenswelt anzuknüpfen und sie ganzheitlich anzusprechen – Jugendbeteiligung und der demokratische Auftrag des Bildungssystems rückt in den Vordergrund. Der weite Bildungsbegriff hat zudem eine hohe politische Wirkung: Er mobilisiert Energien und bringt unterschiedlichste Akteure der Bildung zusammen. Kooperationsdenken ist im Bildungsbereich zentral geworden. Studien zeigen allerdings, dass sich in der Bildungslandschaftspraxis eine starke Orientierung auf schulische und formale Bildung durchsetzt. Eine wirklich integrative Zusammenarbeit mit dem non-formalen Bildungssektor fand bislang zu wenig statt. Entgegen des hohen diskursiven Einflusses des weiten Bildungsbegriffs ist sein praktischer Einfluss also eher gering.
Der weite Bildungsbegriff hat das Potenzial, Bildung jugendgerechter zu denken. Er zeigt, wie wichtig es ist, die Sichtweisen und Bedarfe von Jugendlichen stärker mit einzubeziehen, an ihre Lebenswelt anzuknüpfen und sie ganzheitlich anzusprechen.
Dr. Stefanie Schmachtel
Die Maximen der Jugendarbeit und das Anliegen des weiten Bildungsbegriffs stimmen stark überein. Bei der Jugendarbeit stehen die jungen Menschen als Subjekte mit ihren lebensweltlichen Interessen im Mittelpunkt, Partizipation wird großgeschrieben. Durch den strukturellen Fokus auf die formale Bildung wird Jugendarbeit jedoch zunehmend eingeschränkt, diesen Beitrag zu leisten. Zugleich haben wir es mit einer strukturellen Überforderung der Schule zu tun: Bildungspolitik wird zur neuen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Was aber soll und kann Schule bzw. Ganztagsschule alles leisten, bei gleichzeitig eklatantem Lehrer- und Schulleitungsmangel? Hinzu kommt die zunehmende Prekarisierung der Jugendarbeit durch Kürzungen und Drittmittelabhängigkeit. Bei Einsparungen werden Jugendarbeit und Kultur in Kommunen immer als Erstes gestrichen. Jugendarbeit stellt sich zunehmend, auch aus existenziellen Gründen, in die Dienstleistung von Schule und muss aufgrund der dortigen Rahmenbedingungen eigene Arbeitsprinzipien kompromittieren.
Wirkungen von Bildungslandschaften auf der Adressatenebene sind methodisch schwer erforschbar. Wirkungen auf der institutionellen Ebene sind sowohl auf der lokal-organisationalen als auch auf der kommunalen Ebene nachgewiesen worden – ein gemischtes Bild. Ein wichtiges Potenzial stellen Sekundäreffekte durch die Bereitstellung von organisationalen Lernanlässen in Bildungslandschaften dar: Unterschiedliche Akteure arbeiten zu einem Thema zusammen und lernen sich gegenseitig besser kennen und vernetzen sich. Sie repositionieren sich und rekontextualisieren die eigene Arbeit neu.
Bildungslandschaften und Ganztagsschulen waren nach PISA große bildungspolitische Hoffnungsträger für die Verbesserung der Lernleistung und mehr Chancengleichheit im Bildungsbereich. Eine wesentliche Motivation zur Einführung der Ganztagsschule war auch die steigende Frauenerwerbstätigkeit und der dadurch erhöhte Betreuungsbedarf, der sich durch die stark steigende Anzahl von Ganztagsschulen tatsächlich verbessert hat. Aber das Ziel der Chancengerechtigkeit haben Bildungslandschaften aufgrund der kontraproduktiven strukturellen Rahmenbedingungen, dem starken Fokus auf die formale Bildungskarriere und gleichzeitige Marginalisierung von Jugendarbeit bisher nicht erreicht. Ich plädiere in meinen Publikationen dafür, Bildungslandschaften als Rationalitätsmythos zu verstehen: Im Bildungslandschaftsdiskurs wird suggeriert, dass die pädagogisch-sozialintegrativen Ziele von Bildungslandschaften zugleich mit wirtschaftlich-politischen Zielstellungen einhergehen können bzw. dass es eigentlich um pädagogisch-sozialintegrative Ziele geht, die gleichzeitig einen positiven Nebeneffekt auf das Wirtschaftlich-Politische haben. Studien zeigen aber, dass erhebliche Widersprüche zwischen diesen beiden Zieldimensionen bestehen, und dass erstere auf subtile Art zum Zwecke der zweiten funktionalisiert wird. Vor diesem Hintergrund muss, mit Hans-Jürgen Stolz gesagt, noch ein reflektierterer Umgang mit dem Spannungsverhältnis zwischen Bildungslandschaften als kulturelles und als ökönomisches Projekt gefunden werden.
Studien zeigen, dass erhebliche Widersprüche zwischen den inhaltlich-pädagogischen und den politisch-ökonomischen Zielen von Bildungslandschaften bestehen, und dass erstere zum Zwecke der zweiteren funktionalisiert werden.
Dr. Stefanie Schmachtel
Wir brauchen einen realistischen Blick darauf, was Bildungslandschaften sind bzw. nicht sind und darauf, welche pädagogischen Möglichkeiten oder Grenzen damit verbunden sind. Wir müssen die Aspekte Macht, Ökonomisierung und nicht-intendierte Effekte mitdenken. Durch welche strukturelle Handlungszwänge wird die pädagogische Arbeit entlang den Maximen des weiten Bildungsbegriffs kompromittiert und wo gibt es Spielräume? Wo muss der Ball an die Politik zurückgegeben werden? Dieser Blick auf die praktischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des weiten Bildungsbegriffs benötigt einen stärkeren Wissenschafts-Praxis-Dialog. Wir haben dafür ein Netzwerk zur Zukunft des weiten Bildungsbegriffs gegründet. Dort diskutieren wir ergebnisoffen, welche Anknüpfungspunkte es unter den gegebenen Umständen zur Weiterentwicklung von Bildungslandschaften geben kann.
Das Interview ist erstveröffentlicht in der Arbeitshilfe „Bildungslandschaften. Perspektive Kinder- und Jugendarbeit“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (2019):
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