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Bildungslandschaften im Jahr 2030 – wie wird das sein?
Interview

Bildungslandschaften im Jahr 2030 – wie wird das sein?

Interview mit Prof. Dr. Gerhard de Haan

veröffentlicht:

„Warum sagen wir nicht, es gibt unterschiedliche Lernorte, die gemeinsam, manchmal auch alleine, besucht werden können, und dann kommt man ab und zu im schulischen Kontext wieder zusammen?“

Feuerwehr, Unterrichtsraum Physik, Fahrradwerkstatt oder Theatersaal können solche Orte sein und sind Teil der Vision des Zukunfts- und Bildungsforschers Gerhard de Haan. Eine Vision, in der Selbsttätigkeit eine zentrale Rolle spielt, in der Kommune ihr eigenes Profil ausbildet und Menschen entsprechend ihrer Interessen zu ihrer Lernbiografie berät. Für wann das ein realistisches Szenario ist, bleibt offen.

Prof. Dr. Gerhard de Haan ist Zukunfts- und Bildungsforscher. Seit 2000 leitet er das Institut Futur der Freien Universität Berlin, ein Institut für Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung. In einer Delphi-Studie forscht er zu Entwicklungen von Bildungslandschaften bis 2030.

Welche Zukunftsperspektiven sprechen Sie Bildungslandschaften 2030 zu?

Wir haben momentan drei Szenarien: Erstens, Schule ist ein robustes, aber sich modernisierendes System, das sich nur langsam entwickelt und in der Verwaltungsstruktur sehr konservativ aufgestellt ist. Eine gesellschaftlich notwendige dynamische Entwicklung bildet das Szenario nicht ab. Die zweite Perspektive fokussiert sich auf Digitalisierungsprozesse und die Möglichkeiten der Selbstorganisation. Das dritte Szenario ist die Bildungslandschaft, ein Modell also, um stärker zu individualisieren, Eigentätigkeit zu fördern, an den Interessen von Kindern und Jugendlichen sowie der Erwachsenen anzusetzen und von dort her erfolgreiche Lernbiografien zu gestalten. Ich halte es für realistisch, dass sich das Bildungssystem in diese Richtung bewegt.

Das Individuum ernst nehmen! Fragen Sie danach, was dieses Kind, dieser Jugendliche oder Erwachsene für eine erfolgreiche Biografie braucht und dafür, ein gutes Leben zu führen.

Prof. Dr. Gerhard de Haan, Institut Futur der Freien Universität BerlinInstutu Futur

Welche Erwartungen werden aktuell mit Bildungslandschaften verbunden?

Höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen, Arbeitsfähigkeit herzustellen und die Drop out Quote zu reduzieren, sind auf der kommunalen Ebene große Treiber für Bildungslandschaften. Momentan ist diese Tendenz noch sehr stark. Das ist aber zu eng gedacht. Denn es gibt Akteure, die in Bildungslandschaften mitwirken wollen, ohne sich im Rahmen von schulischen Curricula zu bewegen. Ihnen geht es um eine neue Form von Lebenstauglichkeit und darum, die Zufriedenheit der Person zu steigern. Auch Abwanderung zu reduzieren oder Lebensqualität zu steigern, kann eine Erwartung sein. Das sind für mich interessante Aspekte, die noch viel zu wenig mitbedacht werden.

Wo sehen Sie, wo sehen Expert*innen, die größten Herausforderungen?

Von der Schule her zu denken, sie zu versuchen zu stabilisieren und zu optimieren, wird in Zukunft kaum noch haltbar sein. Das Individuum muss viel stärker in den Fokus gerückt werden. Die Bedeutung eines Schulzeugnisses wird sich noch stärker abschwächen gegenüber der Entwicklung eines Portfolios. Um die unterschiedlichen Bildungsangebote, die das bedienen, zu vernetzen, braucht es auf der kommunalen Ebene eine Koordination. Eine Personalstelle reicht aber in aller Regel nicht aus. Beratung ist wichtig: Wenn es um die individuellen Bildungsbiografien geht, dann müssen Kinder, Jugendliche oder auch Erwachsene erfahren, was man hier bei uns machen kann, das ihren Interessen entspricht. Aktuell fehlt es im Grunde an jeglicher Qualifikation und Struktur für diese Aufgaben. Und die Ressourcen sind immer knapp. Das scheint mir auch in Zukunft eines der größten Probleme zu sein.

Welche Entwicklungsperspektiven sehen Expert*innen für die Bildungslandschaften? Wo kann es hingehen?

Sie sind verhalten optimistisch, das zeigt unsere Studie. Die Perspektiven bewegen sich immer noch innerhalb der klassischen Struktur, innerhalb derer Schul- und Jugendarbeit stärker zusammengebracht werden. Schnell wird dabei klar, dass durch die Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort mit einem ganz anderen Bildungsverständnis operiert werden muss. Damit setzt sich aber eine Debatte in Gang: Welche Bedeutung hat ein schulisches Curriculum für die Lebensgestaltung und Zukunft? Noch viel zu wenig bedacht wird, dass selbst lernen und sich selbst entwickeln ein zentraler Punkt ist. Da muss es auch Freiräume geben, etwas anderes machen zu können, was nicht vorgegeben ist. Hier geht es darum, den Jugendlichen zuzutrauen, dass sie etwas tun, das sie selber auch voranbringt, ob am Montag bei der Freiwilligen Feuerwehr, am Mittwoch bei der Theatergruppe und am Freitag beim Physiklehrer in der Schule oder in der Fahrradwerkstatt.

Von der Schule her zu denken, sie zu versuchen zu stabilisieren und zu optimieren, wird in Zukunft kaum noch haltbar sein. Das Individuum muss viel stärker in den Fokus gerückt werden.

Prof. Dr. Gerhard de Haan, Institut Futur der Freien Universität Berlin

Und welcher Bildungsbegriff wird sich durchsetzen?

Es wird weiterhin unterschiedliche Auffassungen geben. Manche werden sich stärker darauf kaprizieren, einen festen Kanon für eine Bildungslandschaft zu erarbeiten, um der Herausforderung gesellschaftlicher Zusammenhalt in einer Gesellschaft aus extrem heterogenen Individuen durch Vereinheitlichung zu begegnen. Andere sind überzeugt, dass es mit einem festgefügten Kanon nicht funktionieren kann und sagen, wir müssen viel stärker individualisieren, aber auch in viel stärkerem Maße die Interessen der Kinder oder Jugendlichen berücksichtigen und gleichzeitig die Potenziale vor Ort.

Welche Bildungsziele sollten mit Bildungslandschaften verbunden sein?

Bildungslandschaften sind aus meiner Sicht dann funktional, wenn Menschen Interessen ausbilden und Fähigkeiten entwickeln können, die für die eigene Lebensgestaltung und gleichzeitig gesellschaftlich nutzbar sind, wenn sie sich sozial engagieren und im Kontext von Demokratie bewegen können.

Welche Empfehlung haben Sie für die Akteure der Jugend- und Kulturarbeit?

Wenn Digitalisierungsprozesse dazu führen, dass alles, was algorithmisierbar ist, innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre von Maschinen übernommen wird, was bleibt dann für das Individuum? Individuen brauchen Kreativität. Dafür ist der kulturelle Bereich zentraler Motor. Und Kreativität ist das, was die Maschine noch nicht kann. Den Anforderungskatalog, der sich in dem unweigerlich kommenden Wandel von Gesellschaft stellt, können Sie sich anschauen, und in diesem Kontext Ihre Potenziale erkennen. Ich empfehle, sich organisational einzuklinken, im Sinne eines „collective impact“. Kulturelle Bildung kann dann einen Beitrag leisten für ein stabiles Netzwerk. Gleichzeitig ist es sinnvoll, sich innerhalb des Feldes gegenseitig zu stützen und zu befördern. Mit einem gemeinen Bildungsverständnis geht das auch. Und es braucht ein gemeinsames Verständnis davon, wie wir das, was Kulturelle Bildung leistet, evaluieren.

Ihre ganz persönliche Vision für das Thema Bildungslandschaften 2030?

Das Individuum ernst nehmen! Fragen Sie danach, was dieses Kind, dieser Jugendliche oder Erwachsene für eine erfolgreiche Biografie braucht und dafür, ein gutes Leben zu führen. Welche Fähigkeiten und welche Wünsche hast du? Es kommt darauf an, dass die Person etwas für den Beruf oder den Alltag, für die eigene Familie und ihre Beziehungen lernt. Dieses Bildungsverständnis läuft auf Selbsttätigkeit hinaus. Ich bezweifle, dass es sich bis 2030 durchgesetzt haben wird. Aber wenn wir zielstrebig in diese Richtung gehen, fände ich das großartig.

Das Interview ist erstveröffentlicht in der Arbeitshilfe „Bildungslandschaften. Perspektive Kinder- und Jugendarbeit“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (2019):

Bildungslandschaften 2030 – Eine Delphi-Studie zur Zukunft von Bildungslandschaften

Die Delphi Studie „Bildungslandschaften 2030“ präsentiert die erwarteten und erwünschten zukünftigen Entwicklungen von Bildungslandschaften bis zum Jahr 2030. Institut Futur der Freien Universität Berlin.

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