Bildungsbericht 2012 – klamme Datenlage und wichtige Anknüpfungspunkte
Kulturelle/musisch-ästhetische Bildung im Lebenslauf
Kulturelle/musisch-ästhetische Bildung im Lebenslauf
Außerdem empfiehlt der Bildungsbericht ausdrücklich ein stärkeres Aufgreifen von kulturellen Aktivitäten aus informellen und non-formalen Kontexten in der Schule. Viola Kelb, die Leiterin der Fachstelle „Kultur macht Schule“, kommentiert.
„Schon in der frühen Kindheit regen nahezu alle Eltern über gemeinsame Aktivitäten mit unterschiedlicher Intensität und Schwerpunktsetzung die kulturelle/musisch-ästhetische Bildung ihrer Kinder an. Im jungen Schulalter sind nahezu 90% der Kinder und Jugendlichen musisch-ästhetisch aktiv“ (S. 10).
Dabei gehen die Autor*innen von einem umfassenden und breiten Verständnis der Kulturellen Bildung aus, die dazu beiträgt „Individuen zu einem selbstbestimmten Leben, zur Entdeckung und Entfaltung ihrer expressiven Bedürfnisse sowie zur aktiven Teilnahme an Kultur zu befähigen“ (S. 157). Dementsprechend stellte der Brandenburgische Bildungsstaatssekretär Burkhard Jungkamp im Rahmen der Präsentation des Bildungsberichts am 27. Juni 2012 fest: „Kulturelle Bildung gehört zum Kernbestand eines jeden Konzeptes zeitgemäßer Allgemeinbildung!“
So weit, so erfreulich. Vielfach wird jedoch – nicht zuletzt von den Autor*innen selbst – die dünne Datengrundlage des Berichts kritisiert (siehe dazu die BKJ-Pressemitteilung „Blick auf die Glatze“.).Diese Tatsache sollte man bei der Beschäftigung mit den Ergebnissen nicht aus den Augen verlieren. Verzerrungen in der Darstellung der Situation könnten nicht ausgeschlossen werden, gaben die Autor*innen bei der Präsentation zu bedenken. Dennoch liefert das Schwerpunktkapitel eine Reihe von Fakten, die sich durchaus anschlussfähig an den aktuellen Fachdiskurs innerhalb der Kulturellen Bildung lesen. Gleichzeitig benennt es Defizite, die den politischen Forderungen der BKJ und ihren Mitgliedern einmal mehr eine wichtige Grundlage geben:
Eindeutig hebt der Bildungsbericht die wichtige Rolle der non-formalen Einrichtungen für die künstlerisch-ästhetischen Erfahrungen hervor und meint damit zum Beispiel Jugendkunst- und Musikschulen, Kultur und Jugendeinrichtungen, Verbände und Vereine. „Im Kindes- und Jugendalter haben diese Einrichtungen für künstlerisch, darstellerisch und musikalisch Aktive eine größere Bedeutung als Bildungseinrichtungen“ (S. 11). Mit „Bildungseinrichtungen“ dürften hier in erster Linie Schulen gemeint sein. An dieser Stelle widerspricht die Wahl der Begrifflichkeiten den getroffenen Aussagen des Berichtes, weckt die Unterscheidung zwischen „non-formalen Einrichtungen“ und „Bildungseinrichtungen“ doch den falschen Eindruck, die oben genannten Einrichtungsformen fielen nicht in die Kategorie „Bildung“.
Besonders hervorgehoben wird die Bedeutung der Schulen, insbesondere Ganztagsschulen, für die kulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. Ganztagsschulen böten „besonders attraktive Möglichkeiten zur Einbeziehung nichtschulischer Lernumwelten, die nicht zuletzt den bisher bildungsbenachteiligten Jugendlichen zu Gute kommen dürfte“ (S. 14). Die kulturellen Angebote an Ganztagsschulen werden, im Gegensatz zu Angeboten von „Vereinen und anderen Organisationen“ als nicht sozial selektiv bezeichnet. Einschränkend wird jedoch angemerkt, dass die schulischen Angebote die bestehenden schichtspezifischen Unterschiede nicht kompensieren.
Mit Blick auf die musisch-ästhetischen Schulfächer kommen die Autor*innen zu folgendem alarmierenden Ergebnis. „Da sich die soziale und ethnische Zusammensetzung der Schüler*innen in der Sekundarstufe l im Durchschnitt zwischen Förder- und Hauptschulen und den anderen Schularten stark unterscheidet, die anderen Schularten aber besser ausgestattet sind, tragen die Ausstattungsunterschiede zu sozial unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen für kulturell/musisch-ästhetische Bildung bei“.
Die Ausstattung der künstlerischen Schulfächer hinsichtlich Raum- und Sachmittelausstattung beschreibt der Bildungsbericht laut einer Schulleiterbefragung von 2011 insgesamt als zufriedenstellend. Im Gegensatz dazu kommt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in einer eigenen Umfrage im Juni 2012 zu einem völlig anderen Ergebnis: Hier sehen die 3.500 befragten GEW-Mitglieder große Defizite in der kulturell/musisch-ästhetischen Bildung. An vielen Schulen fehle es in diesem Bereich an ausgebildeten Lehrkräften, geeigneten Räume und einer guten Ausstattung. Beispielsweise werde der Unterricht in diesen Fächern zu mehr als 30 Prozent fachfremd erteilt. Ebenso wie der Bildungsbericht stellt auch diese Studie diesbezüglich große Unterschiedliche zwischen Gymnasien und Haupt- und Förderschulen fest.
„Formale Bildungseinrichtungen übernehmen im Vergleich zu kulturellen Einrichtungen und informellen Bildungszusammenhängen oft nur eine vorbereitend unterstützende Aufgabe für musisch-ästhetische Lern- und Bildungsprozesse im Lebenslauf. Sie ermöglichen aber allen Kindern und Jugendlichen grundständige rezeptive und produktive Zugänge zu kultureller/musisch-ästhetischer Bildung und gewinnen hieraus eine besondere Wichtigkeit“ (S. 175). Aus den Potenzialen der außerschulischen Kulturellen Bildung einerseits sowie aus den Möglichkeiten zur kulturellen Teilhabe, die (Ganztags)Schulen bieten, ergibt sich der Mehrwert von Kooperationen zwischen Kultur und Schule.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Bildungsbericht ausdrücklich ein stärkeres Aufgreifen von kulturellen Aktivitäten aus informellen und non-formalen Kontexten in der Schule. Denn dies schaffe Chancen „musisch-ästhetische Bildung zu intensivieren, indem das, was oft individuell und spontan betrieben wird, stärker gerichtet, reflektiert und gemeinsam bearbeitet zum Medium von Persönlichkeitsentwicklung und gemeinschaftlicher Erfahrung gemacht wird. Der Ausbau von erweiterten Angeboten in den Schulen – innerhalb und außerhalb des Kontextes von Ganztagsschulen – kann dazu nachdrücklich beitragen“ (S. 197).
Der Bildungsbericht bestätigt also den Weg zu mehr kultureller Teilhabe durch Schulkooperationen und lokale Bildungslandschaften, den die BKJ mit „Kultur macht Schule“ seit 2004 unterstützt. Den Ausbau von Kooperationen sehen die Autor*innen eng verknüpft mit dem Ausbau von Ganztagsschulen. Kooperationen werden insbesondere deshalb als wertvoll betrachtet, weil „non-formale Einrichtungen im Kindheits- und Jugendalter für künstlerische, darstellerische und musikalische Aktivitäten eine erheblich größere Bedeutung haben als die Schule“ (S.197).
Zu begrüßen ist auch die Einschätzung, dass sich die „scharfe organisatorische Trennung von Bildungsgängen und die Eindeutigkeit funktionaler Definitionen von Bildungseinrichtungen auf(lösen)“ (S. 12). Weiter konstatieren die Autor*innen, dass es für die Öffnung von Grenzen und für höhere Flexibilität von Bildungswegen einer bewussten Koordinierung und Steuerung zwischen den Bildungseinrichtungen bedarf. „Zu ihnen gehören systematische Kommunikation zwischen Einrichtungen und Regeln der Anerkennung von äquivalenten Bildungsangeboten und –leistungen anderer Institutionen; für solche Regeln auf Basis von Standards ist die Politik gefordert“ (S. 12).
Bestärkt werden also auch die von der BKJ und zahlreichen weiteren Fachpartnern seit Langem formulierten Forderungen nach mehr politischen Rahmenbedingungen für Kooperationen, um langfristig von „Projekten zu Strukturen“ und so zu nachhaltigen Bildungswirkungen für alle Kinder und Jugendlichen im Sinne lokaler Bildungslandschaften zu kommen.
Nur mit entsprechend qualifiziertem Personal könne allen Kindern und Jugendlichen – unabhängig von der Förderung in der Familie – grundlegende künstlerische ästhetische Erfahrungen für die Entwicklung ihrer Identität und Persönlichkeit ermöglicht werden. Perspektivisch wird weiterhin angemerkt: „Eine stärkere Vernetzung von Schulen und außerschulischen Kultur- und Bildungseinrichtungen könnte auch Rückwirkungen auf die Professionalisierung des künstlerischen Personals haben (S. 198)“. Gemeint sind der mögliche Ausbau von Ergänzungsangeboten im (Lehramts)Studium und pädagogische und psychologische Weiterbildungsmöglichkeiten für Berufstätige in künstlerischen Arbeitsfeldern.
So lautet die Schlussfolgerung der Autor*innen im Unterkapitel „Perspektiven“. Eine unzureichende Datenlage kritisieren sie sowohl im Bereich der Kulturellen Bildung in Kindertagesstätten und Schulen als auch im non-formalen und informellen Bereich. „Im Gegensatz zu der großen Bedeutung, die non-formale und informelle Kontexte für die musisch-ästhetischen Aktivitäten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben, steht die unzureichende Datenlage“ (S. 198). Mit Blick auf Kooperationen gebe es insbesondere keine Informationen über die Aufwendungen von Familien sowie über die Kosten, die bei Kooperationen entstehen. „Untersuchungen zum Umfang und der Struktur des Finanzbedarfs wären für den weiteren Ausbau dieser Kooperationsformen sehr wünschenswert“ (S. 198).
Weiterhin wird auf den Mangel an Daten im Bereich der Nutzergruppen im non-formalen und informellen Bereich hingewiesen sowie im Bereich „Wirkungen“. Das Fazit: „Wenn es richtig ist, dass eine zeitgemäße und anspruchsvolle kulturelle Bildung nicht allein auf punktuelle Kooperationen von Bildungsinstitutionen mit außerschulischen Einrichtungen des Kultursektors, sondern auf verlässliche Vernetzung der unterschiedlichen Einrichtungstypen angewiesen ist, wird eine Analyse der Bedingungen und Erfolgskriterien solcher Vernetzungen wichtig“ (S 198).
Tatsächlich fehlt es bisher an empirisch gesicherten Erkenntnissen zu Gelingensbedingungen von Kooperationen und Bildungslandschaften. Zwar haben sowohl die BKJ mit „Kultur macht Schule“ als auch die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung bereits 2006 Qualitätskriterien für Kooperationen von Kultur und Schule in intensivem Dialog mit der Praxis vor Ort generiert. Weitere Aufschlüsse gab die Evaluation von ca. 1.000 Kooperationen aus dem MIXED UP Wettbewerb durch das Zentrum für Kulturforschung. Ebenso haben sich einzelne Fachverbände innerhalb der verschiedenen Kunstsparten (z. B. Tanz in Schulen) mit Qualitätsentwicklung beschäftigt. Eine breitere Datengrundlage wäre für die weitere Qualitätssicherung von Kooperationen mehr als hilfreich.
Eine zentrale Herausforderung der Zukunft jedoch stellt die Verortung der Kulturellen Bildung in den sich zunehmend etablierenden lokalen Bildungslandschaften dar. Hier fehlt es bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich an gesicherten Erkenntnissen über Voraussetzungen und Gelingensbedingungen erfolgreicher Vernetzung. Ebenso ist bisher nicht empirisch belegt, ob und inwieweit lokale Bildungslandschaften und kommunale Gesamtkonzepte für Kulturelle Bildung tatsächlich das erwünschte Ziel vielfältiger Bildungsgelegenheiten und damit verbesserten Bildungswirkungen erreichen.
Während der Präsentation des Bildungsberichts stellte Dr. Thomas Greiner vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Initiative des BMBF für mehr Forschung und Weiterbildung im Bereich der Kulturellen Bildung in Aussicht. Insofern dürfen all diejenigen, die wie die BKJ seit langem eine bessere Datengrundlage für die Kulturelle Bildung fordern, zumindest ein wenig optimistischer als bisher in die Zukunft blicken.
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