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„Bildung ist kein Ersatz für Sozialpolitik.“
Interview

„Bildung ist kein Ersatz für Sozialpolitik.“

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Die Wissenschaftlerin Dr. Anika Duveneck diskutiert im Interview mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), was Bildung in unseren diversen Großstädten leisten kann und was nicht.

Dr. Anika Duveneck ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Futur in Berlin. Sie forscht zu den Themen Kommunale Bildungslandschaften / Zukunftsstadt 2030+ und UNESCO-Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (Bereich Kommune).

Welche Faktoren werden in Zukunft bei der Weiterentwicklung von kommunalen Bildungslandschaften eine Rolle spielen?

Im Wesentlichen sind es zwei Faktoren. Der eine ist, ob es gelingt, aus den letzten zehn Jahren Bildungslandschaften zu lernen. Mit dem Start von „Lernen vor Ort“ gab es hohe Erwartungen: der Abbau sozialer Benachteiligungen oder die Qualitätsentwicklungen in den Bildungseinrichtungen. Ich sage immer, dass die erste Dekade der Bildungslandschaften ein Testballon war, um zu sehen, worauf es eigentlich ankommt. Die Ergebnisse zeigen, welche Erwartungen unrealistisch waren und von denen muss man sich verabschieden. Der zweite Faktor: Bei einer Studie zum Thema „Bildungslandschaften 2030“, die wir vom Institut Futur unter bundesweit rund 200 Expertinnen und Experten durchgeführt haben, war eine häufig genannte Herausforderung, die Entscheidungsträger zu überzeugen.

„Bildungspolitik richtet sich von jeher an privilegierte Schichten.“

Dr. Anika Duveneck, Wissenschaftlerin am Institut Futur

Können Sie die neuen Ansatzpunkte konkretisieren?

Eine fachliche Logik, die in der Sache richtig ist, kann sich davon unterscheiden, was politisch Sinn macht. Das Wissen, dass die zwei unterschiedlichen Denkarten sind, ist ein Riesenvorteil. Es ist deutlich geworden, dass sich das eine nicht direkt in das andere übersetzt. Es muss eine Vermittlung stattfinden. Welche Ergebnisse taugen für eine politische Profilierung? Solches Wissen zu vermitteln, kann eine wichtige Aufgabe der Transferagenturen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis sein. Und: Es ist deutlich geworden, dass die Öffentlichkeitsarbeit ein eigenes Feld im kommunalen Bildungsmanagement ist und ein Professionalisierungsfortschritt zu verzeichnen ist.

Es gibt gute Gründe für Kommunen, sich auf einen Wandel einzulassen und die Ressourcen, die im Rahmen des kommunalen Bildungsmanagements zur Verfügung stehen, zu nutzen. Gerade bei der Integration von Geflüchteten hat sich gut gezeigt, dass die Kommunen, die vernetzt und ressortübergreifend arbeiten, an Flexibilität gewonnen haben.

In einem Ihrer Aufsätze beschreiben Sie die Grenzen kommunaler Politik in Zeiten von knappen Kassen. Welche Chancen haben Kommunen in den nächsten Jahren aktiv die „Kommunalisierung der Bildung” zu betreiben?

Eigentlich galt seit den 90er Jahren die Prämisse, dass es eine kommunale Haushaltskrise gibt, dass Kommunen unter knappen Kassen agieren müssen und Austerität eine große Rolle spielt. Jetzt haben wir seit ein paar Jahren einen Boom und die kommunalen Haushalte verzeichnen Überschüsse. Das bringt das theoretische Konzept ganz schön durcheinander. Für die Kommunen ist es eine Chance, um den Ausbau von Kooperations- und Koordinationsstrukturen aus den Projekten voranzutreiben, zu nutzen und davon langfristig zu profitieren.

Sie beschreiben, dass Bildungspolitik das tieferliegende Problem der Ungerechtigkeit nicht lösen kann. Woher kann dann ein neues Momentum kommen?

Es ist die Politik, die die soziale Frage lösen muss. Entscheidend ist, dass sie die soziale Frage nicht über kommunale Bildungslandschaften und Bildungspolitik lösen kann, sondern über eine sozialere Verteilungspolitik. Es ist ein Mythos im Feld der Bildungslandschaften, dass Bildung der Schlüssel für Teilhabechancen ist. Bildung ist kein Ersatz für Sozialpolitik. Sie kann nur das lösen, was sie auch verursacht. Ursprung der ganzen Auseinandersetzung ist ja die Pisa-Debatte, bei der deutlich geworden ist, dass die Selektionswirkung des deutschen Bildungssystems höher ist als im internationalen Vergleich, beispielsweise durch ein starkes Gefälle zwischen dem formalen und dem non-formalen Bildungsbereich, der deutlich weniger professionalisiert und finanziert ist. Gerade in der Zusammenarbeit dieser Bildungsakteure gibt es jede Menge ungenutzter Potentiale. Unsere Forschung zeigt, dass man hier Anlässe schaffen muss, damit Defizite aufgeholt und diese Potentiale entfaltet werden. Mit einer guten Vermittlung und Unterstützung kann einiges an der Selektivität des Bildungssystems ausgeglichen werden. Aber alle Akteure sollten sich vor Augen halten, dass die Bildungsvernetzung auf kommunaler Ebene nur einen begrenzten Einfluss auf große Verteilungsfragen hat. Die soziale Frage muss auf anderen politischen Feldern ausgefochten werden.

2006 gab es den Skandal um den Campus Rütli im Berliner Bezirk Neukölln, den Sie wenig später als Fallbeispiel in ihrem Buch „Bildungslandschaften verstehen“ behandeln. Was hat sich in den letzten zehn Jahren für die Kinder und Jugendlichen, die in dem Kiez leben, geändert, nachdem die Verantwortlichen im Bezirk aktiv geworden sind?

Ich habe den Einfluss von Wettbewerbsbedingungen, auf die Umsetzung des Konzeptes untersucht, nicht die Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen. Es ist methodisch kaum möglich, den Einfluss von Bildungslandschaften zu erfassen, da spielen so viele Faktoren zusammen. In der Zwischenzeit habe ich aber Hinweise auf Aspekte beobachten können, die in der Arbeit angeschnitten werden.

Beispielsweise ist ein ganz zentrales Motiv auf dem Campus Rütli die soziale Durchmischung gewesen. Der Skandal war eine Folge der Zusammensetzung an der Schule, bei der sich soziale Problemlagen stark verdichtet hatten.
Die Idee war: Wir müssen eine soziale Mischung herstellen und können so einer Bildungsbenachteiligung entgegenwirken. Ein starker und attraktiver Gedanke! In der Wissenschaft wird aus guten Gründen kritisch diskutiert, dass die Idee der sozialen Durchmischung keine Sozialpolitik ist und auch keine sein kann, sondern eigentlich das Gegenteil davon ist und immer im Kontext von Aufwertungspolitik steht. In der Fachdebatte sprechen wir von einer versteckten Gentrifizierung.

Beim Campus Rütli war ein zentraler Gedanke, den Wegzug der Mittelschichts-Eltern beim Eintritt der Kinder in die Grundschule zu verhindern. Der Reuterkiez war schon immer heterogen, es gab alternative Mittelschichts-Eltern und junge Leute. Aber in dem Moment der Einschulung gibt es häufig die Überlegung, dass die Kinder auf eine „gute Schule“ kommen sollen und es folgt der Wegzug. Dadurch war der Stabilisierungsprozess im Kiez gefährdet. Die Idee war, eine Schule zu schaffen, die bildungsaffine Mittelschichts-Eltern anzieht. Man kann sich fragen, ob sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche automatisch vom Zuzug von Mittelschichts-Familien profitieren, oder genereller: von Politiken, die eine privilegierte Zielgruppe als Orientierungspunkt haben. Denn: wann kann man die soziale Durchmischung deckeln? Gibt es überhaupt die politischen Möglichkeiten zu sagen: Das ist jetzt ein guter Mix, jetzt stoppen wir das Ganze? In den letzten zehn Jahren hat gerade in Neukölln eine der intensivsten Aufwertungsdynamiken bundesweit stattgefunden. Jetzt ist es so, dass schon die Pioniere, die man zur Erzeugung einer sozialen Durchmischung angezogen hat, Opfer von Verdrängung werden. Und wenn sie jetzt wegziehen wollten, könnten sie es mittlerweile oft nicht mehr. Diese Zielgruppe profitiert jetzt davon, dass ihr die Rütli-Schule auf den Leib geschneidert wurde. Entsprechend groß ist der Run auf diese Schule, so dass neue Verdrängungsmechanismen aufkommen.

Bedenkt man, wer die ursprüngliche Zielgruppe war, nämlich die sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen, wird klar: die haben ein massives Problem. Denn sie bräuchten das Gegenteil von dieser Dynamik, die der Ausgangspunkt für diesen Veränderungsprozess auf dem Campus Rütli war. Man darf die Bedeutung nicht überstrapazieren, nicht der Campus Rütli hat den Gentrifizierungsprozess in Neukölln angeregt, sondern Finanzmarktdynamiken. Aber In Neukölln zeigt sich deutlich, dass die Idee des Social Mix ein Mythos ist, von dem sozial privilegierte Gruppen profitieren und die sozial nicht-privilegierte nicht.

Das Phänomen der ungleichen Bildungschancen bleibt bestehen und ist weiterhin auffällig für Entwicklungen in Deutschland. Woran müssen Verantwortliche in Deutschland stärker arbeiten, damit alle Kinder und Jugendlichen Chancen auf eine gute Bildung haben – unabhängig vom Elternhaus?

Selbst dann, wenn alle dieselben Chancen haben, bringen Schulen Gewinner*innen und Verlierer*innen hervor.
Dazu kommt, dass sich Bildungspolitik an bestimmte Schichten richtet. Selbst wenn wir uns einen großen Erfolg ansehen: Die Abschaffung der Hauptschule in Berlin. Die Kolleginnen und Kollegen vom Wissenschaftszentrum Berlin haben in einer Studie die Beständigkeit der sozialen Selektionswirkung des Schulsystems festgestellt. Sie läuft jetzt nicht mehr entlang des dreigliedrigen Schulsystems, besteht aber weiterhin fort.

Inwiefern Bildung die gleichen Chancen für alle bieten kann, ist schwer zu beantworten. Es wird verhindert, dass soziale Selektion durch Bildungseinrichtungen und durch pädagogische Fachkräfte reproduziert werden. Ein wichtiger Punkt ist dabei das Zusammenspiel zwischen Akteuren aus dem Schulbereich und dem nicht-formalen Bereich: bei der Entwicklung diversitätssensibler Partizipationsansätze muss das Bildungssystem besser auf die Bedürfnisse von denjenigen eingehen, mit denen es zusammenarbeitet.

Eine Professionalisierung ist durch eine multiprofessionelle Zusammenarbeit möglich. Aber man muss die Grenzen bedenken, um politisch wirksame Mittel ergreifen zu können. Bildungslandschaften sind kein Ersatz für Sozialpolitik. Selbst wenn Akteure im Bildungsbereich perfekt agieren, können sie nicht die Folgen des Abbaus des Wohlfahrtsstaats und der sozialen Sicherungssysteme ausgleichen.

Die Proteste von #FridaysforFuture, die viele Kinder und Jugendlichen in den letzten Monaten bewegt haben, zeigen, dass sich Bildungsthemen und Lernen nicht mehr auf die Schule reduzieren lassen. Wie können die Schüler*innen in tatsächlichen „Beteiligungslandschaften“ integriert werden?

Das Beste, was #FridaysforFuture passieren kann, ist, dass sie nicht integriert werden, sondern in die Aktion gehen. Die Verweigerung der Schulpflicht ist für junge Menschen das Einzige, das sie politisch in den Ring werfen können. Ich finde es sehr klug, dieses Mittel zu nutzen, um einen Einfluss auf politische Kräfteverhältnisse auszuüben. Wichtig ist, dass es eine globale und übergreifende Bewegung ist. Die Konsequenz dieser Generation macht mir große Hoffnung. Ganz entscheidend ist – und da würde ich gerne Greta Thunberg zitieren: „Politiker*innen sollten sich auf das konzentrieren, was notwendig sei, statt auf das, was politisch möglich sei.“ Da kommen wir direkt wieder auf die kommunalen Bildungslandschaften: wir haben die fachliche Logik, wir wissen, was in der Sache hilfreich und wichtig ist. Entscheidend ist, ob es gelingt, das den politischen Entscheidungsträgern deutlich zu machen. Das ist ein toller und auch radikaler Ansatz dieser Generation. Davon können wir uns einiges abschauen, denn bei den Bildungslandschaften geht es um eine nachhaltige, bedarfsorientierte Gestaltung von Bildung, bei der junge Menschen im Fokus stehen sollten.

Das Interview führte Julia Frediani und ist erstveröffentlicht in: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (2019): #vernetzt #divers #agil. Wie Kommune die Zukunft der Bildung gestaltet. „bewegt – Magazin für kommunale Bildungslandschaften“. Ausgabe 1/2019. Berlin. S. 6 – 7.

Zum Magazin der DKJS „bewegt – Magazin für kommunale Bildungslandschaften“, 1/2019