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Bildung an vielen Orten: Die neue Verantwortung der non-formalen Bildung
Fachbeitrag

Bildung an vielen Orten: Die neue Verantwortung der non-formalen Bildung

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Leipzig 2002. "Bildung ist mehr als Schule", das Motto der so genannten Leipziger Thesen - ein echter Aufreger oder feinsinniger ausgedrückt: Ein Bildungsbegriff, der herausfordert und provozierend wirkt. Und heute?

von Karin Böllert

Prof.in Dr.in Karin Böllert lehrt Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie ist Co-Vorsitzende des Beirats des BMFSFJ zur Jugendstrategie der Bundesregierung.

Bildung ist aus den zentralen gesellschaftspolitischen Debatten der letzten Jahre nicht mehr wegzudenken. War das Motto der so genannten Leipziger Thesen 2002 „Bildung ist mehr als Schule“ für viele noch provokativ oder doch zumindest herausfordernd, ist die Vorstellung, dass Bildung an vielen Orten stattfindet und weit mehr als nur die formalen Bildungsprozesse umfasst, heute eine Selbstverständlichkeit geworden. So wird die Bedeutung frühkindlicher Bildungsprozesse ebenso wenig bestritten und ist mit dem Rechtsanspruch auf eine Kindertagesbetreuung für die unter Dreijährigen auch institutionell verankert, wie die Vielfältigkeit unterschiedlicher Bildungsprozesse in dem enormen Ausbau der Ganztagsschulen ihren passenden Ausdruck gefunden hat. Viele Bildungsträger arbeiten schließlich in regionalen bzw. kommunalen Bildungslandschaften zusammen und verstehen Bildung dabei als umfassende mehrperspektivische Aufgabe.

Ein umfassender Bildungsbegriff

Kinder und Jugendliche bleiben heute länger in Institutionen der Erziehung, Betreuung und Bildung als je eine Generation zuvor. Hinzu kommt, dass individuelle, informelle und selbstgesteuerte Bildungsprozesse zunehmen und zwar sowohl innerhalb wie außerhalb von Institutionen. In internationalen Bildungsdiskussionen hat sich daher die Unterscheidung von informeller, nicht-formeller und formeller Bildung durchgesetzt, wobei diese Bildungsprozesse in je unterschiedlicher Gewichtung an verschiedenen Bildungsorten zum Tragen kommen.

  • Informelle Bildung ist ungeplantes, keinem Lehr-, Erziehungs- oder Hilfeplan folgendes Lernen, das zumeist als Kompetenzerwerb im Alltag von Familie, Freundeskreis und in der Freizeit beschrieben wird.
  • Formelle Bildung hat ihren Ort in erster Linie im Schul- und Ausbildungssystem. Hierbei handelt es sich um geregelte Bildungsprozesse, die umfänglichen Vorgaben folgen, Bildungslaufbahnen begründen und deren Erfolg nach festgelegten Kriterien geprüft und zertifiziert wird.
  • Jenseits des formellen Schul- und Ausbildungssystems finden geplante und gewollte Bildungsprozesse in nicht-formellen Bildungsbereichen wie der Kinder- und Jugendhilfe statt. Diese werden ebenfalls professionell gestaltet, die Teilnahme daran geschieht aber zumeist auf freiwilliger Basis, sie wird in aller Regel nicht bescheinigt und benotet, Bildung ist hier stärker an den jeweiligen Bedingungen des Einzelfalls denn an verallgemeinerbaren Inhalten orientiert.

Während diese Dreiteilung von Bildungsprozessen in Hinblick auf ihren Formalisierungsgrad unstrittig ist, wird die damit einhergehende Hierarchisierung von Bildungsprozessen nach dem Motto „je formalisierter desto wichtiger“, kritisch hinterfragt.

Schätzungen zu Folge finden Bildungsprozesse zu 30% in formalen Bildungsinstitutionen statt, den weitaus größten Anteil an Bildung leisten aber informelle Bildungsbereiche und nicht-formelle Bildungsinstitutionen (Böllert 2010).

Bereits im 11. Kinder- und Jugendbericht wurde darauf verwiesen, dass die Beschleunigung des kulturellen und technischen Wandels nur dann bewältigbar ist, wenn hierfür entsprechende Kompetenzen vermittelt werden. Andererseits führt genau dieser Wandel dazu, dass die Vermittlung von Kenntnissen und Wissen, von Interpretationen und Regeln der Jetzt-Situation alleine nicht ausreichend sein werden, m. a. W.: das, was Erwachsene wissen, können, gelernt haben, ist allein nicht mehr ausreichend für die junge Generation zur Gestaltung ihrer eigenen Zukunft.

Bildungsprozesse junger Menschen müssen von daher dadurch geprägt sein, dass ihnen reflexive und soziale Kompetenzen vermittelt werden, die es ihnen ermöglichen, zukünftig verantwortlich und begründet handeln zu können.

Ziel von Bildung ist damit nicht nur die Verfügbarkeit von unmittelbar verwertbarem Wissen oder berufsverwertbaren Fertigkeiten, sondern die Befähigung zu einer befriedigenden und dabei gleichermaßen verantwortungsvollen Lebensgestaltung (BMfFSFJ 2002; Böllert 2008; 2012).

Die solchermaßen grundgelegten Bildungsvorstellungen sind schließlich durch den Zwölften Kinder- und Jugendbericht (2006) fokussiert und gebündelt worden. Moderne Wissensgesellschaften sind demnach auf Menschen verwiesen, die

in der Lage sind, ihr Leben eigenständig zu regeln, die gelernt haben, sich in einer dinglichen, symbolischen, sozialen und subjektiven Welt verstehend, handelnd, kompetent zu bewegen (ebd. S. 118).

Non-formale Bildung in und durch die Kinder- und Jugendhilfe

In der Praxis ihrer vielfältigen Handlungsfelder ist die Kinder- und Jugendhilfe sowohl in formelle Bildungsprozesse integriert als auch Repräsentantin nicht-formaler und Ermöglicherin informeller Bildungsprozesse. Allerdings ist auf Seiten der Kinder- und Jugendhilfe ein nicht unerhebliches Unbehagen gegenüber der aktuellen Bildungsdebatte zu beobachten. Gerade mit der Betonung der Bedeutsamkeit außerschulischer Bildungsprozesse wird konstatiert, dass Angebote der allgemeinen Förderung, Freiräume, Lebensräume, die zweckfrei von Kindern gestaltet, erlebt, selbstbestimmt mit Inhalten gefüllt werden können, nicht zu Gunsten eines allumfassenden Bildungsverständnisses aufgegeben werden sollten. Dahinter steckt auch die Befürchtung, dass Bildung sehr stark auf zukünftige Verwertungskontexte bezogen bleibt: es muss für die Zukunft gebildet werden, damit junge Menschen Arbeitsmarktchancen haben; Bildung ist die grundlegende Voraussetzung für die Bewältigung von Armutsproblemen etc. Dies wird zum einen als viel zu hoher Anspruch an Bildung kritisiert, zum anderen wird hervorgehoben, dass ein solches Bildungsverständnis auch sozialen Ungleichheitsstrukturen in ihren Verursachungsfaktoren nicht umfassend gerecht wird. Für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet dies, dass sie einerseits den Bildungsauftrag ihrer Handlungsfelder präzisieren muss, andererseits kann ihr umfassendes Aufgabenverständnis von Bildung, Erziehung, Betreuung und Förderung nicht allein in Bildung aufgehen (Böllert 2010; Rauschenbach 2009). Die Zurückhaltung der Kinder- und Jugendhilfe innerhalb der Bildungsdebatte erklärt sich aber auch daraus, dass sie befürchtet, fünftes Rad am Wagen der Bildung zu sein bzw. zu werden. So gibt es in der Kinder- und Jugendhilfe nicht Wenige, die mit der Einführung von Ganztagsschulen einen – empirisch bislang nicht nachgewiesenen – Bedeutungsverlust der Offenen Kinder- und Jugendarbeit einhergehen sehen, die davor warnen, dass für das zivilgesellschaftliche Engagement in Jugendverbänden angesichts der zeitlichen Ausdehnung von Schule und der Intensivierung schulischer Bildungsprozesse zu wenig Zeit bleibt. Die Skepsis der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber der Bildungsdebatte beruht somit insbesondere auf der Gegenüberstellung von schulischer und außerschulischer Bildung, wobei die außerschulische Bildung überwiegend verankert wird in den Kontext der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, der kulturellen Bildung und die Angebote der Jugendverbände. Dabei bleibt zum einen unberücksichtigt, dass auch die Familie ein außerschulischer Ort ist, der in seiner Bildungsrelevanz viel zu wenig wahrgenommen wird. Zum anderen hilft die bloße Gegenüberstellung von schulischen und außerschulischen Bildungsorten auf Dauer nicht weiter. Wenn der Ausbau von Ganztagsschulen weiter voranschreitet, dann muss Schule immer mehr vom Lern- zum Lebensort werden – eine Herausforderung, die sie im Interesse der Schülerinnen und Schüler sowie in der Perspektive eines umfassenden Bildungsbegriffes nur gemeinsam mit der Kinder- und Jugendhilfe bewältigen kann. Diese selbst kann mit ihren außerschulischen Angeboten und Erfahrungsräumen nicht in Schule aufgehen, sollte diese aber selbstbewusst als einen Bildungsort begreifen, an dem sie eigene Bildungsprozesse initiiert und dadurch auch den Zugang zu Kindern und Jugendlichen findet, deren Interesse für ihre außerschulischen Angebote in Schule geweckt werden kann und denen hierüber Teilhabemöglichkeiten an außerschulischen non-formalen Bildungsprozessen eröffnet werden können.

Literatur

  • Böllert, Karin (Hrsg.) (2008): Bildung ist mehr als Schule – Zur kooperativen Verantwortung von Familie, Schule, Kinder- und Jugendhilfe. In: Böllert, Karin (Hg.): Von der Delegation zur Kooperation. Bildung in Familie, Schule, Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden, S. 7-32
  • Böllert, Karin (2010): Der sozialpädagogische Bildungsbegriff regionaler Bildungslandschaften. In: Bollweg, Petra/Otto, Hans-Uwe (Hg.): Räume flexibler Bildung. Bildungslandschaft in der Diskussion, Wiesbaden, S. 113-124
  • Böllert, Karin (2012): Bildung braucht viele Orte. In: DJI Impulse, Heft 4, München, S. 36-39 BMfFSFJ (2002): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin
  • BMfFSFJ, (2006): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin
  • Rauschenbach, Thomas (2009): Zukunftschance Bildung. Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz. Weinheim und München

 

 

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