Das Street College Berlin macht Bildungsangebote, die sich strikt nach den Interessen der Studierenden richten. In einem Modellprojekt wird erprobt, wie das Erlernte im formalen Bildungssystem anschlussfähig werden kann. Darüber haben wir mit Tanja Ries und Florian Rockel gesprochen.
Ihre Kursangebote richten sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die schlechte Erfahrungen im herkömmlichen Bildungssystem gemacht haben. Können Sie beschreiben, wie Sie mit den jungen Menschen in Kontakt kommen und wie dann der Prozess abläuft, ein Angebot wie zum Beispiel den Kurs „Künstlerisch basierter Audio Engineer“ gemeinsam mit ihnen zu konzipieren?
Das Street College (SC) ist ein Projekt von Gangway – Straßensozialarbeit in Berlin. Die Straßensozialarbeiter*innen erreichen jährlich rund 3.500 junge Menschen. Wenn sie innerhalb ihrer regulären Arbeit einen Lernbedarf oder ein spezifisches Interesse der jungen Menschen feststellen, treten sie in Kontakt mit dem SC. Andere junge Menschen finden als „Freunde von Freunden“ bzw. durch Mund-Propaganda zu uns. Ab und an, jedoch selten, werden Jugendliche über unsere Internetpräsenz auf uns aufmerksam.
Das SC bietet – entsprechend der gelebten Bedarfsorientierung – grundsätzlich nicht einfach Kurse an, sondern entwickelt diese gemeinsam mit den jungen Menschen aus deren Bedarf heraus. So hat sich über die Jahre ein stabiles Interesse an elektronischer Musikproduktion entwickelt.
Die Teilnehmer*innen der Kurse lernen selbstbestimmt und individuell. Doch es hat sich im Laufe der Zeit ein Bedarf nach Anerkennung gezeigt. Die Jugendlichen fragen: Und was kann ich nun mit all dem Erlernten anfangen? Bringt mir das was im regulären Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt? Es gibt also den Wunsch nach einer „offiziellen“ Anerkennung, die eine perspektivische Bildungs- und Arbeitsmarkt-Integration ermöglichen kann – und das bei gleichbleibender individueller Freiheit und Bedarfsorientierung.
Wie wollen Sie diesen Wunsch erfüllen?
Unser Ziel ist die Akkreditierung des Kurses „Künstlerisch basierter Audio Engineer“ in Kooperation mit einer Hochschule durch eine Zertifizierungskomission. Das bedeutet: Es gibt ähnlich wie bei regulären Studiengängen ein kompetenzorientiertes Modul-Handbuch, das auf den Niveaustufen fünf und sechs des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) angesiedelt ist. Dies entspricht einem Niveau zwischen Fachabitur und Bachelor, was – laut DQR – den Zugang zu einem Bachelorstudium ermöglichen sollte. Wir berufen uns hier auf einen Passus des DQR, welcher die Anerkennung von informell und non-formal erworbenen Kompetenzen ermöglichen soll. Die Verwirklichung des genannten Passus kann aber zurzeit als „in den Kinderschuhen steckend“ bezeichnet werden. Deshalb befindet sich die Anerkennung des Kurses noch im Prozess.
Die zukünftigen Absolvent*innen werden von uns selbstverständlich über die Zeit des Kurses hinaus weiter begleitet werden. Ihren Einstieg in den Arbeitsmarkt versuchen wir auch durch unser Netzwerk bzw. das Netzwerk der jeweiligen Dozent*innen zu ermöglichen.
Welche Rolle spielen in Ihrem Ansatz Künstler*innen und sogenannte Peer-Dozent*innen, die als Lehrende und Vorbilder fungieren? Wie gehen Sie damit um, dass diese in der Regel keine pädagogische Ausbildung mitbringen?
Hervorzuheben ist zunächst, dass dem kollaborativen Lernen in allen Kursen viel Raum gegeben wird. Somit ist jede*r Kursteilnehmer*in sowohl Lernende*r als auch Lehrende*r. Als Peer-Dozent*innen bezeichnen wir Dozent*innen die sich aus den Kursen heraus entwickeln bzw. noch in den Anfängen ihrer künstlerischen Profession stehen. Wir haben uns im SC bewusst dafür entschieden, mit Künstler*innen und Expert*innen des jeweiligen Feldes zu arbeiten. Diese agieren Hand in Hand mit Sozialarbeiter*innen bzw. mit Dozent*innen, welche mit den Prinzipien des SC vertraut und verbunden sind. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Grundhaltung der Dozent*innen und deren Übereinstimmung mit den Prinzipien des SC entscheidend für eine gelingende Zusammenarbeit sind. Das bedeutet in Kurzform: Wir haben ein positives, stärkenorientiertes Menschenbild. Wir erkennen die Einzigartigkeit einer*eines Jeden an und empfinden diese als bereichernd. Und wir bemühen uns stets um eine offene, lernende Einstellung.
Außerdem ermöglicht das SC seinen Dozent*innen an der Fortbildung „Trainer*in für Kulturelle Bildung“ teilzunehmen. Diese behandelt Themenfelder wie zum Beispiel Positive Psychologie, Stärken- und Bedarfsorientierung, Motivation, Kreativität, Interkultur und Kollaboration. Das ermöglicht ihnen auch die Reflexion ihrer eigenen Persönlichkeit und eben dadurch eine Professionalisierung.