Auf dem Weg: Zehn Jahre für Inklusion und Vielfalt im Freiwilligendienst
Dörte Nimz und Rebekka Leibbrand im Gespräch mit den ehemaligen Freiwilligen Tiba Abdulkareem und Lilo Becker
Dörte Nimz und Rebekka Leibbrand im Gespräch mit den ehemaligen Freiwilligen Tiba Abdulkareem und Lilo Becker
Durch Fortbildungen, Reflexion und Umsetzung innovativer Maßnahmen sollen echte Veränderungen bewirkt werden. Die Freiwilligendienste Kultur und Bildung fördern aktiv Vielfalt und Inklusion, doch es gibt auch Grenzen und Widerstände, die noch zu überwinden sind, erklären Dörte Nimz und Rebekka Leibbrand vom Träger der Freiwilligendienste Kultur und Bildung in Hamburg im Gespräch mit den ehemaligen Freiwilligen Tiba Abdulkareem und Lilo Becker.
Die LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg hatte sich gemeinsam mit der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) und dem Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung 2013 auf den Weg begeben, um in den Freiwilligendiensten diverser und zugänglicher zu werden. Sie haben sich Ziele gesetzt und Maßnahmen entwickelt. Zehn Jahre später zieht der Trägerverbund unter dem Motto „10 Jahre Inklusion, Diversität und Antidiskriminierung“ Bilanz. Zur Roadmap Diversität der LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg
Rebekka Leibbrand: Unsere Konzentration lag darauf, größere Vielfalt im Team und bei den Werkstattleitenden auf den Seminaren zu schaffen. Inhaltlich haben wir den Fokus auf Sensibilisierungsworkshops zu Themen wie Queerness und Antirassismus verstärkt, vor allem in den Seminaren. Für die Einsatzstellen haben wir Fortbildungen zu verschiedenen Themen angeboten, auch einzelne Diversity-Beratungen in Bezug auf den Freiwilligenplatz durchgeführt, um das Bewusstsein für Selbstreflexion zu schärfen und den Raum für Vielfalt zu schaffen. Die spürbare Diversifizierung unseres Teams ‒ sowohl bei den Hauptamtlichen als auch bei den Werkstattleiter*innen und dem Seminarteam – ist uns gelungen. Und es betrifft nicht nur den Freiwilligendienst, sondern auch die Geschäftsstelle und den Vorstand. Das finde ich wirklich schön.
Es ist schwierig, individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen und den Aufwand zu bewältigen, ohne dass dies zu Engpässen führt.
Dörte Nimz
Dörte Nimz: Wir bieten Menschen mit Zugangshürden alternative Möglichkeiten, sich für einen Freiwilligendienst anzumelden. Frust entsteht, wenn sich genau die Personen anmelden, um die wir uns bemühen, aber wir nicht ausreichend Ressourcen haben, um ihren Bedarfen gerecht zu werden. Da stoßen wir leider an Grenzen, da es keine festgelegten Ressourcen dafür gibt. Es ist schwierig, individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen und den Aufwand zu bewältigen, ohne dass dies zu Engpässen führt. Ein Beispiel war ein junger Mensch im Rollstuhl, der einen Freiwilligendienst machen wollte, aber Assistenz benötigte. Es war frustrierend zu sehen, dass wir keine Lösung finden konnten, die im Sinne des FSJ war.
Rebekka Leibbrand: Das Problem ist, dass überall Grenzen erreicht werden. Ich stehe oft in einem inneren Konflikt, weil ich die Devise „Versuchen“ habe, aber ich befürchte, dass es am Ende auf dem Rücken der Falschen ausgetragen wird, die ohnehin schon mit so vielen Hürden zu kämpfen haben.
Lilo Becker: Als Seminarassistenz bin ich im regen Austausch mit der Seminarleitung und bekomme viel mit, es ist spannend zu hören, wie viele Gedanken es braucht, wie lang dieser Prozess ist und wo es Hürden gibt. Es ist interessant zu sehen, wie mit Strukturen umgegangen wird, die ich bisher nicht so sensibilisiert wahrgenommen habe, weil sie nicht in meinem Leben stattfinden. Zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen oft kein FSJ ermöglicht werden kann. Das ist intensiv zu hören.
Tiba Abdulkareem: Es berührt und überrascht mich ein wenig, dass solche Prozesse schon sehr lange im Gange sind, man sich sehr früh Gedanken darüber gemacht hat. Es erstreckt sich weit zurück und es ist ein langwieriger Prozess, dessen Ergebnis mein FSJ ist. Das finde ich schön zu hören.
Dörte Nimz: Am meisten feiere ich die Veränderung der Haltung und die Etablierung von Diversität und Inklusion in unserer Organisation, die durch die Freiwilligendienste angestoßen wurde. Sie ist ein zentrales und nachhaltiges Element geworden, die sich durch alles zieht, was wir hier tun. Auch wenn Rebekka oder ich gehen sollten, bin ich zuversichtlich, dass es bestehen bleibt und nicht rückgängig gemacht wird. Der Prozess hat eine dauerhafte strukturelle Veränderung bewirkt.
Rebekka Leibbrand: Durch den Prozess im Trägerverbund und die Identifikation damit, bewegen wir im Kleinen Dinge und versuchen etwas zu bewirken. Dadurch hat sich auch mein Bewusstsein für die Gesellschaft verändert, und dafür bin ich dankbar. Besonders die Fortbildungsangebote der BKJ haben viel angestoßen und ermöglicht.
Dörte Nimz: In den letzten zehn Jahren habe ich unfassbar viel gelernt, mein Denken und mein Verständnis für den Circle of Influence haben sich erweitert: Ich sehe jetzt, dass ich mehr Dinge beeinflussen und entscheiden kann als ich dachte. Zum Beispiel bei Einstellungsverfahren kann ich die Kriterien anders gestalten, anstatt mir zu sagen, dass es keine geeigneten Bewerber*innen gibt. Das war eine Erkenntnis für mich.
Tiba Abdulkareem: Ich nehme mein Umfeld als vielfältig und bunt wahr. Gleichzeitig ist es natürlich nicht der Durchschnitt der Gesellschaft, von dem ich umgeben bin. Verglichen mit meiner Schulzeit empfinde ich das FSJ als eine sehr angenehme Zeit. Besonders die Seminare waren für mich ein sicherer und sensibler Ort, wo ich mich ausprobieren und Neues entdecken konnte. Ich wurde von Menschen begleitet und umgeben, die sich selbst reflektieren und anderen gerecht werden wollen, in ihrer Vielfalt und mit ihren Bedürfnissen. Das ist nicht selbstverständlich.
Lilo Becker: In meiner Gruppe war eine gehörlose Freiwillige und wir hatten zwei Dolmetscherinnen, die uns den Austausch ermöglichten. Das war bereichernd, da ich zuvor kaum Berührungspunkte damit hatte. Auch eine Workshopleitung war hörbehindert. Dennoch waren die Freiwilligen größtenteils weiß, cis-geschlechtlich, aus akademischen Haushalten und mit höherem oder mittlerem Einkommen. Es bedarf mehr Anstrengungen, andere Zielgruppen anzusprechen und mehr Menschen teilhaben zu lassen. Der Umgang in der Gruppe, trotz weniger Menschen mit Klassismus-, Rassismus- und Queerfeindlichkeitserfahrungen, war sehr wertschätzend, reflektiert und vertraut. Das habe ich sehr geschätzt.
Durch unseren Umgang miteinander in diesem kleinen Mikrokosmos können wir zeigen, wie es besser und anders gehen kann, was andere inspiriert und sich darüber hinaus positiv auf weitere Bereiche auswirkt.
Tiba Abdulkareem
Lilo Becker: Meine Einsatzstelle spiegelte stark die Hamburger Kulturszene wider ‒ sehr weiß, „cis“ und „able-bodied“. Ich wünschte mir mehr Präsenz und Offenheit bezüglich psychischer Erkrankungen, besonders in der Kulturszene, da dies ein wichtiger Teil ist. Wir hatten Kontakt zu vielen Künstler*innen mit verschiedenen Merkmalen, und das Thema wurde offen angesprochen. Wir haben darüber nachgedacht, wie wir das Programm weiterentwickeln können. Gegen Ende meines FSJs habe ich mich geoutet, und es wurde positiv aufgenommen, da sie für solche Themen sensibilisiert waren, zumindest größtenteils.
Tiba Abdulkareem: In meiner Einsatzstelle setzen wir uns vor allem auf theoretischer Ebene viel mit Ungerechtigkeiten, gesellschaftlichen Missständen, Diskriminierung und ähnlichem auseinander. Das gibt mir den Raum, mich mehr damit zu beschäftigen, da es Teil meiner Arbeit ist. Meine Einsatzstelle ist offen für Gespräche und Anliegen, wenn ich von mir aus Eigeninitiative zeige und Rat einhole.
Tiba Abdulkareem: Meine Vision ist, dass der Freiwilligendienst zur Vorbildfunktion für die gesamte Kulturbranche wird. Durch unseren Umgang miteinander in diesem kleinen Mikrokosmos können wir zeigen, wie es besser und anders gehen kann, was andere inspiriert und sich darüber hinaus positiv auf weitere Bereiche auswirkt.
Lilo Becker: Es ist wichtig, dass auf der finanziellen Ebene noch viel passiert, dass die Aufwandsentschädigung für die Freiwilligendienste steigt und zusätzliche Stipendienmöglichkeiten geschaffen werden, die über die gesetzlichen wie das Wohngeld hinausgehen. Das ist ein strukturelles Problem, das die Möglichkeit für Menschen aus ländlichen Regionen oder der Arbeiter*innenklasse, ein FSJ zu absolvieren, erschwert.
Dörte Nimz: Meine Vision ist, dass das FSJ als Teil des Bildungsgangs anerkannt wird. Dadurch hätten Freiwillige* Anspruch auf Assistenzleistungen und könnten Bafög beantragen und die öffentliche Wahrnehmung und der Stellenwert der Freiwilligendienste würden sich verbessern. Außerdem sollte der Fokus darauf liegen, wie die Einsatzstelle und die Freiwilligen* voneinander profitieren können, jenseits von Effizienz und vordefinierten Aufgaben.
Rebekka Leibbrand: Ich wünsche mir, dass wir genügend personelle und finanzielle Ressourcen haben, um unsere Ideen umzusetzen und um bestimmte Themen besser anzugehen. Es wäre ein Traum, eine eigene Stelle zu haben, die sich ausschließlich diesem Thema widmet. Auf Landes- und Bundesebene wäre es zum Beispiel hilfreich, eine Stelle zu haben, die sich speziell mit Visa-Fragen für Freiwillige aus anderen Ländern beschäftigt. Auch das Vernetzen und Erreichen von potenziellen Freiwilligen benötigt mehr Zeit und Ressourcen, um Schulen, Vereine und Jugendhilfe-Organisationen anzusprechen.
Mit über 60 Mitgliedern aus allen Bereichen der Kinder- und Jugendkultur fördert die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Kinder- und Jugendkultur die infrastrukturelle Vernetzung sowie den fachlichen Austausch und vertritt die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Politik und Verwaltung. Mitstreiter*innen sind die in Hamburg vertretenen Fachverbände ebenso wie einzelne Kulturakteur*innen, die großen, bekannten Institutionen genauso wie unabhängige, kleinere Einrichtungen, Projekte und Festivals. Diese Vielfalt trägt zur Kraft des Vereins bei. Die LAG arbeitet daran, dass Hamburg seine Position als Stadt der Kinder- und Jugendkultur wertschätzt, ausbaut und absichert. Die Kinder- und Jugendkultur in Hamburg muss verlässlich, langfristig und gezielt gefördert und weiterentwickelt werden – kleine und große Institutionen wie die freie Szene gleichermaßen.
Eiffestraße 432
20537 Hamburg
info@kinderundjugendkultur.info
040 5247897-10
https://www.kinderundjugendkultur.info/