In diesem Beitrag stellt Saskia Köhler die Projekte der Kuhlo Realschule und der Gertrud Bäumer Schule vor, die „Künstlerisches Arbeiten im Fachunterricht“ in ihre Kulturfahrpläne aufgenommen haben.
Von Saskia Köhler
Saskia Köhler ist Kulturagentin, Musicaldarstellerin und Theaterpädagogin. Neben Schauspiel, Musik und Tanz hat sie sich in den letzten Jahren der Beziehung zwischen Kunst und Bildung gewidmet.
Einleitung
An einer Kulturschule haben die künstlerischen Fächer einen besonderen Stellenwert, da insbesondere hier die Entwicklung von ästhetischen und künstlerischen-kulturellen Kompetenzen besonders gut gefördert werden kann. Durch die Einbeziehung von Künstlerinnen und Künstlern in den Unterricht kann dieser Kompetenzaufbau gerade hier in einer authentischen Weise erfolgen auch auf der Ebene der Unterrichtsgestaltung. Die vier Bielefelder am Programm: Kulturagenten für kreative Schulen NRW“ teilnehmenden Schulen, haben als einen wichtigen Baustein das übergreifende Thema „Künstlerisches Arbeiten im Fachunterricht“ in ihre Kulturfahrpläne aufgenommen. Ein Kulturfahrplan ist ein Planungs- und Steuerungsinstrument, das Schulen dabei unterstützen soll, Kunst und Kultur systematisch in den Schulalltag zu integrieren.1 In diesen Individuellen Kulturfahrplänen entscheiden die Schulen welchen Schwerpunkt sie bei der Profilbildung Kultureller Bildung setzen möchten. Hier werden unterschiedliche Bausteine und Strategien verwendet um ein nachhaltiges und tragfähiges Konzept zu entwickeln. Der Ansatz, künstlerische Methoden und Herangehensweisen für den Fachunterricht zu nutzen und dabei mit Künstler/innen zusammenzuarbeiten, ist ein sinnvolles Vorhaben bei der Entwicklung eines künstlerisch/kulturellen Schulprofils. Projekte haben eine große Chance auf Nachhaltigkeit, wenn sie einen Bezug zum Lehrplan aufweisen und nicht additive Angebote sind. Durch die Kooperation mit Fachleuten, kann ein neuer Lernzugang geschaffen werden, der es der Schülerschaft ermöglicht durch partizipative Arbeitsweisen, zu Gestaltern eigener Lernprozesse zu werden. Durch diese Herangehensweise kann Unterricht lebendig werden und es werden soziale und künstlerisch/-ästhetische Kompetenzen hinzugewonnen. Der Unterrichtsinhalt erhält so eine sinnliche Komponente, der die Phantasie anregt und Ressourcen und verborgene Talente sichtbar machen kann.
Wie so eine konkrete Zusammenarbeit aussehen kann, wird nachfolgend an zwei Beispielen zweier am Kulturagenten-Programm teilnehmenden Schulen verdeutlicht:
In der Kuhlo Realschule wurde hier in der Fachkonferenz Deutsch das Konzept: Art in lessons mit Unterstützung von Künstlern aus verschiedenen Kunstsparten im Jahrgang 5,6 und 7 erprobt. Die Gertrud Bäumer Realschule hat die Kooperationen mit Tanzinstitutionen intensiviert. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Lehrplaninhalten im Fach Deutsch erfolgt in der Unterrichtsreihe Mir auf der Spur des Jahrgangs 10 tänzerisch.
Wie beginnen?
Der Prozess sollte klar strukturiert, für alle transparent sein, viel Freiraum für Partizipation lassen und der Nutzen sollte allen Beteiligten klar sein.
Es empfiehlt sich zu Beginn, die wichtigen Begrifflichkeiten wie Kunst, Kreativität, Partizipation und Bildung mit allen Prozessbeteiligten zu diskutieren, um zu verstehen was der jeweils andere damit meint. Diese Begriffe werden oft unterschiedlich gedeutet und es lohnt sich hier auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen oder zumindest die unterschiedlichen Standpunkte und Haltungen klar zu machen. Hierzu eignet sich die Erstellung eines Mindmaps. Diese oder eine andere Methode wird idealerweise in der Kulturgruppe der Schule mit beteiligten Fachlehrern, Künstlern oder Vertreter einer Kulturinstitution, Schulleitung, Schülern und Eltern der Schule gestaltet.
Alle mitnehmen!
Um für das Vorhaben im Kollegium Interesse zu wecken, können in der Lehrerkonferenz kurze Filme mit Beispielen gezeigt werden aus bereits erfolgreich gelaufenen Projekten anderer Schulen. Auch ein Lehrerworkshop kann hilfreich sein indem Künstler (z.B. Schauspieler, Tänzer, Bildene Künstler…) mit dem Kollegium der Schule an einem Tag lang arbeiten. Einige Beispiele für Lehrerworkshops werden im Folgenden aufgezeigt.
Fach Deutsch
1. Auszug aus dem Lehrplan:
- Texte verfassen
- kreativ mit Texten umgehen, z. B. aus verschiedenen Perspektiven erzählen, Texte in andere Textsorten umformen, verfremden oder fortführen
Workshop-Form: Poetry Slam/Improtheater
Workshop-Leitung: Poetryslammer
Workshop-Inhalt: Die beiden Poetryslammer nehmen Texte die im Deutschunterricht behandelt werden und lassen sie von den Lehrern und Lehrerinnen in verschiedenen Genres interpretieren und vortragen. Im Anschluss werden eigene kurze Texte verfasst.
2. Auszug aus dem Lehrplan: Lese- und Vortragstechniken verbessern
- Lesetechniken verfeinern
- literarische Texte gestaltend vortragen
Workshop-Form: Textarbeit Theater
Workshop-Leitung: freies Theater
Workshop-Inhalt: Die Schauspieler und Schauspielerinnen arbeiten mit dem Kollegium an einer Szene eines Theaterstücks. Es werden sprachliche und theatralische Mittel wie Gestik, Mimik und Körpersprache erarbeitet.
Fach Biologie
Mögliche thematische Bearbeitungen:
- Entwicklungsschritte in der Evolution
- verschiedene Stoffwechselprozesse (z.B. die Atmungskette)
Workshop-Form: Tanz
Workshop-Leitung: Tanztheater
Workshop-Inhalt: Die Tänzer und Tänzerinnen improvisieren und gestalten szenisch und tänzerisch die Atmungskette.
Fach Mathematik
Auszug aus dem Lehrplan: Schülerinnen und Schüler
- setzen Begriffe an Beispielen miteinander in Beziehung (z. B. Produkt und Fläche, Quadrat und Rechteck)
- setzen intuitiv verschiedene Arten des Begründens ( Beschreiben von Beobachtungen, Plausibilitätsüberlegungen, Angeben von Beispielen und Gegenbeispielen)
- benennen und charakterisieren Grundfiguren und Grundkörper (Rechteck, Quadrat, Parallelogramm, Dreieck, Kreis, Quader, Würfel) und identifizieren sie in ihrer Umwelt.
Workshop-Form: Bildende Kunst/ Konkrete Kunst
Workshop-Leitung: Kunsthalle
Workshop-Inhalt: Mit selbstangefertigten Stempeln werden Bilder von Paul Klee nachempfunden. Die gedruck-ten Bilder werden nach dem Trockenen mit bunter Kreide hinterlegt.
Fach Kunst
Auszug aus dem Lehrplan:
- Auseinandersetzung mit Bildern und Objekten
- Die Schülerinnen und Schüler vertiefen durch die Begegnung mit Bildern und Objekten ihre eigenen ästhetischen Erfahrungen, Eindrücke und Erkenntnisse. In der Begegnung mit der Vielfalt künstlerischer Objekte bieten sich Chancen zur Selbstbestimmung, zum Üben von Toleranz und zur Weltorientierung
Workshop-Form: Bildende Kunst
Workshop-Leitung: Kunsthalle
Workshop-Inhalt: Die Kunstpädagoginnen gestalten mit dem Kollegium frei nach Ursus Wehrli Bilder von August Macke und Paul Klee. Diese Bilder werden zeichnerisch „aufgeräumt“.
Fach Englisch
Auszug aus dem Lehrplan:
- kurze Texte oder Textelemente auswendig lernen und vortragen
- einfache rhetorische Mittel (u. a. Wiederholungen, Parallelismen, Kontraste, Klangstrukturen, Vergleiche, Bilder) in Erzähltexten, Gedichten, Liedern, Werbetexten auffinden
Workshop-Leitung: Musiker einer Kulturinstitution
Workshop-Inhalt: Die Musiker untersuchen mit dem Kollegium englischsprachliche Songs auf Kontraste, Klangstrukturen, Parallelismen usw.
Und wie weiter?
Im nächsten Schritt können in den Fachkonferenzen geeignete Themen aus dem Lehrplan ausgesucht werden und erste Ideen zur künstlerischen Umsetzung gesammelt werden. Die Kulturgruppe oder die Kulturagentin der Schule nimmt Kontakt zu Künstlern und Institutionen auf, um gemeinsame Gespräche über mögliche Verknüpfungen der künstlerischen Herangehensweise des jeweiligen Künstlers und des Lehrplaninhalts zu führen.
Hier ist eine „Checkliste“ hilfreich in der alle besprochenen Details festgehalten werden:
- Welche Personen sind Ansprechpartner?
- Wie sind die Pausenzeiten, Stundenpläne…?
- Gibt es inhaltliche Prioritäten? (Rahmenpläne, Fachpläne, inhaltliche Konzeption, Jubiläen)
- Gesetzliche Grundlagen (Belehrungen zur Sicherheit)
- Altersspezifische/ gesundheitliche Besonderheiten (Belastbarkeit, Vorlieben, psychische/physische Probleme, Gruppendynamik, Vorkenntnisse)
- Arbeitsräume
- Aufbewahrung/ Dokumentation/ Präsentation
- Ort/Zeit/Kontakt
- Projektziele/ Inhalte
- Methoden
- Benötigte Medien/Werkzeuge/Materialien
- Öffentlichkeitsarbeit
- Evaluation
- Finanzierung
Wer ist hier der Chef?
Um für alle Beteiligten eine zufriedenstellende Situation zu erreichen, muss auch eine Rollenklärung erfolgen. Der Künstler sollte niemals die Klasse oder Schülergruppe alleine betreuen, aber trotzdem das Projekt leiten. Durch eine gute Absprache und Sensibilisierung für dieses Thema können Konflikte vermieden werden. Erfahrungsgemäß ist es z.B. dem Lehrer oft zu laut, während der Künstler die Klasse oder Schülergruppe leitet, während der Künstler diese kreative Atmosphäre als angenehm empfindet. Das Lehrer-Künstler Team sollte hier im Dialog über Prioritäten, Erwartungen, Haltungen und Methoden bleiben. Eine Kooperation die auf Augenhöhe gemeinsam ge-plant wird, ist oft für alle Beteiligten vorteilhafter.
Künstlerischer Freiraum?
Der künstlerische Impuls in Schule ist in einem Format wie diesem einem konkreten Zweck untergeordnet: Der Lehrplan gibt ein Thema vor und dieser soll durch den Künstler bereichert werden- es sollen neue Zugänge ermöglicht werden von denen Lehrer, Schüler und Künstler profitieren. Der Künstler oder die Künstlerin stellt zu Beginn seiner eigenen künstlerischen Arbeit eine Frage oder setzt ein Thema zu dem er/ sie forschend, tanzend, malend, schreibend, alleine oder mit mehreren, aber immer in Bezug zu irgendetwas, arbeitet. Der Unterschied zur Ausgangslage zwischen dem schulischen Auftrag und der künstlerischen Arbeitsweise ist also gar nicht so groß. Beide Partner suchen nach Wegen sich selbst und die Umwelt zu erklären. Wobei die Vermittlung beim Künstler sowie beim Lehrer ein Zielpublikum hat. Lehrer, wie auch Künstler möchten etwas übermitteln. Der Unterschied liegt darin, dass der Rezipient im Falle des Künstlers, auch bei unterschiedlicher Form der zu übermittelnden Kunst das eigene daraus resultierende Ergebnis bewerten kann wie er/sie möchte. In der Schule wird von der Schülerschaft aber ein ganz bestimmtes, schon vorher gesetztes Ergebnis erwartet, dass sie zu erkennen oder erzielen haben. Genau hier liegt die große Chance die künstlerische Herangehensweise zu nutzen, um neue Denkanstöße zu erhalten, den Horizont zu erweitern und kreatives Potenzial freizusetzen. Das eigene künstlerische Tun wird durch die künstlerische Herangehensweise nicht nur kognitiv, sondern auch emotional erfahren und so-mit lernen Schüler und Schülerinnen ganzheitlicher.
Nachhaltigkeit
Der Ansatz, künstlerische Methoden und Herangehensweisen für den Fachunterricht zu nutzen, ist ein sinnvolles Vorhaben bei der Entwicklung eines künstlerisch/kulturellen Schulprofils. Projekte haben eine große Chance auf Nachhaltigkeit, die einen Bezug zum Lehrplan aufweisen, da es sich nicht um zusätzliche Angebote handelt, sondern Unterrichtsinhalte ergänzt. So kann Unterricht ergänzt und bereichert werden – ohne, dass etwas zu Gunsten der Kunst ausfallen muss. Auch für die Künstler ist es interessant gemeinsame Projekte zu entwickeln die den Blick auf den Lehrplan wirft. S. Abb. 1
Nach der Durchführung des Projektes sollte eine Evaluation erfolgen, um gewonnene Erfahrungen zu sichern und gegebenenfalls an den weiteren Verlauf anzupassen. Bei erfolgreich verlaufener Erprobung von zum Beispiel drei Durchläufen, kann das Format im Lehrplan fest verankert werden. Es können auch Kooperationsverträge mit der entsprechenden Institution geschlossen werden.
Ein Praxis- Beispiel für künstlerisch/ kulturelles Arbeiten in der Schule mit dem Schwerpunkt auf Projekte, die einen direkten Bezug zum Lehrplan aufweisen, findet sich in der Kuhlo Realschule.
Theater spielen in der Kuhlo Realschule
Im Deutschunterricht der Kuhlo Realschule Bielefeld schaffen Künstler kreative Zugänge zu Inhalten des Lehrplans. Diese Unterrichtssequenzen werden für die 5. Klassen zum Thema Märchen „Es war einmal … Auf Märchen trifft man überall“ mit dem Bielefelder Trotz-alledem Theater, für die 6. Klassen zum Thema Fabeln „Tiere wie Menschen – Fabeln verstehen und verändern“ mit der Musik- und Kunstschule Bielefeld und für die 7. Klassen mit dem Theaterlabor zum Thema Balladen“ „Feuersbrunst und Galgenbäume“ einmal jährlich in vier Doppelstunden gestaltet.
Die Schüler und Schülerinnen des 5. Jahrgangs arbeiten mit dem Trotz-alledem Theater Bielefeld zum Thema Märchen. Das trotzalledem Theater führt jedes Jahr ein anderes Märchen auf, dass dann in der Schule im Jahrgang 5 in der Fachschaft Deutsch behandelt wird. In diesem Jahr wurde das Märchen Aladin und die Wunderlampe on der Theaterpädagogin Lena Maßmann und dem Theaterpädagogen Daniel Scholz sowie der Leitung des Theaters Catharina Schütte gemeinsam mit der Kulturbeauftragten der Schule und Kulturagentin geplant und vorbereitet.
Nach einer Aufwärmphase in der die Schüler und Schülerinnen frei durch den großen Raum laufen und einige Aufgaben ausführen, bekommen sie freigestellt, ob sie das Stück selbst anhand der Vorgabe spielen oder ob sie der Geschichte einen biografischen Bezug geben wollen. Sie entscheiden sich für die Arbeit am Original. Die Szenen werden in Gruppen erarbeitet und Zwischenergebnisse auf der Bühne der Aula der Schule vorgeführt. Die Schülerschaft wird aufgefordert positives Feedback zu geben. Durch diese Methode bekamen die Schüler und Schülerinnen einen guten Blick für die Wirkung ihrer Präsentationen. Die Theaterpädagogen ergänzen die Inszenierungen der Schüler durch ästhetische und theatrale Mittel. Bemerkenswert war die gegenseitige Wertschätzung der Schüler und Schülerinnen die in den Zwischen-präsentationen durch die Kritikphasen der Kinder von den Theaterpädagogen und Lehrern und Lehrerinnen als sehr gewinnbringend beschrieben wurde, da die Fortschritte für alle sichtbar wurden. Der anschließende Besuch des Trotz-alledem Theaters vervollständigte diese Einheit zum Thema. Die Schüler und Schülerinnen hatten nun die Gelegenheit das Stück, dass sie in der Schule selbst gespielt hatten, auf der Bühne des Trotz- alledem Theaters von professionellen Schauspielern vorgespielt zu bekommen.
Ein weiteres Beispiel, wie künstlerische Methoden und künstlerische Kooperationspartner in den Fachunterricht integriert werden können, zeigt die Gertrud Bäumer Realschule.
Tanzen in der Gertrud Bäumer Realschule
Im interkulturellen Projekt, beschäftigt sich der Tänzer Tiago Manquinho, mit der Lyrikreihe: „Mir auf der Spur“, die im Lehrplan steht. Die Gertrud Bäumer Realschule hat sich im Programm“ Kulturagenten für kreative Schulen“ auf Kooperationen mit Tanzinstitutionen fokussiert. Auch die künstlerische Auseinandersetzung mit Lehrplaninhalten wird angestrebt. So wird der Tänzer jedoch nicht zum Pädagogen. Er bereitet das neue Thema vor, weckt Interesse und lädt zum Erforschen ein. Das künstlerische Erleben steht im Vordergrund. Im Deutschunterricht bewegen sich die Schüler der 10. Klasse durch den Klassenraum. Die Tische sind an die Seite geräumt. Die Schüler sitzen auf dem Boden. Sie tragen bequeme Kleidung. Es ist sehr heiß und alle schwitzen schon nach wenigen Minuten. Trotzdem ist die Laune nach dem intensiven Aufwärmtraining locker und fröhlich. Auch die Deutschlehrerin tanzt mit und überrascht die Schüler durch ihr Können. Viele wussten gar nicht, dass ihre Lehrerin schon viel Tanzerfahrung hat. So verändert und weitet sich schon hier das erste Mal der Blick der Schüler, „Wir haben fünf verschiedene Nationalitäten in dieser Klasse“, erzählt Umut. „Viele sprechen zu Hause eine andere Sprache. Mit Tiago sprechen wir eine universelle Sprache.“ Über Tanzimprovisationen erfahren die Schüler instink-tiv eine neue Form der Kommunikation. Sie lernen die Körpersprache lesen übers Beobachten und selber erleben. Durch Isolationsübungen lernen die Schüler ihren Körper besser kennen. Auch die Bezeichnungen für bestimmte Tanzschritte wie plié oder relevé werden erlernt. Der Wechsel von den vorgegebenen sehr disziplinierten Übungen zum freien Improvisieren fällt nicht allen sofort leicht. Doch die wertschätzende Art des Umgangs miteinander, die nonverbale Kommunikation nimmt allen nach und nach die Hemmungen.
Grundlage ist Rilkes Gedicht „Der Panther“. Doch das hat Tiago Manquinho, Tänzer am Bielefelder Stadttheater, den Schülern noch gar nicht erzählt. Tiago stellt Aufgaben die kein vorgeschriebenes Ziel haben. Die Herausforderung ist es, eigene, ganz individuelle Antworten zu finden. Besonders die Schüler, die sonst nicht so gute Noten haben, nutzen hier die Chance sich von einer ganz anderen Seite zu zeigen. Dieses hat auch positive Auswirkungen auf den sonstigen Schulunterricht. Die Lehrerin der Klasse berichtet, einige Schüler in einem ganz anderen Licht zu sehen. Sie ist von diesem neuen Zugang, die Lyrikreihe tänzerisch einzuleiten, begeistert. Die Schüler entwickeln ungewöhnliche und kreative Ideen. Die Bewunderung der Mitschüler und das Lob des Tänzers fördern die Sicherheit und das Selbstbewusstsein der Schüler. Die kleinen Choreographien, verdeutlichen die Gedichtstrukturen. Die Schüler erfahren erst einmal intuitiv und sinnlich was später inhaltlich reflektiert wird. Besonders wichtig ist es auch dass die Lehrkraft bei diesem Tanz-Deutschunterricht anwesend ist. So kann sie mit den Schülern an der richtigen Stelle weiterarbeiten und Bezug nehmen auf Erlebtes. Der Transfer von Informationen zum Wissen gelingt so nachhaltiger. Lehrstoff ist nun nichts mehr was sich irgendwer irgendwann einmal ausgedacht hat, sondern er wird lebendig und hat etwas mit dem Schüler zu tun. Das Gedicht gewinnt insgesamt an Bedeutung, da man selbst aktiver Gestalter gewesen ist.
Die Musik hat einen großen Einfluss auf die Art und Weise des Tanzes. Wie man sich bewegt, was gewagt wird, ob alleine oder zu zweit getanzt wird. So sind die Stimmung und die Atmosphäre je nach Musik unterschiedlich. Ein natürliches Empfinden nach passender, schöner Musik, passend zum Gedicht bildet sich so nebenbei. Ein gutes Rhythmusgefühl haben in dieser Klasse alle. Die ausgewählte Musik ist für die Schüler ungewohnt. Sie tanzen sonst zu anderer Musik. Mit der Zeit folgen einige Akteure mit dem Körper eher der Melodie, andere eher dem Rhythmus der Musik. Und finden auch über dieses Medium ihre eigene Ausdrucksform.
Die Schüler lernen in der Gruppe sich und die anderen neu und anders kennen. Verborgene Talente werden sichtbar. „Der Körper ist der Spiegel der Seele“ sagt Tiago Manquinho. “ Ihr interpretiert aufgrund eurer eigenen Lebenserfahrungen. Was ihr seht ist nicht unbedingt das was der Darsteller gerade zeigen möchte. Andersrum sieht der Betrachter eine Menge Dinge die dem Darsteller nicht unbedingt bewusst sind“. Zur Übung und Verdeutlichung teilt sich die Klasse in zwei Gruppen auf. Die erste Gruppe stellt sich in einer Reihe auf, die andere nimmt als Zuschauer Platz. Die Schüler bekommen die Aufgabe gemeinsam und gleichzeitig in einer Reihe auf die Zuschauer zuzugehen. Der Impuls loszugehen soll gemeinsam entstehen. Nach einiger Zeit gehen die Schüler langsam durch den Raum. Es klappt gut. Die Reihe ist fast ganz grade. Tiago fragt die Zuschauer von wem der Impuls zum Losgehen ausgegangen ist. Alle nennen die gleiche Schülerin. Sie selbst ist überrascht. Sie war sich nicht darüber bewusst dass ihre Ungeduld und Ihr „Losgehenwollen“ so deutlich zu sehen war. Impulse und Zufall sind Elemente die trainiert werden. Wie reagiere ich spontan? Wie können wir kommunizieren ohne miteinander zu sprechen? Wie lasse ich meinen Körper sprechen, wie verleihe ich meinen Bewegungen Ausdruck?
Das Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung, Einatmen und Ausatmen macht diese Stunden interessant. Im künstlerischen Handeln ist der Prozess mitunter entscheidender als das Produkt oder Ergebnis. Tiago bewertet nicht nur den Erfolg, sondern er lobt auch die Mühe, den persönlichen Fortschritt. Dabei guckt er auf den gesamten Entwicklungsprozess. Nie kritisiert er abwertend. Die Kritik ist positiv (Das war ganz toll) oder eher neutral: (Toll, dass ihr mitgemacht habt) So wird die Kreativität nicht gebremst oder eingegrenzt. Sie lernen auch voneinander, indem sie sich gegenseitig loben, wertschätzen und auf Verbesserungsmöglichkeiten hinweisen.
Zeit ist ein wesentlicher Faktor in kreativen Prozessen. Nicht unter Druck arbeiten zu müssen, sondern Entwicklungsfreiräume bewusst gewähren. Dies führt dazu, dass sich die Schüler ernstgenommen fühlen und Engagement zeigen. Trotzdem: Alles ist ein Angebot. Es kann sein, dass ein Schüler oder eine Schülerin eine Aufgabe nicht ausführen möchte. Dann muss er oder sie auch nicht. Die Freiwilligkeit schafft den Raum für Persönlichkeit. Konsequent und kritisch ist Tiago Manquinho trotzdem. Die Ansprache erfolgt auf gleicher Augenhöhe. Er will nichts beibringen. Er schafft den Raum, die Zeit, das Angebot, die Möglichkeit mit sich selbst und den anderen in Kontakt zu kommen. Gemeinsam stellt die Klasse Alltagsbezüge her und interpretiert so fast nebenbei die Aussage des Gedichts.
Der Panther
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Das Ergebnis präsentieren die Schüler als kleine Tanzperformance . Der Mensch befindet sich in vielen alltäglichen Zwängen. Gesellschaftliche und selbstgemachte ist das Thema. So werden von den Schülern verschiedene Rollen eingenommen. Der „Gefangene“, der „ Bevormunder“ getanzt als pas de deux. Die „Unterdrückten“ und die „Unterdrücker“ als Gruppendarstellung. Diese zwei Collagen enthalten einige Sprachelemente, einige Sätze oder nur Wörter aus dem Gedicht, sowie eigene Formulierungen.
Schluss
Auch die anderen Bielefelder am Kulturagentenprogramm teilnehmenden Schulen führen künstlerische Projekte durch, die curriculare Bezüge haben. Im Politikunterricht arbeitet eine bildende Künstlerin zum Thema Recycling. Im Biologieunterricht wurde eine Kräuter-Mosaikbank gebaut, im Französisch- sowie im Englischunterricht werden Filme mit einer Regisseurin gedreht. Zirkuskünstler gestalten den Sportunterricht und passend zur Ausstellung in der Kunsthalle „Heute ist morgen, Sophie Taeuber-Arp“ gestalteten Schüler und Schülerinnen des 7. Jahrgangs vier Tage lang in der Kunsthalle mit Theaterpädagogen und Kulturvermittlerinnen eine Performance, zu der die Bielefelder Öffentlichkeit über Presse und den Verteiler der Kunsthalle eingeladen wurde.
Die Erfahrungen aus dem Kulturagentenprogramm zeigen: Schulen und Kultureinrichtungen ergänzen sich hervorragend im Hinblick auf den jeweiligen Bildungsauftrag und im Hinblick auf die Angebotsentwicklung kultureller Bildung. Sind alle Projektpartner bereits in der Projektentwicklung einbezogen, kann eine gegenseitig berei-chernde Begegnung stattfinden die es sowohl den Schulen als auch den Institutionen ermöglicht, ein fächerübergreifendes Angebot kultureller Bildung anzubieten und dieses mit dem Curriculum zu verzahnen. Kulturelle Bildung eröffnet neue, andere Sichtweisen. Sie ermöglicht Akzeptanz für das, was uns zunächst fremd erscheint. Die eigene künstlerisch-kreative Betätigung kann ungeahnte Stärken befördern, Überraschendes hervorbringen und das Selbstbewusstsein stärken. Kinder und Jugendliche, die eigene künstlerische Fähigkeiten entdecken und entwickeln, nehmen sich und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit ihren vielfältigen Talenten und Möglichkeiten wahr. Das Erleben dieser Vielfalt verbessert grundsätzlich und perspektivisch das Miteinander und die gegenseitige Wertschätzung. Die Schulen haben nach diesen Erfahrungen ein ganz anderes Verständnis und Bewusstsein davon, was es heißt, qualitätsvolle Projekte zu machen und Kultur als selbstverständlichen Teil von Allgemeinbildung zu leben. Im Projekt Art in lessons kann dieses Verständnis für die Wichtigkeit von kultureller Bildung im Schulkontext verändert werden in der Kultur des Lernens. Dazu ist es wesentlich Lehrer, Künstler und Schüler von Anfang an zu beteiligen und um gemeinsame Entwicklungen zu ermöglichen.
Literatur
Der Fachbeitrag „Art in lessons – Künstlerisches Arbeiten im Fachunterricht initiieren“ von Saskia Köhler ist erschienen in: Braun, Tom/Burow, Olaf Axel/Duncker, Ludwig/Fuchs, Max/Kelb,Viola (Hrsg.) (2017): Kulturelle Schulentwicklung: Schlüsseltexte zu Theorie und Praxis. Aufsatzsammlung. Remscheid; S. 129–138.
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