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Analog, digital, ganz egal…
Fachbeitrag

Analog, digital, ganz egal…

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Eine partizipative Kultur im Social Web ist längst entstanden. Aber auch Algorithmen, Likes und Watchtime prägen. Und: Jugendliche sind die Expert*innen ihrer eigenen Welten.

Kulturelle Bildung begleitet sie je dort in ihrer Selbstwirksamkeit und bietet sichere Räume für Reflexion und Perspektivwechsel. Daraus können Handlungsoptionen innerhalb ihrer Welten entstehen.

Katrin Hünemörder ist im Bereich E-Partizipation, Webvideo, Politische Bildung für medialpfade.org tätig. Sie ist interkulturelle Trainerin und Projektmanagerin. Sie hat die Jugendpresse Deutschland und die europäische Jugendpresse mitgegründet.

„Digitalität ist da, und sie geht auch nicht mehr weg”, meinte Cosmea Spelleken (2021), Regisseurin und Autorin der digitalen Theaterproduktion „werther.live“, im Interview mit mediale pfade. Das Stück gewann den Hauptpreis des deutschen Multimediapreises mb21 in der Alterskategorie 21 bis 25. Die digitale Interpretation des Goethe-Klassikers „Die Leiden des jungen Werthers“ war „[…] die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt“, und erhielt laut Spelleken auch deshalb so viel Aufmerksamkeit gerade von jungen Leuten, weil es in ihren Lebenswelten stattfand. Die Macher*innen von „werther.live“ versuchten nicht, ein analoges Format ins Digitale zu quetschen, sondern suchten nach einem Inhalt und einem Stoff, der „in das Digitale passt“. So wurden Werther und Lotte z. B. zu Teilnehmer*innen auf Social Media Kanälen, die miteinander, aber eben auch mit dem Publikum über Messenger-Dienste oder Instagram-Profile kommunizieren konnten. Entstanden sind Interaktionen zwischen Zuschauer*innen und Schauspieler*innen teils sehr intimer Natur, die in einem Theaterfoyer so nicht möglich gewesen wären. Die Anonymität eines Social-Media-Profils schaffte eine große Offenheit in der Interaktion und die Vermittlung von Kultur fand dialogisch statt. Über den digitalen Raum wird damit ein grundlegendes Anliegen von Kunst und Kultur konkret umgesetzt: Ein Angebot zu schaffen für Interaktion, Reaktion und die Weiterentwicklung von Ideen.

Es geht vielmehr darum, wie sich Träger als Ermöglicher von Selbstwirksamkeitserfahrungen über kulturelle Ausdrucksformen in jugendlichen Lebenswelten positionieren − als aktive Lernbegleiter in einer postdigitalen Welt.

Katrin Hünemörder

Nähe, Intimität, Emotionen − digitalen Räumen wird es häufig abgesprochen, diese Gefühle herstellen zu können. Gleichzeitig beanspruchen gerade Kunst und Kultur für sich, besonders intensiv mit menschlichen Emotionen zu arbeiten. Es war einiges an Ohnmacht und Ratlosigkeit zu spüren im letzten Jahr, wie dieser scheinbare Widerspruch überbrückt werden kann. Gerade Organisationen, Vereine oder Projekte, die sich über gemeinschaftliche kulturelle Erfahrungen definieren, wie bspw. Chöre oder Theaterprojekte, litten überproportional. Nach anfänglicher Schockstarre entwickelten viele allerdings einen ganz unterschiedlichen, kreativen Umgang mit der Situation. Igor Levit streamte seine Musik über Twitter in die Wohnzimmer der Menschen, Dunya Hayali plauderte in täglichen Insta-Lives mit Freund*innen und Follower*innen über den Alltag während Corona. Ein Großteil der Kommunikation verlagerte sich in Videokonferenzen, Soziale Medien oder Messenger-Gruppen mit dem Ziel, Kontakt zu halten. Viele digitale Formate wurden bereits im Ansatz so entwickelt, dass sie in einem bestimmten digitalen Tool, z. B. in der Kachellogik einer Zoom-Konferenz funktionierten. Die erfolgreichsten Formate aber waren jene, die wie werther.live für ihre Inhalte den passenden digitalen Ort gefunden haben, nicht aus Mangel an analogen Alternativen, sondern weil es eben der beste Ort für den Zweck war. Es geht diesen gelungenen Modellen nicht darum, die persönliche Begegnung zu ersetzen, sondern neue Erfahrungen in neuen Räumen zu kreieren.

Zugang zu Technologien und Medienbildung als Grundlage für gesellschaftliche Partizipation

Mit der Notwendigkeit, gemeinschaftliche Aktivitäten ins Digitale zu verlegen, offenbarten sich die eklatant unterschiedlichen Startbedingungen in die digitale Welt. Es wäre fahrlässig, über die vielen fantastischen Beispiele gelungener Projekte oder Bildungserfahrungen in digitalen Räumen zu sprechen, ohne anzuerkennen, wie herausfordernd die Frage nach strukturellen Rahmenbedingungen und Zugängen zu diesen Angeboten teilweise war und ist. Das sichere Agieren im Internet, der geübte Umgang mit digitalen Techniken sowie ein grundlegendes Verständnis für digitale Infrastrukturen oder die Funktionsweise von Algorithmen sind nicht nur ein wichtiger Bestandteil von Medienbildung und politischer Bildung, sondern Grundlage für die Teilhabe an politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Dass es im Jahr 2021 immer noch Menschen in Deutschland gibt, die aufgrund fehlenden Zugangs zu digitalen Endgeräten oder einer halbwegs vernünftigen Netzabdeckung von diesen Prozessen ausgeschlossen sind, ist unbegreiflich.

Andererseits konnte beobachtet werden, dass durch Verlegung von Bildungsangeboten in den digitalen Raum neue Zielgruppen erschlossen werden konnten. In diversen Gesprächen mit Vertreter*innen politischer Stiftungen oder Bildungsträgern erfuhr ich, dass die Teilnehmerkreise im Gegensatz zu Präsenzveranstaltungen nicht nur viel diverser wurden, was ihren Wohnort betraf, sondern dass nun z. B. häufiger junge Mütter an Bildungsveranstaltungen teilnehmen würden, was zuvor aufgrund von Familienverpflichtungen oft nicht möglich war. Auch Menschen, die aufgrund anderer Barrieren, wie Sprache oder Mobilitätseinschränkungen, von physischen Treffen oft ausgeschlossen waren, konnten dank Spracherkennungs- oder Übersetzungstools an Bildungsangeboten partizipieren.

Empowerment und Verantwortung für persönliche Öffentlichkeiten

Bestehende Machtstrukturen in Gruppen, die in physischen Räumen häufig durch bestimmte Sitzordnungen, Podiumsbeteiligungen oder Redelisten manifestiert sind, werden in digitalen Räumen teilweise aufgebrochen. Plötzlich haben diejenigen, die sich souveräner in digitalen Räumen bewegen, einen Vorteil. Das sind häufig die Jüngeren, die in digitalen Räumen aufgewachsen sind und diese nicht nur zu nutzen, sondern auch zu gestalten wissen.

Das Internet ist öffentlicher Raum und Tool zugleich, um diverse Stimmen jenseits etablierter Gesellschaftsstrukturen zu empowern und zu vernetzen. Spätestens mit Bewegungen wie Fridays for Future, Black Lives Matter oder #MeToo sind die globalen Mobilisierungspotenziale Sozialer Medien deutlich geworden. Aber auch Verschwörungsmythen, Fake News oder Hatespeech finden im Netz ihr Publikum und sind Phänomene, die uns direkt oder indirekt im Alltag kultureller oder politischer Bildungsarbeit häufig begegnen.

Ein großer Teil digitaler Aktivitäten findet auf Plattformen statt, also in Öffentlichkeiten, die privatwirtschaftlich gesteuert werden und deren Bedingungen die Konzerne selbst bestimmen. Auf diese Bedingungen haben Privatpersonen faktisch keinen Einfluss. Aber sie verfügen über etwas, dass Prof. Dr. Jan-Hinrik Schmidt (2018) vom Hans-Bredow-Institut als „persönliche Öffentlichkeiten“ bezeichnet. Es handelt sich hierbei z. B. um Profile oder Netzwerke innerhalb der Plattformen, in denen kommuniziert und interagiert wird. Für die persönliche Öffentlichkeit muss jede im Internet agierende Person Verantwortung übernehmen, und es ist Aufgabe von kultureller und politischer Bildung, dies zu reflektieren, sich Handlungsoptionen zu erarbeiten und in der Praxis einzuüben. Medienbildung muss auch in der außerschulischen Bildung als Querschnittsaufgabe gesehen werden, denn die Grenzen von analog und digital, von privat und öffentlich sind in fast allen gesellschaftlichen Bereichen längst verschwommen.

Die Angelegenheit ist kompliziert. Die Frage z. B., wie viel Gestaltungsmacht Einzelne in Sozialen Medien haben versus dem Einfluss der Algorithmen auf das, was man zu sehen bekommt hat, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Klar ist aber bereits, dass allein das Wissen um die Mechanismen über Meinungsbildungsprozesse in Gesellschaften dazu geführt haben, dass eine gänzlich neue Kultur im Social Web entstanden ist, in der Produktionen so gestaltet werden, dass der Algorithmus ihnen möglichst gewogen ist. Denn Erfolg wird häufig nicht mehr nur in der Schaffung von Räumen für Kreativität, Originalität oder Selbstwirksamkeit gemessen, sondern eben nicht zuletzt auch in Likes oder Watchtime.

Für die persönliche Öffentlichkeit muss jede im Internet agierende Person Verantwortung übernehmen, und es ist Aufgabe von kultureller und politischer Bildung, dies zu reflektieren, sich Handlungsoptionen zu erarbeiten und in der Praxis einzuüben.

Katrin Hünemörder

Kulturelle Kinder- und Jugendbildung in der digitalen Welt

Corona, aber auch andere einschneidende Entwicklungen zwingen uns, von bestimmten manifestierten Vorstellungen Abschied zu nehmen. Die großen Probleme der Menschheit sind globale Probleme und deshalb auch nur in Kooperation zu bewältigen. Dazu zählen Pandemien genauso wie der Klimawandel. Lösungen für diese Probleme werden sich nur finden lassen, wenn es einen universellen Zugang zu Wissen und Bildung gibt sowie die Vermittlung von Kreativität, Kommunikation, kritisches Denken und Kooperation. Den außerschulischen Trägern der kulturellen und politischen Bildung kommt hier eine große Verantwortung zu. Sie müssen Räume schaffen, in denen Innovation und Kommunikation möglich ist, in denen neue Ideen Platz haben und alte Ideen neu diskutiert werden können. Kulturelle Bildungsträger müssen Brücken bauen und Zugänge zu Kunst und Kultur schaffen, damit wir von ihnen lernen können und uns an ihnen reiben können. Vor allen Dingen müssen sie junge Menschen in die Lage versetzen, eine Haltung zu Ereignissen und gesellschaftlichen Diskursen sowie daraus resultierende Handlungsoptionen entwickeln zu können. Das gilt für alle Interaktionsräume, analoge wie digitale. Da sich diese Interaktionsräume in jugendlichen Lebenswelten in der Regel nicht voneinander abgrenzen, sondern fließend ineinander übergehen, stellt sich die Frage, ob kulturelle Jugendbildung sich angesichts des digitales Wandels neu erfinden muss, nicht. Es geht vielmehr darum, wie sich Träger als Ermöglicher von Selbstwirksamkeitserfahrungen über kulturelle Ausdrucksformen in jugendlichen Lebenswelten positionieren − als aktive Lernbegleiter in einer postdigitalen Welt.

Literatur

Schmidt, Jan-Hinrik (2018): Social Media. Springer VS.

Spelleken, Cosmea (2021): „Es störte mich, dass Corona dem Theater die Seele nimmt.“ Interview mit Cosmea Spelleken von Christine Kolbe für mediale pfade. https://medialepfade.org/2021/08/rp21-cosmea/ [Zugriff: 16.08.2021].

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 12 – 15.

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