Alle lernen von- und miteinander
Daressalam/Tansania – Konstanz/Deutschland
Daressalam/Tansania – Konstanz/Deutschland
von Amanda Steinborn
Amanda Steinborn arbeitete bis Dezember 2020 im Projekt „jugend.kultur.austausch global“ der BKJ. Sie ist studierte Sozialarbeiterin und Bildungsmanagerin und seit zehn Jahren u. a. in der kritischen politischen Bildung mit dem Schwerpunkt Internationales tätig.
Ankunft in Daressalam: Die erste persönliche Begegnung der beiden Jugendgruppen steht an. Den Jugendlichen vom Jungen Theater Konstanz schlagen feuchte Hitze, ungewohnte Gerüche und ein Verkehrswirrwarr entgegen, das sie nicht gleich verstehen. Willkommen in der Megacity! „Wir haben uns im Vorfeld viel informiert und auch schon untereinander ausgetauscht. Und dann kommen wir an und alles ist anders und du fühlst dich auf einmal so unvorbereitet“, erzählt Teilnehmerin Amy.
Ständig wird die Gruppe von fremden Menschen gegrüßt und in Gespräche verwickelt, doch die Verständigung ist nicht ganz einfach. Zum Glück nehmen sich die tansanischen Jugendlichen von der Tanzschule MuDa ihrer an. Außerhalb der Trainingszeit entdecken sie die Stadt gemeinsam auf dem Rad. Vor der ersten Begegnung habe sie sich Sorgen gemacht, erinnert sich Halima aus Daressalam mit einem Lächeln: „Die sind bestimmt richtige Theaterprofis und ich bin nur eine Tänzerin.“
Doch schnell wird ihr klar: Niemand ist perfekt und hier lernt jede*r von jede*m etwas. Nicht ganz einfach gestaltet sich die Kommunikation auf Englisch, das von niemandem die Muttersprache ist. Doch dann benutzen die Jugendlichen einfach ihre Körper als Kommunikationsmittel. Die Verständigung klappt zwar nicht immer reibungslos, ist aber oft lustig und immer lebendig. Anfängliche Unsicherheiten werden in der tänzerischen Zusammenarbeit überwunden.
Ein Jahr zuvor: Tanja Jäckel, Tanz- und Theaterpädagogin am Jungen Theater Konstanz und Rachel Kessi, Geschäftsführerin von MuDa Africa, einer Schule für zeitgenössischen Tanz in Daressalam, lernen sich anlässlich eines Netzwerktreffens der BKJ und der Tanzania Youth Coalition (TYC) kennen. Schnell ist klar, dass sie das Abenteuer wagen wollen, in einem gemeinsamen Projekt sowohl „ihre“ Jugendgruppen als auch Tanz und Theater zusammenzubringen. Bei einem Besuch in Tansania hat Tanja Jäckel die Möglichkeit, einen Workshop für die Schüler*innen des Tanzzentrums zu geben. Eine perfekte Gelegenheit, um einander und die Arbeit der jeweils anderen kennenzulernen. Der Grundstein der Zusammenarbeit ist gelegt. Gemeinsam entschließen sie sich, die Auseinandersetzung mit dem SDG 4 „Hochwertige Bildung“ ins Zentrum der Jugendbegegnung zu stellen.
MuDa Africa ist die erste Schule für zeitgenössischen Tanz in Tansania. Sie bietet jungen Menschen eine kostenlose dreijährige Ausbildung. Neben Tanz und Yoga stehen auch Computer-, Social-Media- und Englisch-Kurse auf dem Programm. Die Ausbildung soll den Teilnehmer*innen die Möglichkeit bieten, an der eigenen Profilierung zu arbeiten, und die Chance eröffnen, als professionelle Tänzer*innen zu arbeiten. Absolvent*innen wie Sisti oder Halima haben es nach ihrem Abschluss geschafft, selbst als Lehrer*innen an der Schule zu beginnen. Damit verdienen sie nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern sind auch Vorbilder für die Jüngeren. Leider gibt es hochwertige Bildungsangebote wie MuDa Africa in Tansania noch viel zu selten.
Während des gemeinsamen Projektes lernen alle Beteiligten nicht nur das SDG 4 in der Theorie kennen, sondern vor allem die Bildungsrealitäten im jeweiligen Partnerland. Welche Bildungsansätze gibt es? Wie funktioniert das Bildungssystem im anderen Land? Und vor allem: Was heißt Bildung eigentlich für uns und wie beeinflusst sie uns? Die Teilnehmer*innen lernen, dass Bildung Menschen ermöglichen kann, ihre politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Lage zu verbessern. Und dass jeder Mensch einen Anspruch darauf hat, einen Zugang zu Bildung zu bekommen.
Gleichzeitig erfahren die Jugendlichen in dem Projekt eine Art von Bildung, die auf der Schulbank oder im Hörsaal nicht zu haben ist, sondern nur durch die Begegnung mit Menschen. Es führt sie zu der Erkenntnis, dass Lernen individuell und kulturell anders geschieht. All diese Erfahrungen der Jugendlichen fließen in das gemeinsame Tanztheaterstück ein.
Für die Organisator*innen bedeutet das Projekt eine große Verantwortung und eine Menge Arbeit, auch in der Vor- und Nachbereitung. „Das darf man nicht unterschätzen“, sagt Tanja Jäckel. „Die Teilnehmenden werden in eine Ungewissheit geschmissen und der Betreuungsbedarf ist deshalb sehr groß.“
„Die intensive Zeit während des Projektes schweißt die Gemeinschaft zusammen, lässt aber auch Konflikte entstehen, die viel Kommunikation und Austausch unter den Teampartner*innen erfordern.“
Tanja Jäckel, Theaterpädagogin
Die größte Aufgabe liege darin, dafür zu sorgen, dass sich die Jugendlichen mit dem Projekt identifizieren und sich ihrer Verantwortung für dessen Erfolg bewusst würden, fügt sie hinzu.
Trotz des großen Aufwandes lohnt es sich jedoch, ein globales Austauschprojekt zu organisieren, das meint auch Rachel Kessi, denn nicht nur die Jugendlichen, auch die Organisator*innen haben viel gelernt. Den Teilnehmer*innen sind die gemeinsamen Erlebnisse noch in lebhafter Erinnerung: Der Ausflug in die Schweizer Berge, wo Sisti sich wundert, wie Menschen dort oben leben können, und Halima trotz Müdigkeit unbedingt noch auf den Gipfel will. Aber auch der Ausflug zu einer Art Academy in Tansania auf dem Land, wo die Vielfalt an Kultureller Bildung die deutschen Jugendlichen fast so überrascht wie der spontane Tanz-Flashmob am Strand oder die Rückfahrt im öffentlichen Bus, auf der die ganze Zeit gesungen wird.
„Nichts öffnet dir die Augen so sehr, wie in den Alltag anderer Menschen einzutauchen und von ihnen aufgenommen zu werden“, findet Leon. Sein Bild über Tansania habe sich vor Ort komplett verändert. Auch Sisti berichtet, der Aufenthalt in Deutschland habe seine Augen geöffnet für das, was er in seinem Umfeld erreichen und verändern kann. Vorher habe er gedacht, in Deutschland gebe es keine Armut, aber dann habe er gesehen, dass auch dort Menschen auf dem Bürgersteig schlafen.
Die Unterbringung in Gastfamilien hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Austausch nicht nur auf künstlerischer Ebene stattfand, sondern auch zu einem Blick hinter die Kulissen wurde. Aleye ist besonders davon beeindruckt, wie unterschiedlich Privatsphäre in beiden Ländern bewertet wird. Für Amy steht fest: „Ich kann nicht erklären, wie sehr das Projekt meinen Blick auf mein Umfeld, Mitmenschen, Tanz und meine Zukunft verändert hat.“
„Menschen auf der anderen Seite der Welt zu treffen ist das Verrückteste, was man tun kann.“
Amy, Teilnehmerin
Nach der letzten Vorstellung in Konstanz, als das Publikum stehend applaudiert, fällt eine große Aufregung von den Jugendlichen ab. Gleichzeitig wird ihnen klar, dass sie viel mehr geschaffen haben als „nur“ eine gemeinsame Performance. Von vorn herein zielte das Projekt nicht nur darauf ab Ergebnisse zu präsentieren, sondern auch auf die Verbindung der Teilnehmer*innen, das Voneinander– und Miteinander-Lernen. Auch über die gemeinsame Tanztheaterproduktion hinaus bleiben die Teilnehmer*innen in Kontakt und tauschen sich digital beispielsweise über ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie aus. Es gibt schon Überlegungen, daraus ein neues Projekt zu entwickeln. Tanja Jäckel sagt: „Es ist ein Prozess entstanden, der nicht an einen Ort gebunden ist, sondern weiter fortlaufen soll.“
Dieser Text stammt aus der Arbeitshilfe „Globale Partnerschaften“ der BKJ: